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BFH 06.04.2016 - V R 55/14
BFH 06.04.2016 - V R 55/14 - Umsatzsteuerfreie Betreuungsleistungen
Normen
Art 132 Abs 1 Buchst h EGRL 112/2006, § 4 Nr 25 UStG 2005, § 45 SGB 8, § 75 SGB 8, UStG VZ 2007, Art 13 Teil A Abs 1 Buchst h EWGRL 388/77
Vorinstanz
vorgehend FG Köln, 22. Oktober 2014, Az: 4 K 2056/11, Urteil
Leitsatz
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Betreuungsleistungen einer juristischen Person sind unter Berufung auf Art. 132 Abs. 1 Buchst. h MwStSystRL steuerfrei, wenn ihr die Erlaubnis zum Betrieb einer Einrichtung zur Betreuung von Kindern und Jugendlichen nach § 45 SGB VIII erteilt wurde und die Kosten für diese Leistungen über einen Träger der freien Jugendhilfe abgerechnet und damit mittelbar von öffentlichen Trägern der Kinder- und Jugendhilfe gezahlt werden .
Tenor
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Auf die Revision der Klägerin werden das Urteil des Finanzgerichts Köln vom 22. Oktober 2014 4 K 2056/11 und die Einspruchsentscheidung des Finanzamts vom 9. Juni 2011 sowie der Umsatzsteuerbescheid des Finanzamts vom 15. Juni 2010 aufgehoben.
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Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Beklagte zu tragen.
Tatbestand
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I. Streitig ist, ob die von der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) im Streitjahr (2007) erbrachten Betreuungsleistungen gegenüber Kindern und Jugendlichen steuerfrei sind.
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Die Klägerin ist eine juristische Person in der Rechtsform einer GmbH, die nach ihrem Gesellschaftszweck ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige Zwecke verfolgt. Diese Zwecke bestehen u.a. in der Förderung der Jugend in Bildung und Erziehung sowie der Jugendhilfe nach §§ 27 ff. des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG).
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Der Satzungszweck wird insbesondere verwirklicht durch:
"a) Hilfen zur Erziehung nach §§ 27 ff. KJHG, hier insbesondere die Unterhaltung einer Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung, für stationäre und ambulante Hilfen, zur Bekämpfung der Verwahrlosung, u.a. bei Drogenmissbrauch, körperlicher und seelischer Misshandlung".
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Hierzu erbringt die Klägerin u.a. Betreuungsleistungen der Kinder- und Jugendhilfe nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch --Kinder- und Jugendhilfe-- (SGB VIII). Die für entsprechende Einrichtungen (Wohnheime) erforderlichen Betriebserlaubnisse sind ihr gemäß § 45 SGB VIII durch den Landschaftsverband ... (Verband) mit den Bescheiden vom 18. Februar 2002 und vom 2. März 2007 erteilt worden. Die für ihre Betreuungsleistungen geschuldeten Entgelte stellte die Klägerin der --als Trägerin der freien Jugendhilfe nach § 75 i.V.m. § 45 SGB VIII anerkannten-- GbR in Rechnung. Diese rechnete die unter Einschaltung der Klägerin erbrachten Leistungen mit den öffentlichen Trägern der Kinder- und Jugendhilfe ab.
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Die Klägerin hielt ihre Leistungen für steuerfrei und gab daher für das Streitjahr keine Umsatzsteuererklärung ab. Dagegen unterwarf der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) im Anschluss an eine Außenprüfung die von der Klägerin erbrachten Leistungen im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe in Höhe von 115.319 € (netto) der Umsatzsteuer. Die Voraussetzungen einer Steuerbefreiung lägen weder nach nationalem Recht noch nach Unionsrecht vor. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) könnten nur solche Einrichtungen als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannt werden, die --anders als die Klägerin im Streitfall-- unmittelbar mit den öffentlichen Trägern der sozialen Sicherheit abrechneten.
