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BFH 06.02.2013 - X K 11/12
BFH 06.02.2013 - X K 11/12 - Vertretungszwang auch bei Entschädigungsklagen - Vereinbarkeit des Vertretungszwangs mit höherrangigem Recht
Normen
§ 62 Abs 2 S 1 FGO, § 62 Abs 4 FGO, § 155 S 2 FGO, § 198 GVG, Art 6 MRK, Art 2 GG, Art 19 Abs 4 GG, Art 103 Abs 1 GG, Art 47 Abs 2 EUGrdRCh
Leitsatz
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1. Der Vertretungszwang gemäß § 62 Abs. 4 FGO gilt auch bei Entschädigungsklagen wegen überlanger Verfahrensdauer nach § 198 GVG, für die in Bezug auf finanzgerichtliche Verfahren ausschließlich der BFH zuständig ist (§ 155 Satz 2 FGO) .
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2. Der Vertretungszwang verstößt nicht gegen höherrangiges Recht, insbesondere nicht gegen Art. 6 EMRK .
Tatbestand
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I. Mit Schreiben vom 16. Oktober 2012 hat der Kläger, der nicht zu den in § 62 Abs. 2 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) bezeichneten Personen gehört, beantragt, das Land Berlin zu verurteilen, ihm wegen der unangemessenen Dauer des von ihm geführten finanzgerichtlichen Verfahrens 4 K 4012/11 eine Entschädigung zu gewähren. Er wurde durch das Schreiben der Geschäftsstelle des für Entschädigungsklagen zuständigen Senats des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 29. Oktober 2012 darauf hingewiesen, dass wegen des beim BFH bestehenden Vertretungszwangs bereits die Klageschrift von einer vertretungsberechtigten Person oder Gesellschaft verfasst sein müsse, da die Klage ansonsten unzulässig sei.
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Der Kläger ist demgegenüber der Auffassung, wegen der nicht besonders komplizierten Materie bestehe kein Grund für einen Vertretungszwang. Der BFH habe zudem gemäß § 155 Satz 2 FGO in den Entschädigungsklagen gemäß §§ 198 ff. des Gerichtsverfassungsgesetzes (--GVG--; eingefügt durch Art. 1 des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren --ÜberlVfRSchG-- vom 24. November 2011, BGBl I 2011, 2302) die Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug anzuwenden. Da nach der FGO grundsätzlich kein Vertretungszwang in Verfahren der ersten Instanz bestehe, könne kein Vertretungszwang gelten. Dieser verstoße ohnehin gegen Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK).
Entscheidungsgründe
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II. Die Entschädigungsklage ist unzulässig.
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1. Sie wurde nicht von einer postulationsfähigen Person oder Gesellschaft erhoben.
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a) Vor dem BFH muss sich jeder Beteiligte, sofern es sich nicht um eine juristische Person des öffentlichen Rechts oder um eine Behörde handelt, durch einen Rechtsanwalt, Steuerberater, Steuerbevollmächtigten, Wirtschaftsprüfer oder vereidigten Buchprüfer als Bevollmächtigten vertreten lassen; zur Vertretung berechtigt sind auch Gesellschaften i.S. des § 3 Nr. 2 und 3 des Steuerberatungsgesetzes, die durch solche Personen handeln (§ 62 Abs. 4 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 FGO).
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b) Dieser Vertretungszwang gilt auch bei Entschädigungsklagen wegen überlanger Verfahrensdauer gemäß §§ 198 ff. GVG, für die in Bezug auf die finanzgerichtlichen Verfahren ausschließlich der BFH zuständig ist (§ 155 Satz 2 FGO). Auch bei den Entschädigungsklagen sind die allgemeinen Verfahrensvorschriften des Zweiten Teils der FGO, zu denen der in § 62 Abs. 4 FGO geregelte Vertretungszwang gehört, anzuwenden (allgemeine Meinung, vgl. Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, Teil 2 E. § 155 Rz 9; Brandis in Tipke/ Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 155 FGO Rz 17; Schwarz in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 155 FGO Rz 129; Mack/ Wollweber, Steuerberatung 2012, 7; Steinhauff, juris PraxisReport Steuerrecht 48/2012, Anm. 4, D; siehe ausdrücklich zum Vertretungszwang bei Entschädigungsverfahren vor den Oberlandesgerichten und dem Bundesgerichtshof Gesetzentwurf des ÜberlVfRSchG, BTDrucks 17/3802, 25). Die in § 155 Satz 2 Halbsatz 2 FGO angeordnete entsprechende Anwendung der Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug bezieht sich nur auf die §§ 63 bis 94a FGO. Diese explizite Anordnung war notwendig geworden, weil der BFH bislang erstinstanzlich nicht zuständig war.
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2. Entgegen der Auffassung des Klägers verstößt der in § 62 Abs. 4 FGO normierte Vertretungszwang nicht gegen höherrangiges Recht, insbesondere nicht gegen Art. 6 EMRK.
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a) Nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK hat jede Person ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen von einem unabhängigen Gericht in einem fairen Verfahren in angemessener Frist verhandelt wird. Durch den Vertretungszwang des § 62 Abs. 4 FGO wird Art. 6 Abs. 1 EMRK --unbeschadet der Frage, ob diese Regelung auf Entschädigungsklagen gemäß §§ 198 ff. GVG überhaupt anwendbar ist-- nicht verletzt.
