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BFH 25.07.2019 - III R 46/18
BFH 25.07.2019 - III R 46/18 - Kindergeld - Beibehalten des Wohnsitzes - mehrjähriger Schulaufenthalt mit der Mutter des Kindes
Normen
§ 8 AO, § 63 Abs 1 EStG 2009, EStG VZ 2010, EStG VZ 2011, EStG VZ 2012, EStG VZ 2013, EStG VZ 2014, EStG VZ 2015, EStG VZ 2016
Vorinstanz
vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg, 4. Juli 2018, Az: 3 K 3220/17, Urteil
Leitsatz
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NV: Die Beantwortung der Frage, ob ein Kind, das sich zeitweise im Ausland zu Ausbildungszwecken aufhält, seinen inländischen Wohnsitz bei den Eltern beibehält, liegt weitgehend auf tatsächlichem Gebiet, wobei die objektiven Umstände des jeweiligen Falles zu berücksichtigen sind. Generelle Regeln lassen sich nicht aufstellen. Die Umstände müssen aber nach der Lebenserfahrung den Schluss zulassen, dass das Kind die Wohnung innehat, um sie als solche zu nutzen.
Tenor
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Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 04.07.2018 - 3 K 3220/17 wird als unbegründet zurückgewiesen.
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Die Kosten des Revisionsverfahrens hat die Beklagte zu tragen.
Tatbestand
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I.
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Die Beteiligten streiten über den Anspruch auf Kindergeld bei längerem Schulbesuch der Kinder im Ausland.
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Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) und ihr Ehemann sind pakistanische Staatsangehörige. Ihre vier in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) geborenen und aufgewachsenen Kinder sind deutsche Staatsangehörige: D (Sohn, geboren 1995), K (Tochter, geboren 1997), A (Sohn, geboren 1999) und J (Sohn, geboren 2004).
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Die Kinder K, A und J sollten eine britische Schule besuchen. Da eine Aufnahme in die britische Schule in Deutschland nicht erreicht werden konnte, entschied die Familie, die Kinder ab Sommer 2010 für sechs oder sieben Jahre in die britische Schule in Pakistan zu senden, wo die Familie über ein Haus verfügte und Verwandte hatte. Die Klägerin lebte in dieser Zeit mit den drei Kindern in Pakistan in dem Haus (sechs Schlafzimmer, Wohnzimmer und Fernsehzimmer). Der in Deutschland selbständig tätige Ehemann der Klägerin blieb zusammen mit dem ältesten Kind im Inland und kam unregelmäßig, jedoch mindestens einmal, gelegentlich zweimal jährlich für ca. einen Monat nach Pakistan zu Besuch. In den Sommerferien flogen die Klägerin und die drei jüngeren Kinder regelmäßig Anfang Juni nach Deutschland und Anfang September zurück nach Pakistan. Während der (kurzen) Winterferien blieben sie in Pakistan.
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Die Familie verfügte in X über ein Einfamilienhaus (6 Zimmer, ca. 200 qm), in dem alle Kinder ihr eigenes Zimmer hatten. Da die Klägerin und drei der vier Kinder sich in jedem Jahr für neun Monate in Pakistan aufhielten, zog die Familie im Dezember 2009 in eine Eigentumswohnung (3 Zimmer, ca. 87 qm), das Einfamilienhaus in Deutschland wurde vermietet. Im Jahr 2012 zog die Familie wegen des Verkaufs der Eigentumswohnung vorübergehend in eine Mietwohnung (2 ½ Zimmer, 68 qm), bis das Einfamilienhaus im November 2014 wieder zur Verfügung stand. A kam im Sommer 2016 endgültig zurück nach Deutschland, K, J und die Klägerin im Sommer 2017.
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Die Klägerin erhielt zunächst Kindergeld für die drei Kinder. Anlässlich einer Vorsprache am 19.02.2016 erhielt die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) Kenntnis vom Schulbesuch der Kinder im Ausland. Mit Bescheid vom 20.06.2017 hob sie die Kindergeldfestsetzung für K ab August 2003 bis Oktober 2015, für A ab August 2005 bis April 2016 und für J ab Oktober 2010 bis Dezember 2016 auf. Durch Änderungsbescheide vom 10.08.2017 und vom 06.10.2017 wurde die Aufhebung teilweise zurückgenommen, so dass es letztlich bei der Aufhebung der Kindergeldfestsetzung für K ab August 2010 bis Oktober 2015, für A ab August 2010 bis April 2016 und für J ab Oktober 2010 bis Dezember 2016 blieb. Die Familienkasse forderte das ausgezahlte Kindergeld von insgesamt 39.810 € zurück.
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Der Einspruch blieb erfolglos. Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt und hob den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid auf. Hiergegen richtet sich die Revision der Familienkasse.
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Mit der Revision rügt die Familienkasse die Verletzung materiellen Rechts.
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Die Familienkasse beantragt, das angegriffene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Die Klägerin hat sich nicht geäußert und keinen Antrag gestellt.
Entscheidungsgründe
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II.