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Gegen den erstmaligen Umsatzsteuerbescheid 2007 vom 15. Juni 2010 legte die Klägerin erfolglos Einspruch ein. Die Klage wies das Finanzgericht (FG) mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2015, 164 veröffentlichten Urteil ab. Die Leistungen seien nicht nach nationalem Recht steuerfrei. Die Klägerin könne sich auch nicht mit Erfolg auf Art. 132 Abs. 1 Buchst. h der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem vom 28. November 2006 (MwStSystRL) berufen. Sie habe zwar Leistungen erbracht, die eng mit der Kinder- und Jugendbetreuung verbunden sind, sie sei aber nicht als Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannt.
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Mit ihrer Revision rügt die Klägerin Verletzung materiellen Bundesrechts und beruft sich auf die Steuerfreiheit nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. h MwStSystRL.
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Die Anerkennung als Einrichtung mit sozialem Charakter folge bereits aus der mittelbaren Übernahme der Kosten für die Leistungen durch die öffentlichen Träger der Kinder- und Jugendhilfe über die GbR. Nach den Senatsurteilen vom 8. November 2007 V R 2/06 (BFHE 219, 428, BStBl II 2008, 634) sowie vom 8. August 2013 V R 8/12 (BFHE 242, 548) setze die Anerkennung zwar eine unmittelbare vertragliche Beziehung voraus, ob der BFH an dieser Rechtsprechung festhalten wolle, sei allerdings nach dem BFH-Beschluss vom 12. Dezember 2013 XI B 88/13 (BFH/NV 2014, 550) fraglich. Die Unmittelbarkeit der Leistungsbeziehung zu einer öffentlich-rechtlichen Einrichtung sei nicht zwingend aus Art. 132 Abs. 1 Buchst. g, h oder i MwStSystRL abzuleiten. Außerdem beeinträchtige das Erfordernis einer unmittelbaren Vertragsbeziehung die Funktionsfähigkeit des Jugendhilferechts in erheblichem Maße.
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Darüber hinaus folge ihre Anerkennung als Einrichtung mit sozialem Charakter aus der ihr gemäß § 45 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII erteilten Betriebserlaubnis.
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Die Klägerin beantragt,
den Bescheid über Umsatzsteuer für 2007 vom 15. Juni 2010 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 9. Juni 2011 sowie das Urteil des FG vom 22. Oktober 2014 4 K 2056/11 aufzuheben.
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Das FA beantragt,
die Revision der Klägerin als unbegründet zurückzuweisen.
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Das FG stelle zu Recht auf die fehlenden unmittelbaren vertraglichen Beziehungen zwischen der Klägerin und dem Sozialversicherungsträger ab. Die Klägerin sei ausschließlich aufgrund ihres Vertrags mit der GbR tätig geworden und habe selbst keine unmittelbaren vertraglichen Beziehungen mit dem Jugendamt als Träger der sozialen Sicherheit abgeschlossen.
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Eine mittelbare Kostentragung durch den Sozialleistungsträger führte zu einem praktischen Nachweisproblem, da der Subunternehmer in der Regel von der Abrechnung bzw. der Höhe der tatsächlich vom Sozialleistungsträger erstatteten Kosten nichts erfahre.
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Den Mitgliedstaaten stehe ein gewisser Gestaltungsspielraum zur Anerkennung einer Einrichtung zu. Die ab dem 1. Januar 2008 geltende Anerkennung von anderen Einrichtungen mit sozialem Charakter nach § 4 Nr. 25 des Umsatzsteuergesetzes 2005 in der im Streitjahr geltenden Fassung (UStG) könne keine Auswirkungen auf die Beurteilung des Streitjahres haben, da ansonsten gesetzliche Änderungen für die Anerkennung stets Rückwirkung entfalteten und die Rechtssicherheit zur Beurteilung der Steuerfreiheit der Leistungen beeinträchtigt würde.
Entscheidungsgründe
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II. Die Revision der Klägerin ist begründet. Das Urteil des FG ist aufzuheben und der Klage stattzugeben (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG hat zwar eine Steuerfreiheit der Betreuungsleistungen nach nationalem Recht zutreffend abgelehnt. Entgegen der Auffassung des FG ist die Klägerin jedoch als Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannt, sodass die von ihr erbrachten Betreuungsleistungen nach Unionsrecht steuerfrei sind.
