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BFH 30.12.2022 - XI B 61/22
BFH 30.12.2022 - XI B 61/22 - Auslegung einer Klageschrift; vollinhaltlicher Verweis auf einen Einspruch, der ein Anfechtungsbegehren enthält
Normen
§ 65 Abs 1 S 1 FGO, § 67 FGO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO, § 116 Abs 3 S 3 FGO
Vorinstanz
vorgehend FG Köln, 28. April 2022, Az: 5 K 1914/19, Urteil
Leitsatz
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1. NV: Nimmt ein nicht fachkundig vertretener Kläger in der Klageschrift vollinhaltlich auf ein beigefügtes Einspruchsschreiben Bezug, mit dem er beantragt hat, die Umsatzsteuer entsprechend der eingereichten Steuererklärung festzusetzen, hat er damit eine Anfechtungsklage wegen Umsatzsteuer erhoben.
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2. NV: Dasselbe gilt für die gleichzeitig erhobene Klage wegen Gewerbesteuermessbetrag und gesonderter Feststellung von Einkünften, wenn der Kläger angibt, dass der zugrunde gelegte Gewinn nur verständlich sei, wenn von dem (mit der Klage angefochtenen) "übertriebenen Jahresumsatz" ausgegangen werde, während der tatsächliche Gewinn unter dem Freibetrag liege.
Tenor
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1. Die Beschwerde der Klägerin wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des Finanzgerichts Köln vom 28.04.2022 - 15 K 1914/19 wegen Feststellung der Nichtigkeit (Bescheide wegen Umsatzsteuer 2016 und Verspätungszuschlag zur Umsatzsteuer 2016 vom 13.06.2018, Gewerbesteuermessbetrag vom 20.11.2018 sowie gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen vom 23.11.2018) sowie wegen Verspätungszuschlag zur Umsatzsteuer 2016 wird als unzulässig verworfen.
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2. Auf die Beschwerde der Klägerin wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Finanzgerichts Köln vom 28.04.2022 - 15 K 1914/19 wegen Anfechtung der Bescheide vom 13.06.2018 zur Umsatzsteuer 2016, vom 23.11.2018 zur Feststellung von Einkünften 2016 und vom 20.11.2018 zum Gewerbesteuermessbetrag 2016 sowie im Kostenpunkt aufgehoben.
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Die Sache wird insoweit an das Finanzgericht Köln zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
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3. Dem Finanzgericht wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.
Tatbestand
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I.
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Nachdem die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) keine Steuererklärungen eingereicht hatte, erließ der Beklagte und Beschwerdegegner (Finanzamt --FA--) am 13.06.2018 einen Umsatzsteuerbescheid 2016 sowie einen Bescheid über den Verspätungszuschlag zur Umsatzsteuer 2016, am 20.11.2018 einen Bescheid über den Gewerbesteuermessbetrag und am 23.11.2018 einen Bescheid über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen. Sämtliche Bescheide standen unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 Abs. 1 der Abgabenordnung).
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Die Einsprüche der Klägerin wies das FA durch die Einspruchsentscheidungen vom 26.06.2019 zur Umsatzsteuer 2016, Verspätungszuschlag zur Umsatzsteuer 2016, Feststellung von Einkünften 2016 und Gewerbesteuermessbetrag 2016 als unbegründet zurück.
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Gegen die o.g. Bescheide und Einspruchsentscheidungen erhob die nicht fachkundig vertretene Klägerin Klage und fügte u.a. die drei Einspruchsentscheidungen sowie das Einspruchsschreiben vom 18.07.2018 bei. Sie beantragte, die Unwirksamkeit der Bescheide festzustellen, und verwies daneben "vollinhaltlich" auf den als Anlage beigefügten Einspruch vom 18.07.2018 zur Umsatzsteuer 2016. Darin hatte sie hilfsweise beantragt, die Umsatzsteuer entsprechend der eingereichten Steuererklärung festzusetzen. In der Anlage 2 markierte sie gelb, dass das FA die Vorsteuerbeträge mit 0 € angesetzt hatte, und fügte eine Eingangsrechnung für einen PKW als Anlage 3 bei. Weiter fügte sie ihre Umsatzsteuer-Voranmeldung für Juli 2016 (Anlage 4) und den Schriftverkehr zu den im Voranmeldungsverfahren berücksichtigten Vorsteuerabzug (Anlage 5) bei. Zudem wies sie in der Klageschrift zur "Gewinnfeststellung 2016" und zur "Gewerbesteuer 2016" darauf hin, dass der zugrunde gelegte Gewinn nur verständlich sei, wenn von einem "übertriebenen Jahresumsatz" ausgegangen werde, während der tatsächliche Gewinn unter dem Freibetrag liege.