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Die Revision ist unbegründet (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Denn die Entscheidung des FG, der Klage gegen den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid stattzugeben, weil sowohl die Kinder K, A und J als auch die Klägerin in den streitigen Zeiträumen einen Wohnsitz im Inland beibehielten, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
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1. Die Grundsätze, nach denen sich bestimmt, ob jemand einen Wohnsitz (§ 8 der Abgabenordnung --AO--) im Inland hat, sind durch langjährige Rechtsprechung im Wesentlichen geklärt (z.B. Senatsurteile vom 23.06.2015 - III R 38/14, BFHE 250, 381, BStBl II 2016, 102; vom 25.09.2014 - III R 10/14, BFHE 247, 239, BStBl II 2015, 655; vom 18.12.2013 - III R 44/12, BFHE 244, 344, BStBl II 2015, 143; vom 08.05.2014 - III R 21/12, BFHE 246, 389, BStBl II 2015, 135, und vom 20.11.2008 - III R 53/05, BFH/NV 2009, 564).
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a) Nach § 8 AO, der auch im Rahmen der Prüfung des § 63 Abs. 1 Satz 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) über § 1 Abs. 1 AO i.V.m. § 31 Satz 3 EStG Anwendung findet, hat jemand einen Wohnsitz dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Damit knüpft der Wohnsitzbegriff des § 8 AO ausschließlich an die tatsächliche Gestaltung und nicht an subjektive Vorstellungen an (Senatsurteil in BFHE 247, 239, BStBl II 2015, 655, Rz 14, m.w.N.).
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Ein Wohnsitz nach § 8 AO setzt neben zum dauerhaften Wohnen geeigneten Räumen das Innehaben der Wohnung in dem Sinn voraus, dass der Steuerpflichtige tatsächlich über sie verfügen kann und sie als Bleibe entweder ständig benutzt oder sie mit einer gewissen Regelmäßigkeit --wenn auch in größeren Zeitabständen-- aufsucht (Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 23.11.2000 - VI R 107/99, BFHE 193, 558, BStBl II 2001, 294, unter II.2.a). Der Wohnsitzbegriff setzt zwar nicht voraus, dass die Wohnung dauernd durch ihren Inhaber genutzt wird oder der Steuerpflichtige sich dort während einer Mindestzeit aufhält. Die Wohnung im Inland muss auch nicht den Mittelpunkt der Lebensinteressen des Steuerpflichtigen bilden. Er kann deshalb mehrere Wohnsitze haben (BFH-Urteil vom 12.01.2001 - VI R 64/98, BFH/NV 2001, 1231); erforderlich ist aber eine Nutzung, die über bloße Besuche, kurzfristige Ferienaufenthalte und das Aufsuchen der Wohnung zu Verwaltungszwecken hinausgeht (BFH-Urteil vom 10.04.2013 - I R 50/12, BFH/NV 2013, 1909, Rz 16, m.w.N.).
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b) Die Beurteilung, ob bei Auslandsaufenthalten objektiv erkennbare Umstände auf eine Beibehaltung und Nutzung der Wohnung im Inland schließen lassen, obliegt im Wesentlichen dem FG. Dies gilt namentlich für die Abwägung der Faktoren, die für und gegen ein Innehaben der Wohnung und die Absicht der weiteren Benutzung sprechen. Das FG hat dabei die gesamten Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen. An diese Tatsachenwürdigung ist der BFH gemäß § 118 Abs. 2 FGO gebunden, soweit keine zulässigen und begründeten Verfahrensrügen erhoben werden. Im Übrigen kann das Revisionsgericht die Würdigung des FG nur auf Rechtsfehler und auf Verstöße gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze hin überprüfen (Senatsurteile in BFHE 247, 239, BStBl II 2015, 655, Rz 27; in BFHE 246, 389, BStBl II 2015, 135, Rz 16, 17; in BFH/NV 2009, 564, unter II.1.b.; BFH-Urteil vom 23.11.2000 - VI R 165/99, BFHE 193, 569, BStBl II 2001, 279, unter II.3.b).
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c) Welche Faktoren für und gegen ein Innehaben der Wohnung und die Absicht der weiteren Benutzung sprechen und welche Umstände des Einzelfalls durch das FG insbesondere zu berücksichtigen sind, hat der Senat im Urteil in BFHE 247, 239, BStBl II 2015, 655 im Einzelnen dargelegt.
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aa) Danach liegt die Beantwortung der Frage, ob ein Kind, das sich zeitweise außerhalb des elterlichen Haushalts im Ausland zu Ausbildungszwecken aufhält, seinen inländischen Wohnsitz bei den Eltern beibehält oder aber zunächst aufgibt und bei einer späteren Rückkehr wieder neu begründet, weitgehend auf tatsächlichem Gebiet unter Berücksichtigung der objektiven Umstände des jeweiligen Falles. Generelle Regeln lassen sich nicht aufstellen. Die Umstände müssen aber nach der Lebenserfahrung den Schluss zulassen, dass das Kind die Wohnung innehat, um sie als solche zu nutzen (Senatsurteil in BFHE 247, 239, BStBl II 2015, 655, Rz 19).