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1. Eine Steuerfreiheit der von der Klägerin erbrachten Leistungen ergibt sich nicht aus dem nationalen Recht:
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a) Nach § 4 Nr. 25 UStG sind bestimmte, unter a) bis c) bezeichnete Leistungen der "Träger der öffentlichen Jugendhilfe und der förderungswürdigen Träger der freien Jugendhilfe" steuerfrei. Diese Norm verweist auf § 75 SGB VIII. Als Träger der freien Jugendhilfe können danach juristische Personen und Personenvereinigungen anerkannt werden, wenn sie
"1. auf dem Gebiet der Jugendhilfe i.S. des § 1 tätig sind,
2. gemeinnützige Ziele verfolgen,
3. auf Grund der fachlichen und personellen Voraussetzungen erwarten lassen, dass sie einen nicht unwesentlichen Beitrag zur Erfüllung der Aufgaben der Jugendhilfe zu leisten imstande sind, und
4. die Gewähr für eine den Zielen des Grundgesetzes förderliche Arbeit bieten."
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Im Streitfall wurde nicht die Klägerin, sondern die GbR als Träger der freien Jugendhilfe anerkannt. Ob die Klägerin die Voraussetzungen für eine Anerkennung erfüllt, kann vorliegend offen bleiben. Denn die Betreuungsleistungen der Klägerin fallen weder unter die in Buchstabe a bezeichneten Tätigkeiten (Durchführung von Lehrgängen, Freizeiten, Zeltlagern, Fahrten und Treffen sowie von Veranstaltungen, die dem Sport oder der Erholung dienen) noch unter die in Buchstabe b bezeichneten Leistungen (Beherbergung, Beköstigung und übliche Naturalleistungen, die den Jugendlichen und Mitarbeitern gewährt werden) des § 4 Nr. 25 UStG. Es geht auch nicht um die Durchführung von kulturellen und sportlichen Veranstaltungen im Rahmen der Jugendhilfe (§ 4 Nr. 25 Buchst. c UStG).
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b) Nach § 4 Nr. 25 UStG 2005 i.d.F. des Jahressteuergesetzes (JStG) 2008 sind die Leistungen der Jugendhilfe nach § 2 Abs. 2 des Achten Buches Sozialgesetzbuch (...) steuerfrei, wenn diese Leistungen von Trägern der öffentlichen Jugendhilfe oder anderen Einrichtungen mit sozialem Charakter erbracht werden. Andere Einrichtungen mit sozialem Charakter i.S. dieser Vorschrift sind:
"a) von der zuständigen Jugendbehörde anerkannte Träger der freien Jugendhilfe, die Kirchen und Religionsgemeinschaften des öffentlichen Rechts sowie die amtlich anerkannten Verbände der freien Wohlfahrtspflege,
b) Einrichtungen, soweit sie
aa) für ihre Leistungen eine im Achten Buch Sozialgesetzbuch geforderte Erlaubnis besitzen oder nach § 44 oder § 45 Abs. 1 Nr. 1 und 2 des Achten Buches Sozialgesetzbuch einer Erlaubnis nicht bedürfen, (...)".
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aa) Die Klägerin ist, wie unter II.1.a ausgeführt wurde, kein Träger der Jugendhilfe, sie gehört aber zu den anderen Einrichtungen mit sozialem Charakter. Denn sie unterhält ein Wohnheim, in dem Kinder und Jugendliche mit psychischer Behinderung untergebracht sind. Für den Betrieb dieser Einrichtung ist eine Betriebserlaubnis nach § 45 SGB VIII erforderlich. Diese ist der Klägerin durch den Verband (Landesjugendamt) mit den Bescheiden vom 18. Februar 2002 und 2. März 2007 erteilt worden.
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bb) Eine Steuerbefreiung der erbrachten Leistungen scheidet im Streitfall jedoch aus, weil die Neufassung des § 4 Nr. 25 UStG gemäß § 27 Abs. 1 UStG i.V.m. Art. 28 Abs. 4 JStG 2008 erst für Umsätze gilt, die ab dem 1. Januar 2008 ausgeführt werden.