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aa) Es ist anerkannt, dass der Zugang zum Gericht durch Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht absolut gewährleistet wird (so Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte --EGMR-- vom 21. Februar 1975 4451/70 --Golder/Großbritannien--, Europäische Grundrechte Zeitschrift --EuGRZ-- 1975, 91), sondern inhärenten Beschränkungen unterliegt (Peukert in Frowein/ Peukert, EMRK-Kommentar, 3. Aufl., Art. 6 Rz 64). Dabei darf jedoch die in Art. 6 EMRK gegebene Garantie nicht in ihrem Wesensgehalt angetastet werden (EGMR-Urteile vom 28. Mai 1985 8225/78 --Ashingdane/Großbritannien--, EuGRZ 1986, 8, Rz 57, und vom 10. Mai 2001 29392/95 --Z u.a./Großbritannien--, Zentralblatt für Jugendrecht 2005, 154, Rz 93). Die Beschränkungen müssen im Interesse einer geordneten Rechtspflege erforderlich sein, ein berechtigtes Ziel verfolgen und verhältnismäßig sein (EGMR-Urteil vom 18. Februar 1999 26083/94 --Waite u. Kennedy/Deutschland--, Neue Juristische Wochenschrift 1999, 1173, Rz 59; Meyer-Ladewig, EMRK, Handkommentar, 3. Aufl., Art. 6 Rz 37).
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bb) Der vor dem BFH bestehende Vertretungszwang dient zum einen dem Schutz des Gerichts vor einer Belastung mit Rechtsmitteln, deren Erfolgsaussichten die Beteiligten nach ihrer Vorbildung nicht richtig einzuschätzen in der Lage sind und folglich auch nicht richtig und fachkundig zu führen wissen; zum anderen kommt er aber auch dem Schutz der Rechtssuchenden zugute, die sich durch einen Angehörigen der in § 62 Abs. 2 Satz 1 FGO genannten Berufsgruppen vertreten lassen müssen (BFH-Beschluss vom 19. Januar 2012 VI B 98/11, BFH/NV 2012, 759, m.w.N.). Die Einschränkung des Zugangs zum Gericht durch den Vertretungszwang wird zudem dadurch gemildert, dass ein Steuerpflichtiger bei Bedürftigkeit Anspruch auf Prozesskostenhilfe gemäß § 142 FGO i.V.m. § 114 der Zivilprozessordnung (ZPO) hat und ihm für den Fall, dass er keinen zur Vertretung bereiten Prozessbevollmächtigten findet, ein Notanwalt gemäß § 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 78b ZPO beizuordnen ist.
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Der Anwaltszwang für bestimmte Verfahren bzw. bei bestimmten Gerichten ist auch vom EGMR als unbedenklich angesehen worden (vgl. Urteile vom 24. November 1986 9063/80 --Gillow/ Großbritannien--, Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte 3, 306, Rz 69, und vom 10. Mai 2007 76680/01 --A.S./Deutschland--, juris, Rz 107 ff.). Das gilt nicht nur für Berufungs- oder Revisionsverfahren, sondern auch für den Vertretungszwang in einem --wie im Streitfall gegebenen-- erstinstanzlichen Verfahren (vgl. die bei Frowein/ Peukert, a.a.O., Art. 6 Rz 65 in Fußnote 191 zitierte EGMR-Rechtsprechung).
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b) Der Vertretungszwang ist verfassungsgemäß. Er verstößt nicht gegen die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG), da die Anrufung des BFH dadurch weder unzumutbar noch in sachlich nicht zu rechtfertigender Weise erschwert wird (vgl. jüngst BFH-Beschluss in BFH/NV 2012, 759, m.w.N., sowie Beschluss des Bundesverfassungsgerichts --BVerfG-- vom 11. Oktober 1976 1 BvR 373/76, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung --HFR-- 1977, 33). Auch wird der Kläger durch § 62 Abs. 4 FGO nicht in unzulässiger Weise in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG eingeschränkt, da der Vertretungszwang der Funktionsfähigkeit des BFH sowie dem Schutz des Steuerpflichtigen dient (ständige BFH-Rechtsprechung, vgl. u.a. BFH-Beschluss in BFH/NV 2012, 759, m.w.N.; siehe auch oben unter II.2.a bb). § 62 Abs. 4 FGO verletzt ebenfalls nicht den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG), denn der Vertretungszwang erweist sich aufgrund des mit ihm verbundenen Entlastungszwecks "als nicht sachlich ungerechtfertigt" (BVerfG-Beschluss vom 20. August 1992 2 BvR 1000/92, HFR 1992, 729 zur Vorgängervorschrift des Art. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs; BFH-Beschlüsse in BFH/NV 2012, 759, und vom 12. November 2008 X B 203/08, Zeitschrift für Steuern und Recht 2009, R44).
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c) Nach ständiger Rechtsprechung des BFH führt § 62 Abs. 4 FGO auch zu keinem Verstoß gegen Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Danach kann sich jede Person beraten, verteidigen und vertreten lassen. Mit dieser Bestimmung wird dem Einzelnen das Recht eingeräumt, sich vor Gericht vertreten zu lassen. Das Recht, sich beraten, verteidigen und vertreten zu lassen, nimmt den Mitgliedstaaten jedoch nicht die Möglichkeit, aus verfahrensökonomischen Gründen vor bestimmten Gerichten einen Vertretungszwang vorzusehen (siehe BFH-Beschlüsse vom 22. Juli 2010 V S 8/10, BFH/NV 2010, 2095, und in BFH/NV 2012, 759).
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