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bb) Neben der voraussichtlichen Dauer der auswärtigen Unterbringung, der Art der Unterbringung am Ausbildungsort auf der einen und im Elternhaus auf der anderen Seite, dem Zweck des Auslandsaufenthalts, den persönlichen Beziehungen des Kindes am Wohnort der Eltern einerseits und am Ausbildungsort andererseits, kommt auch der Dauer und Häufigkeit der Inlandsaufenthalte Bedeutung zu (Senatsurteil in BFHE 247, 239, BStBl II 2015, 655, Rz 20).
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cc) Minderjährige Kinder teilen zwar nicht stets --gleichsam automatisch-- sämtliche Wohnsitze ihrer Eltern, wenn diese über mehrere Wohnsitze verfügen (Senatsurteil vom 07.04.2011 - III R 77/09, BFH/NV 2011, 1351; Senatsbeschlüsse vom 15.05.2009 - III B 209/08, BFH/NV 2009, 1630, und vom 27.08.2010 - III B 30/09, BFH/NV 2010, 2272). Jedoch gibt es umgekehrt auch keinen Erfahrungssatz dahingehend, dass ein Kind, das bei den Eltern oder einem Elternteil im Ausland wohnt und zur Schule geht, immer nur diesen einen Wohnsitz hat und keinen weiteren Wohnsitz der Eltern teilt (vgl. Senatsurteil in BFHE 244, 344, BStBl II 2015, 143, Rz 8).
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2. Das FG ist bei seiner Entscheidung von diesen Grundsätzen ausgegangen. Es hat nach Würdigung aller maßgeblichen Umstände des Streitfalls festgestellt, dass sowohl die Kinder als auch die Klägerin einen Wohnsitz im Inland beibehalten haben.
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a) Das FG hat in seiner Gesamtwürdigung fehlerfrei berücksichtigt, dass für die Kinder im Haus/in der Wohnung in Deutschland jederzeit ein eigenes Bett bereit stand und damit die Möglichkeit zu übernachten. Weiterhin hat es berücksichtigt, dass der Aufenthalt in Pakistan von vornherein nur für die Zeit des Schulbesuchs gedacht, eine dauerhafte Auswanderung zu keiner Zeit beabsichtigt war und die Kinder ihre sozialen Beziehungen in Deutschland nie aufgegeben haben.
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b) Das FG hat dabei nicht verkannt, dass die Verhältnisse in Deutschland teilweise beengt waren, da in Deutschland zeitweise lediglich eine kleine Wohnung zur Verfügung stand und hat dies in seine Gesamtwürdigung einfließen lassen. Es hat berücksichtigt, dass die Kinder sich in Deutschland ein Zimmer teilen mussten, jedoch keine Mindestgröße der Wohnung vorgeschrieben ist, solange die Eignung zum Wohnen nicht beeinträchtigt ist (BFH-Urteil vom 13.11.2013 - I R 38/13, BFH/NV 2014, 1046). Beim zeitweisen Umzug in eine kleine 2 ½-Zimmer-Wohnung berücksichtigte es auch, dass das Einfamilienhaus für eine Übergangszeit noch vermietet war. Ebenso hat es weiterhin in die Gesamtwürdigung in ausreichendem Maße die Aufenthalte in Deutschland einbezogen und auch berücksichtigt, dass die minderjährigen Kinder nicht bei Verwandten im Heimatland der Eltern zum Zwecke des dortigen Schulbesuchs untergebracht waren, sondern bei der Mutter der Kinder, der Klägerin. Der mehrjährige Schulbesuch im Ausland unter Anwesenheit eines Elternteils der Kinder führte gerade nicht dazu, dass sich die Kinder längerfristig in die dortigen Lebensverhältnisse einlebten und damit die familiäre Wohn- und Lebensgemeinschaft zwischen Eltern und Kindern für die Dauer der Ausbildung aufgegeben wurde. Vielmehr blieb die familiäre Wohn- und Lebensgemeinschaft zwischen Elternteil und Kindern erhalten.
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c) In Ermangelung erhobener Verfahrensrügen ist der Senat an die Beurteilung durch das FG gemäß § 118 Abs. 2 FGO gebunden. Denn ist die tatsächliche Würdigung des FG verfahrensrechtlich einwandfrei zustande gekommen und verstößt sie auch nicht gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze, ist sie für den BFH als Revisionsgericht nach § 118 Abs. 2 FGO auch dann bindend, wenn die Wertung des FG nicht zwingend, sondern lediglich möglich ist (z.B. Senatsurteile vom 22.02.2017 - III R 20/15, BFHE 257, 274, BStBl II 2017, 913, Rz 22; vom 22.12.2011 - III R 41/07, BFHE 236, 144, BStBl II 2012, 681, Rz 18, und in BFH/NV 2009, 564, unter II.1.b).
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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 143 Abs. 1, § 135 Abs. 2 FGO.
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