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In der mündlichen Verhandlung stellte die Klägerin einen Hauptantrag zur Unwirksamkeitsfeststellung sowie einen Hilfsantrag zur Aufhebung und Änderung der streitgegenständlichen Steuerbescheide.
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Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Es entschied, dass die angefochtenen Bescheide nicht nichtig seien. Der hilfsweise gestellte Anfechtungsantrag sei eine unzulässige Klageänderung. Erst in der mündlichen Verhandlung sei erkennbar geworden, dass die Klägerin hilfsweise ein Anfechtungsbegehren verfolge.
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Hiergegen richtet sich die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin, mit der die Klägerin beantragt, die Revision zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung und wegen Verfahrensfehlern zuzulassen. Die Klägerin bringt vor, das FG habe zu Unrecht die Anfechtungsklage als unzulässig abgewiesen und dabei mehrere Verfahrensfehler begangen.
Entscheidungsgründe
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II.
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1. Das FG hat in der Vorentscheidung sowohl über das Nichtigkeitsfeststellungsbegehren (Hauptantrag) der Klägerin als auch über dessen Aufhebungsbegehren (Hilfsantrag) entschieden und die Klage im Hauptantrag als unbegründet abgewiesen und im Hilfsantrag als unzulässig verworfen. Es handelt sich um eine objektive Klagehäufung, bei der Haupt- und Hilfsantrag verschiedene Streitgegenstände mit unterschiedlichen Sachverhalten betreffen (Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 24.10.2019 - VIII B 2/19, BFH/NV 2020, 222, Rz 3). Aufgrund des unterschiedlichen Sachverhalts, der den Anträgen zugrunde liegt, und weil diese nicht gleichrangig sind, sind die Begehren trennbar, so dass für eine Zulassung der Revision für jeden Streitgegenstand ein Zulassungsgrund gemäß § 115 Abs. 2 Nrn. 1 bis 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) vorliegen muss (BFH-Beschluss in BFH/NV 2020, 222, Rz 3).
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2. Hinsichtlich des Streitgegenstands "Feststellung der Nichtigkeit der Bescheide wegen Umsatzsteuer 2016, Verspätungszuschlag zur Umsatzsteuer 2016, Feststellung von Einkünften 2016 und Gewerbesteuermessbetrag 2016" hat die Klägerin keinen Zulassungsgrund dargelegt. Hieraus ist nach den Verhältnissen des Streitfalls nicht abzuleiten, dass sie ihre Beschwerde auf den Hilfsantrag beschränkt hätte. Denn die im Verfahren vor dem Senat fachkundig vertretene Klägerin hat sich mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des FG als solches und damit gegen beide Streitgegenstände gewendet. Auch unter Beachtung des Grundsatzes der rechtsschutzgewährenden Auslegung, nach dem im Zweifel anzunehmen ist, dass eine zulässige Prozesserklärung abgegeben werden soll (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 05.11.2013 - IV B 119/12, BFH/NV 2014, 540, Rz 22), ist es dem Senat verwehrt, eine nach den Verhältnissen des Streitfalls auf das gesamte FG-Urteil bezogene Erklärung eines rechtskundigen Prozessvertreters einschränkend auszulegen (vgl. z.B. allgemein BFH-Beschluss vom 02.12.2020 - V B 25/20 (AdV), BFHE 271, 48, BStBl II 2021, 263, Rz 25), weil er gegen einen der beiden Streitgegenstände keinen Zulassungsgrund vorträgt. Daher ist die Beschwerde insoweit unzulässig, als die Beschwerde zum Streitpunkt der Nichtigkeitsfeststellung keine Zulassungsgründe in der durch § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO gebotenen Form darlegt. Gleiches gilt für die Nichtzulassungsbeschwerde wegen Verspätungszuschlag zur Umsatzsteuer 2016.