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2. Die Klägerin kann sich für die Steuerfreiheit ihrer Leistungen aber auf das Unionsrecht berufen.
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Steuerfrei sind nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. h MwStSystRL (bis 31. Dezember 2006: Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. h der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG --Richtlinie 77/388/EWG--) "eng mit der Kinder- und Jugendbetreuung verbundene Dienstleistungen und Lieferungen von Gegenständen durch Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder andere von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen".
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Diese Bestimmung knüpft an leistungs- und an personenbezogene Voraussetzungen an: Es muss sich um eng mit der Kinder- und Jugendbetreuung verbundene Dienstleistungen handeln und der leistende Unternehmer muss als Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannt sein.
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a) Die Leistungen der Klägerin sind eng mit der Kinder- und Jugendbetreuung verbunden. Sie betreibt ein Wohnheim, in dem psychisch und seelisch kranke Kinder und Jugendliche untergebracht sind und behandelt werden. Damit wird sie gegenüber dem Jugendamt im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe (§§ 27 bis 41 SGB VIII) tätig.
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b) Die Klägerin ist --entgegen dem Urteil des FG-- auch als Einrichtung i.S. von Art. 132 Abs. 1 Buchst. h MwStSystRL "anerkannt".
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aa) Nach dem zu Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG ergangenen Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) Zimmermann vom 15. November 2012 C-174/11 (EU:C:2012:716, Rz 26) legt die Richtlinie die Voraussetzungen und Modalitäten der Anerkennung nicht fest. Vielmehr ist es Sache des innerstaatlichen Rechts jedes Mitgliedstaates, die Regeln aufzustellen, nach denen Einrichtungen die erforderliche Anerkennung gewährt werden kann. Dabei haben die nationalen Behörden im Einklang mit dem Unionsrecht und unter der Kontrolle der nationalen Gerichte die für die Anerkennung maßgeblichen Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Zu diesen gehören das Bestehen spezifischer Vorschriften, bei denen es sich um nationale oder regionale Rechts- oder Verwaltungsvorschriften, Steuervorschriften oder Vorschriften im Bereich der sozialen Sicherheit handeln kann, das mit den Tätigkeiten des betreffenden Steuerpflichtigen verbundene Gemeinwohlinteresse, die Tatsache, dass andere Steuerpflichtige mit den gleichen Tätigkeiten bereits in den Genuss einer ähnlichen Anerkennung kommen, und die Übernahme der Kosten der fraglichen Leistungen zum großen Teil durch Krankenkassen oder durch andere Einrichtungen der sozialen Sicherheit (EuGH-Urteil Zimmermann, EU:C:2012:716, Rz 31).
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Der Steuerpflichtige kann sich auf die in Art. 132 Abs. 1 MwStSystRL vorgesehene Steuerfreiheit berufen, um sich einer Regelung zu widersetzen, die mit dieser Bestimmung unvereinbar ist. Es ist Sache der nationalen Gerichte, anhand aller maßgeblichen Umstände zu bestimmen, ob der Steuerpflichtige eine als Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtung i.S. dieser Bestimmung ist. Dabei haben die nationalen Gerichte zu prüfen, ob die zuständigen Behörden die Grenzen des ihnen eingeräumten Ermessens unter Beachtung der Grundsätze des Unionsrechts eingehalten haben, zu denen insbesondere der Grundsatz der Gleichbehandlung gehört, der im Mehrwertsteuerbereich im Grundsatz der steuerlichen Neutralität zum Ausdruck kommt (EuGH-Urteil Zimmermann, EU:C:2012:716, Rz 32 f.). Dies gilt auch für Art. 132 Abs. 1 Buchst. h MwStSystRL.
