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BFH 19.04.2012 - III R 85/11
BFH 19.04.2012 - III R 85/11 - (Verletzung von Zuständigkeitsregeln in Zusammenhang mit einer Ermessensentscheidung - Rechtsfolgen bei Übertragung der Zuständigkeit nach § 17 Abs. 2 Satz 3 FVG - Nicht revisibles Landesrecht - Formelle Beschwer)
Normen
§ 17 Abs 1 FVG, § 17 Abs 2 S 3 FVG, § 127 AO, § 227 AO, § 2 FAZUstV BE 2007, § 126 Abs 1 FGO, § 120 FGO, § 5 AO
Vorinstanz
vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg, 10. Mai 2011, Az: 5 K 5403/07, Urteil
Leitsatz
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1. NV: Da § 127 AO bei einer Verletzung der sachlichen Zuständigkeit generell bzw. bei einer Verletzung der örtlichen Zuständigkeit im Rahmen einer Ermessensentscheidung grundsätzlich nicht anwendbar ist, kann ein Streit um die Zuständigkeit für eine Erlassentscheidung nicht dahinstehen .
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2. NV: Die Frage, ob einem FA aufgrund einer von der Landesregierung erlassenen Zuständigkeitsverordnung in einem bestimmten Bereich die sachliche Zuständigkeit nach § 17 Abs. 2 Satz 3 FVG übertragen wurde, betrifft nichtrevisibles Landesrecht; die Beantwortung ist damit Sache des FG .
Tatbestand
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I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) lebt mittlerweile in Frankreich und ist in Deutschland seit dem 1. Januar 2006 nur noch beschränkt steuerpflichtig. Während der Zeit seiner unbeschränkten Steuerpflicht wurde der Kläger steuerlich bei dem Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt --FA--) geführt.
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Mit Schreiben vom 25. April 2007 beantragte der Kläger beim FA den Erlass von rückständigen Steuern und steuerlichen Nebenleistungen, soweit diese einen Betrag von 20.000 € überstiegen. Das FA lehnte den Erlassantrag wegen fehlender sachlicher und persönlicher Billigkeit ab. Der Einspruch blieb erfolglos. Im Klageverfahren machte der Kläger u.a. geltend, mittlerweile sei das FA X örtlich für ihn zuständig, so dass der Ablehnungsbescheid und die Einspruchsentscheidung des FA bereits aus diesem Grund aufzuheben seien.
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Das Finanzgericht (FG) wies die Klage als unbegründet ab. Zur Begründung führte es u.a. aus, im Hinblick auf § 127 der Abgabenordnung (AO) mache der Kläger ohne Erfolg geltend, dass das FA für die Entscheidung örtlich nicht mehr zuständig gewesen sei. Da die Voraussetzungen des § 227 erster Halbsatz AO nicht erfüllt seien, habe keine andere Entscheidung in der Sache getroffen werden können.
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Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts.
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Der Kläger beantragt, das FG-Urteil sowie die Einspruchsentscheidung aufzuheben und das FA zu verpflichten, den Einspruch dem FA X zur Entscheidung vorzulegen.
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Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
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Es trägt vor, im Land Berlin sei das FA X für die Besteuerung der beschränkt steuerpflichtigen natürlichen Personen zuständig. Dies gelte allerdings nur für die Zeit der beschränkten Steuerpflicht. In Fällen des Wechsels von der unbeschränkten zur beschränkten Steuerpflicht bleibe das bisher zuständige FA für die Veranlagungszeiträume, in denen ausschließlich eine unbeschränkte Steuerpflicht bestanden habe, weiter zuständig.
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Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
Entscheidungsgründe
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II. 1. Die Revision ist begründet, soweit der Kläger beantragt hat, das angefochtene FG-Urteil und die Einspruchsentscheidung aufzuheben. Sie führt insoweit zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der nicht spruchreifen Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO).
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Das FG hat sich zu Unrecht nicht mit der Frage der --örtlichen und sachlichen-- Zuständigkeit des FA für die Entscheidung über den von dem Kläger gestellten Erlassantrag auseinandergesetzt.
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a) Zwar kann --wie auch das FG ausgeführt hat-- die Aufhebung eines Verwaltungsakts, der nicht nach § 125 AO nichtig ist, nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können (§ 127 AO). Die Vorschrift bezieht sich jedoch nur auf gebundene Verwaltungsakte. Bei Ermessensentscheidungen kann dagegen grundsätzlich nicht angenommen werden, dass keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 15. Oktober 1998 V R 77/97, BFH/NV 1999, 585, m.w.N.).
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Um eine derartige Ermessensentscheidung handelt es sich nach der ständigen Rechtsprechung des BFH bei der Entscheidung über einen Billigkeitserlass nach § 227 AO (vgl. grundlegend den Beschluss des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Oktober 1971 Gms-OGB 3/70, BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603; BFH-Urteil vom 7. Mai 1981 VII R 64/79, BFHE 133, 262, BStBl II 1981, 608; a.A. Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 227 AO Rz 20 ff., der die Unbilligkeit der Einziehung als gerichtlich in vollem Umfang überprüfbaren unbestimmten Gesetzesbegriff qualifiziert).
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b) Von vornherein nicht anwendbar ist § 127 AO im Falle der Verletzung der sachlichen Zuständigkeit. Ein solcher Verfahrensfehler ist stets beachtlich (vgl. BFH-Urteil vom 21. April 1993 X R 112/91, BFHE 171, 15, BStBl II 1993, 649, unter B.II.2.d, m.w.N.).