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3. Im Übrigen ist die Beschwerde begründet; sie führt bezüglich des Streitgegenstands des klägerischen Aufhebungsbegehrens zur "Umsatzsteuer 2016, Feststellung von Einkünften 2016 und Gewerbesteuermessbetrag 2016" sowie im Kostenpunkt zur Aufhebung der Vorentscheidung und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung. Die gerügten Verfahrensfehler liegen insoweit vor. Das FG hat die Klage insoweit zu Unrecht durch Prozessurteil abgewiesen und damit den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt (vgl. BFH-Beschluss vom 25.07.2017 - XI B 29/17, BFH/NV 2017, 1715). Verfahrensfehlerhaft ist das FG von einer Klageänderung i.S. des § 67 FGO ausgegangen, da die Klägerin bereits in der Klageschrift vom 29.07.2019 auch eine Anfechtungsklage wegen Umsatzsteuer 2016, Feststellung von Einkünften 2016 und Gewerbesteuermessbetrag 2016 erhoben hatte.
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a) Nach § 65 Abs. 1 Satz 1 FGO muss die Klage u.a. den Gegenstand des Klagebegehrens bezeichnen. Einen bestimmten Antrag soll die Klageschrift enthalten (§ 65 Abs. 1 Satz 2 FGO). Das Gericht darf über das Klagebegehren nicht hinausgehen, ist aber an die Fassung der Anträge nicht gebunden (§ 96 Abs. 1 Satz 2 FGO).
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b) Wie weit das Klagebegehren einer Klage im Einzelnen zu substantiieren ist, hängt davon ab, ob das Gericht durch die Angaben des Klägers in die Lage versetzt wird, zu erkennen, worin die den Kläger treffende Rechtsverletzung nach dessen Ansicht liegt (BFH-Beschluss vom 17.01.2002 - VI B 114/01, BFHE 198, 1, BStBl II 2002, 306). Das FG hat bei der Auslegung der Klageschrift insbesondere die Unterlagen zur Kenntnis zu nehmen, auf die in der Klageschrift durch ausdrückliche Bezeichnung Bezug genommen worden ist (vgl. BFH-Urteil vom 27.07.1999 - VIII R 55/98, BFH/NV 2000, 196; BFH-Beschluss vom 05.02.2014 - XI B 73/13, BFH/NV 2014, 872).
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c) Ausgehend davon hat die bei Klageerhebung nicht fachkundig vertretene Klägerin mit der Klageschrift vom 29.07.2019 nicht nur eine Klage wegen Feststellung der Nichtigkeit der Bescheide vom 13.06.2018, 20.11.2018 und 23.11.2018, sondern auch eine Anfechtungsklage gegen diese Bescheide erhoben.
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Dies ergibt sich aus dem in der Klageschrift in Bezug genommenen Einspruch vom 18.07.2018, der einen ausdrücklichen Anfechtungsantrag enthält, auf den die Klageschrift vollinhaltlich verwiesen hat, und den Ausführungen in der Klageschrift zur "Gewinnfeststellung 2016" und zur "Gewerbesteuer 2016". Die gelben Markierungen auf den beigefügten Steuerbescheiden und die weiteren Anlagen zeigen zudem, dass bestimmte vom FA angesetzte Besteuerungsgrundlagen (insbesondere eine Vorsteuer aus inländischen Leistungsbezügen von 0 €) angegriffen wurden. Es war daher nicht erforderlich, dass von vornherein ein ausdrücklicher Anfechtungsantrag unmittelbar in der Klageschrift gestellt wurde.
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4. Es erscheint sachgerecht, insoweit gemäß § 116 Abs. 6 FGO das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen, da bei unzutreffender Abweisung einer Klage als unzulässig von einer Revisionsentscheidung regelmäßig keine weitere rechtliche Klärung zu erwarten ist (vgl. BFH-Beschlüsse vom 27.10.2020 - XI B 33/20, BFH/NV 2021, 459; vom 30.06.2021 - XI B 81/20, BFH/NV 2021, 1462).
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5. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.
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