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bb) Im Streitfall folgt die Anerkennung der Klägerin aus spezifischen Vorschriften im Bereich der sozialen Sicherheit, ihrer Tätigkeit im Gemeinwohlinteresse sowie der (mittelbaren) Kostenübernahme:
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(1) Für die Anerkennung der Klägerin spricht insbesondere die Erteilung der Betriebserlaubnis nach § 45 SGB VIII. Dabei handelt es sich --entgegen der Auffassung des FG-- nicht nur um eine Regelung der Heimaufsicht über die Einrichtungen des Jugendhilferechts, sondern um eine spezifische Vorschrift im Bereich der sozialen Sicherheit. Maßgeblich dafür ist, dass § 45 Abs. 2 SGB VIII der im Streitjahr geltenden Fassung eine Versagung der Erlaubnis vorsieht, wenn "die Betreuung der Kinder oder der Jugendlichen durch 'geeignete Kräfte' nicht gesichert ist" oder "in sonstiger Weise das Wohl der Kinder oder der Jugendlichen in der Einrichtung nicht gewährleistet ist".
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Die danach erforderliche "positive Eignungsfeststellung" stellt keine bloße Nebenbedingung für die Erteilung einer Betriebserlaubnis dar. Ist die Betreuung der Kinder durch geeignete Kräfte nicht gesichert, ist vielmehr bereits die Betriebserlaubnis nach § 45 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 SGB VIII zwingend zu versagen. Daraus folgt, dass schon vor der Erteilung der Betriebserlaubnis nach § 45 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII die Prüfung und positive Feststellung der persönlichen und fachlichen Eignung des in der Einrichtung konkret zum Einsatz kommenden Leitungs- und Betreuungspersonals erforderlich ist (Beschluss des Oberverwaltungsgerichts --OVG-- Nordrhein-Westfalen vom 27. November 2007 12 A 4697/06, FEVS 59, 318, Leitsatz). Die zwingende Versagung bei nicht gesicherter Betreuung der Kinder durch geeignete Kräfte trägt dem Umstand Rechnung, dass der Betreuung durch geeignete Kräfte im Hinblick auf das in der Einrichtung vom Einrichtungsträger zu gewährleistende Kindeswohl zentrale Bedeutung zukommt: Der Betrieb der Einrichtung steht und fällt mit dem eingesetzten Personal (OVG-Beschluss in FEVS 59, 318, Rz 41 und 52).
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Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Eignung der in der Einrichtung tätigen Kräfte ein besonders bedeutsames Kriterium bei der Beurteilung des Kindeswohls darstellt. Die Eignung des Personals umfasst sowohl die persönliche Eignung (i.S. persönlicher Zuverlässigkeit) als auch die fachliche Eignung (Beschluss des OVG Saarland vom 30. April 2013 3 A 194/12, Leitsatz 2, juris). Auch wenn der Gesetzgeber insoweit nicht von "Fachkräften" spricht, erfordert die fachliche Eignung in der Regel eine adäquate Ausbildung. Die an die Qualifikation zu stellenden Anforderungen sind abhängig von der fachlichen Zweckbestimmung der Einrichtung und dem jeweiligen Aufgabenfeld der einzelnen Beschäftigten (Beschluss des OVG Saarland, a.a.O., Rz 16, m.w.N.).
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Die Qualifizierung des § 45 SGB VIII als spezifische Vorschrift im Bereich der sozialen Sicherheit ergibt sich weiterhin aus der zum 1. Januar 2008 in Kraft getretenen Gesetzesänderung des § 4 Nr. 25 UStG sowie der Gesetzesbegründung. Die Gesetzesänderung diente --wie sich aus der Übernahme des unionsrechtlichen Begriffs der "anderen Einrichtung mit sozialem Charakter" ergibt-- der Anpassung des nationalen Rechts an die Erfordernisse des Unionsrechts in Art. 132 Abs. 1 Buchst. h MwStSystRL (vgl. BTDrucks 16/6290, S. 78). Auf der Grundlage der "dort eingeräumten Befugnisse" erkennt der Gesetzgeber bestimmte weitere Einrichtungen an, soweit sie für ihre Leistungen eine im SGB VIII geforderte Erlaubnis besitzen. Dazu gehört u.a. der Erlaubnistatbestand des § 45 Abs. 1 SGB VIII.