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c) Zwischen den Beteiligten ist indes streitig, ob der durch den Wegzug des Klägers ausgelöste Übergang von der unbeschränkten zur beschränkten Steuerpflicht zu einem --wie der Kläger meint-- Wechsel der örtlichen Zuständigkeit oder --worauf sich das FA beruft-- zu einer neu begründeten sachlichen Zuständigkeit des FA X unter gleichzeitig fortbestehender (örtlicher und sachlicher) Zuständigkeit des FA für die noch nicht vollständig abgewickelten Veranlagungszeiträume der unbeschränkten Steuerpflicht geführt hat.
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aa) Die sachliche Zuständigkeit der Finanzbehörden richtet sich, soweit nichts anderes bestimmt ist, gemäß § 16 AO nach dem Gesetz über die Finanzverwaltung (FVG).
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Grundsätzlich ist das einzelne FA in seinem nach § 17 Abs. 1 FVG bestimmten Bezirk für die Verwaltung aller durch das Bundesland verwalteten Steuern zuständig (Seer in Tipke/Kruse, a.a.O., § 17 FVG Rz 5). Nach § 17 Abs. 2 Satz 3 FVG können indes durch Rechtsverordnung einem FA Zuständigkeiten für die Bezirke mehrerer FÄ übertragen werden, soweit es sich um Aufgaben der Finanzverwaltung handelt und dadurch der Vollzug der Aufgaben verbessert oder erleichtert wird. Dieses FA wird damit für die übertragene Aufgabe sachlich --und in seinem Bezirk zugleich örtlich-- zuständig (vgl. BFH-Urteil vom 26. März 1991 IX R 39/88, BFHE 163, 514, BStBl II 1991, 439; Schmieszek in Hübschmann/Hepp/ Spitaler, § 17 FVG Rz 14, 17 und 30).
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bb) Von dieser Ermächtigung hat die Senatsverwaltung für Finanzen durch die Verordnung über besondere Zuständigkeitsregelungen im Bereich der Finanzverwaltung des Landes Berlin (Finanzämter-Zuständigkeitsverordnung --FÄZustVO--) vom 3. Dezember 2003 in der zum 1. Juli 2004 geänderten Fassung vom 2. Juni 2004 (Gesetz- und Verordnungsblatt für Berlin --GVBl Bln-- 2003, 594, GVBl Bln 2004, 241) und ersetzt durch die FÄZustVO vom 13. September 2007 (GVBl Bln 2007, 322, GVBl Bln 2010, 259) Gebrauch gemacht. Nach § 2 FÄZustVO i.V.m. Nr. 5 der Anlagen ist dem FA X die (sachliche) Zuständigkeit für die Besteuerung der beschränkt steuerpflichtigen natürlichen Personen für den Bereich aller Berliner FÄ übertragen.
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cc) Auf diese Übertragung (nur) der sachlichen Zuständigkeit auf das FA X beruft sich das FA. Zugleich schließt es hieraus, dass es für die Veranlagungszeiträume vor dem Eintritt der beschränkten Steuerpflicht weiterhin für die Besteuerung des Klägers und damit auch für die Entscheidung über den Erlass der aus dieser Zeit herrührenden Steuern und steuerlichen Nebenleistungen zuständig geblieben ist.
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d) Die Prüfung, ob die Interpretation der FÄZustVO durch das FA zutreffend ist --und es demzufolge zu Recht als die örtlich und sachlich zuständige Behörde über den Erlassantrag des Klägers entschieden hätte--, ist dem erkennenden Senat jedoch verwehrt. Insoweit handelt es sich um nichtrevisibles Landesrecht (vgl. BFH-Beschluss vom 2. März 1982 VII B 148/81, BFHE 135, 169, BStBl II 1982, 327; BFH-Urteile in BFHE 163, 514, BStBl II 1991, 439; vom 11. September 1991 XI R 16/90, BFHE 165, 466, BStBl II 1992, 132). Die Feststellung nichtrevisiblen Rechts ist grundsätzlich Sache des FG (BFH-Urteil in BFHE 163, 514, BStBl II 1991, 439, m.w.N.). Dieses wird im zweiten Rechtsgang deshalb die Auswirkungen des Wegzugs des Klägers auf die --sachlichen und örtlichen-- Zuständigkeiten der FÄ Y und X insbesondere anhand der FÄZustVO zu würdigen haben.
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2. Soweit der Kläger im Revisionsverfahren erstmals begehrt, das FA zu verpflichten, seinen Einspruch dem FA X zur Entscheidung vorzulegen, ist die Revision unzulässig (§ 126 Abs. 1 FGO), da eine Erweiterung des Klageantrags im Revisionsverfahren nicht zulässig ist (§ 123 FGO).
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Mit seiner Klage hatte der Kläger vor dem FG lediglich die Aufhebung der von dem FA erlassenen Verwaltungsakte begehrt. Hierüber hat das FG entschieden. Über das erstmals im Revisionsverfahren durch Erweiterung des Klageantrags erhobene Begehren ist gerichtlich dagegen nicht entschieden. Es fehlt insoweit an einem Gegenstand der revisionsrechtlichen Nachprüfung (vgl. BFH-Urteil vom 1. Juli 1987 I R 297/83, BFH/NV 1988, 673) und damit an der erforderlichen formellen Beschwer (Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 120 Rz 56, m.w.N.). Letztere als Zulässigkeitsvoraussetzung einer Revision ist nur gegeben, soweit das FG dem Klagebegehren nicht voll entsprochen oder über dieses nicht befunden hat (vgl. BFH-Urteil vom 3. Juni 1976 IV R 236/71, BFHE 120, 348, BStBl II 1977, 62).
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