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Bestätigt wird diese Auffassung durch die Ausführungen des EuGH im Urteil Les Jardins de Jouvence vom 21. Januar 2016 C-335/14 (EU:C:2016:36). Im Rahmen der Anerkennungskriterien kann danach auch der Umstand berücksichtigt werden, dass (...) Einrichtungen für betreutes Wohnen, zusammen mit Altenheimen und Tagesbetreuungszentren per Dekret einheitlichen Regelungen unterliegen, die den unterschiedlichen institutionalisierten Formen der Unterstützung und Betreuung von Senioren einen Rahmen geben sollen (Rz 37 des EuGH-Urteils Les Jardins de Jouvence). Nach dem maßgeblichen Dekret ist der Betrieb eines Altenheims oder einer Einrichtung für betreutes Wohnen von der Erlangung einer Genehmigung abhängig, die erteilt wird, wenn diese Einrichtungen bestimmten Vorschriften entsprechen (Rz 8 und 9 des EuGH-Urteils Les Jardins de Jouvence, EU:C:2016:36). Im Streitfall besteht mit § 45 SGB VIII eine dem Inhalt des Dekrets vergleichbare gesetzliche Regelung für die Erlangung einer Genehmigung. Die Klägerin erfüllte die darin für die Erlangung der Genehmigung aufgestellten Erfordernisse, sodass ihr eine Betriebserlaubnis für die von ihr betriebenen Wohnheime erteilt wurde. Dementsprechend hat der Senat bereits im Urteil vom 23. Oktober 2014 V R 20/14 (BFHE 248, 376, Rz 18) eine "Genehmigung" als ein Indiz dafür gewertet, dass der Leistungserbringer "ordnungsgemäß anerkannt" ist.
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(2) An der Tätigkeit der Klägerin im Bereich der Kinder- und Jugendbetreuung besteht ein besonderes Gemeinwohlinteresse. Psychische Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter können bei unzureichender Behandlung und Betreuung nicht nur die Entwicklung des Kindes und die aktuelle Lebensqualität beeinträchtigen, sondern sich auch auf die Leistungsfähigkeit im Erwachsenenalter und damit gesamtgesellschaftlich nachteilig auswirken. Es liegt daher im allgemeinen Interesse, psychisch Erkrankte bereits frühzeitig zu betreuen und ihnen die Chance einer Teilhabe am späteren Erwerbsleben und der Gesellschaft zu ermöglichen.
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(3) Zu berücksichtigen ist schließlich die Übernahme der Kosten der fraglichen Leistungen durch Einrichtungen der sozialen Sicherheit. Nach den bindenden Feststellungen des FG stellt die Klägerin die von ihr erbrachten Leistungen der als Trägerin der freien Jugendhilfe nach § 75 i.V.m. § 45 SGB VIII anerkannten GbR in Rechnung. Diese wiederum rechnete die von der Klägerin erbrachten Leistungen mit den öffentlichen Trägern der Kinder- und Jugendhilfe ab. Auch eine derartige mittelbare oder "durchgeleitete" Kostentragung erfüllt nach der jüngsten Rechtsprechung des Senats (Senatsurteil vom 18. August 2015 V R 13/14, BFHE 251, 282) das Merkmal der Kostenübernahme. Danach muss berücksichtigt werden, dass die Klägerin Mitglied in einem "anerkannten" Verein zur Erbringung von Pflegeleistungen war, dessen Kosten weitgehend von den Pflegekassen getragen worden sind. Im Streitfall besteht --ebenso wie im BFH-Urteil in BFHE 251, 282-- eine mittelbare oder "durchgeleitete" Kostentragung.
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Damit erfüllt die Klägerin mehrere --bei der Beurteilung der Eigenschaft als Einrichtung mit sozialem Charakter-- zu berücksichtigende Gesichtspunkte. Da diese nicht kumulativ zu verstehen sind (BFH-Urteile vom 25. April 2013 V R 7/11, BFHE 241, 475, BStBl II 2013, 976, sowie vom 8. Juni 2011 XI R 22/09, BFHE 234, 448) und somit nicht vollständig vorliegen müssen, führt auch eine Gesamtwürdigung der maßgeblichen Kriterien dazu, dass die Klägerin als Einrichtung mit sozialem Charakter anzusehen ist. Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass der nationale Gesetzgeber seinen Gestaltungsspielraum dahingehend ausgeübt habe, andere Einrichtungen --wie die Klägerin-- erst ab dem 1. Januar 2008 anzuerkennen. Denn die für die Anerkennung maßgebenden Umstände, insbesondere § 45 SGB VIII als spezifische Vorschrift im Bereich der sozialen Sicherheit, haben bereits im Streitjahr vorgelegen. Die Anerkennung der Klägerin als Einrichtung mit sozialem Charakter beruht auch nicht auf einer unzulässigen Rückwirkung des § 4 Nr. 25 UStG n.F., sondern auf dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist es bei Verstößen gegen Unionsrecht Sache des nationalen Gerichts, etwaige Konsequenzen auch für die Vergangenheit zu ziehen (Urteil Marks & Spencer vom 10. April 2008 C-309/06, EU:C:2008:211, Leitsatz 5 sowie Rz 60 für einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung).
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c) Der Steuerfreiheit der Betreuungsleistungen steht nicht entgegen, dass die Klägerin keine direkten vertraglichen Beziehungen zu den öffentlichen Trägern der Kinder- und Jugendhilfe unterhielt, sondern sich verpflichtet hatte, ihre Leistungen gegenüber der GbR zu erbringen und demgemäß auch dieser gegenüber abrechnete.
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aa) Der Senat hatte zwar im Urteil in BFHE 219, 428, BStBl II 2008, 634 ausgeführt, die Anerkennung des betreffenden Mitgliedstaates als eine "Einrichtung mit vergleichbarer Zielrichtung" setze zumindest eine unmittelbare vertragliche Beziehung zwischen diesem oder seinen Untergliederungen und dem Unternehmer voraus, sodass es nicht ausreichend sei, wenn der Unternehmer lediglich als Subunternehmer für eine anerkannte Einrichtung tätig geworden ist (BFH-Urteil in BFHE 219, 428, BStBl II 2008, 634, Rz 43 der Entscheidungsgründe).
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bb) Vor dieser Aussage wird aber die Rechtsprechung wiedergegeben, wonach die Anerkennung eines Unternehmers als eine Einrichtung mit sozialem Charakter auch aus der Übernahme der Kosten für seine Leistungen durch Krankenkassen oder andere Einrichtungen der sozialen Sicherheit abgeleitet werden könne (Rz 41 der Entscheidungsgründe). Die Ausführungen des BFH sind demnach nicht in dem Sinne zu verstehen, dass nur bei Vorliegen (unmittelbarer) vertraglicher Vereinbarungen eine Anerkennung in Betracht komme. Eine derartige Einschränkung stünde insbesondere nicht im Einklang mit der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH, die lediglich darauf abstellt, ob "die Kosten der fraglichen Leistungen ... von Einrichtungen der sozialen Sicherheit übernommen werden" (vgl. hierzu BFH-Urteil vom 29. Juli 2015 XI R 35/13, BFHE 251, 91). Dementsprechend hat es der erkennende Senat im Urteil in BFHE 251, 282 als unerheblich angesehen, dass keine direkten vertraglichen Vereinbarungen mit den öffentlichen Trägern der Kinder- und Jugendhilfe bestanden.
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d) Gegen die Anerkennung der Klägerin als Einrichtung mit sozialem Charakter sprechen auch nicht die vom FA vorgetragenen Nachweisprobleme in Fällen der weitergeleiteten (mittelbaren) Kostentragung. Diese betreffen das Verfahrensrecht und sind nach allgemeinen Grundsätzen dahingehend zu lösen, dass derjenige, der die Umsatzsteuerfreiheit begehrt, die Feststellungslast für die hierfür entscheidungserheblichen Tatsachen trägt und --wenn die für die Umsatzsteuerbefreiung erforderlichen Feststellungen nicht möglich sein sollten-- dies zu seinen Lasten geht (vgl. BFH-Beschluss vom 18. Februar 2008 V B 35/06, BFH/NV 2008, 1001, m.w.N.).
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
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