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BFH 24.02.2010 - III R 100/07
BFH 24.02.2010 - III R 100/07 - (Kindergeld: Voraussetzungen für die Korrektur einer bestandskräftigen Prognoseentscheidung nach § 70 Abs. 4 EStG)
Normen
§ 32 Abs 4 S 2 EStG 2002, § 70 Abs 4 EStG 2002
Vorinstanz
vorgehend FG Köln, 3. September 2007, Az: 1 K 1007/06, Urteil
Leitsatz
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1. NV: Hat die Familienkasse einen Kindergeldantrag bestandskräftig abgelehnt, weil die voraussichtlichen Einkünfte und Bezüge des Kindes den maßgeblichen Grenzbetrag überschritten, kann diese sog. Prognoseentscheidung nach § 70 Abs. 4 EStG nur korrigiert werden, wenn nachträglich bekannt wird, dass die tatsächlichen Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag unterschreiten. Eine Prognoseentscheidung, die allein deshalb rechtswidrig ist, weil die Familienkasse aufgrund fehlerhafter Auslegung der Begriffe "Einkünfte und Bezüge" die Sozialversicherungsbeiträge des Kindes nicht von den Einkünften abgezogen hat, ist nicht nach § 70 Abs. 4 EStG änderbar.
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2. NV: Sind die tatsächlichen Einkünfte und Bezüge niedriger als in der Prognoseentscheidung angenommen, kommt eine Korrektur der Prognoseentscheidung nach § 70 Abs. 4 EStG nur in Betracht, wenn die Einkünfte und Bezüge allein aufgrund der geänderten tatsächlichen Beträge -z.B. wegen geringerer Einnahmen oder höherer Werbungskosten als in der Prognoseentscheidung angenommen- unter dem Jahresgrenzbetrag liegen.
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3. NV: Nur wenn die ablehnende Prognoseentscheidung rechtmäßig war, weil der Jahresgrenzbetrag auch bei Abzug der Sozialversicherungsbeiträge überschritten gewesen wäre, kann die Prognoseentscheidung auch dann korrigiert werden, wenn die geänderten tatsächlichen Einkünfte und Bezüge nur im Zusammenwirken mit einer rechtmäßigen Auslegung der Begriffe "Einkünfte und Bezüge" (Abzug der Sozialversicherungsbeiträge) den Jahresgrenzbetrag unterschreiten.
Tatbestand
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I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) hat einen im Jahr 1985 geborenen Sohn (S), der im Streitzeitraum (Januar 2004 bis September 2004) eine Ausbildung absolvierte.
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Mit Bescheid vom 17. September 2004 lehnte die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) den Antrag des Klägers auf Kindergeld für das Jahr 2004 ab, da die Einkünfte und Bezüge des S in diesem Jahr voraussichtlich den maßgeblichen Grenzbetrag von 7.680 € (§ 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes --EStG--) überstiegen. Die Familienkasse ging dabei von Einkünften in Höhe von 7.881,85 € aus (Bruttoarbeitslohn in Höhe von 9.144,85 € abzüglich Werbungskosten in Höhe von 1.263 €). Dieser Bescheid wurde nicht angefochten.
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Als der Kläger im Januar 2005 erneut Kindergeld für das Kalenderjahr 2004 beantragte, gab er die Einnahmen des S mit insgesamt 9.586,75 € und die Werbungskosten mit insgesamt 2.436,29 € an. Mit Bescheid vom 30. September 2005 lehnte die Familienkasse eine Änderung des Bescheids vom 17. September 2004 --mit Ausnahme der Monate von Oktober 2004 bis einschließlich Dezember 2004-- unter Hinweis auf dessen Bestandskraft ab. Den hiergegen eingelegten Einspruch wies die Familienkasse in ihrer Einspruchsentscheidung vom 1. Februar 2006 zurück mit der Begründung, der maßgebliche Grenzbetrag sei überschritten. Dabei ging die Familienkasse von Einkünften in Höhe von 7.999,81 € aus (Einnahmen des S in Höhe von 9.655,31 € abzüglich Werbungskosten in Höhe von 1.655,50 €). Die Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung in Höhe von 2.002,59 € ließ sie bei dieser Berechnung außer Ansatz.
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Das Finanzgericht (FG) gab der auf Festsetzung von Kindergeld für den Zeitraum ab Januar 2004 bis September 2004 gerichteten Verpflichtungsklage mit Urteil vom 3. September 2007 1 K 1007/06 (Entscheidungen der Finanzgerichte 2008, 797) statt. Es entschied, der Anwendungsbereich des § 70 Abs. 4 EStG sei eröffnet, weil sich tatsächliche Änderungen hinsichtlich der Einnahmen und der Werbungskosten des S im Vergleich zu den prognostizierten Beträgen ergeben hätten. Die von der Familienkasse im Rahmen der Einspruchsentscheidung ermittelten Einkünfte und Bezüge des S seien um die Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung zu mindern mit der Folge, dass der Jahresgrenzbetrag von 7.680 € unterschritten sei.
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Mit ihrer Revision rügt die Familienkasse eine Verletzung des § 70 Abs. 4 EStG.
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Sie beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
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II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
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1. Das FG ist zutreffend davon ausgegangen, dass der Bescheid vom 17. September 2004, mit dem die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung für die Monate Januar 2004 bis September 2004 ablehnte, bestandskräftig geworden ist.
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Nach § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG besteht für ein volljähriges Kind kein Anspruch auf Kindergeld, wenn das Kind Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, von mehr als 7.680 € im Kalenderjahr (2004) hat.
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Die Familienkasse hat mit dem Bescheid vom 17. September 2004 die Kindergeldfestsetzung ab Januar 2004 abgelehnt, weil nach ihrer Berechnung die Einkünfte und Bezüge des Kindes im Kalenderjahr 2004 den Jahresgrenzbetrag voraussichtlich übersteigen würden. Dieser Bescheid ist bestandskräftig geworden. Die darin getroffene Regelung über den Kindergeldanspruch ist bindend bis zum Ende des Monats der Bekanntgabe dieses Bescheids, also bis Ende September 2004 (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs vom 25. Juli 2001 VI R 78/98, BFHE 196, 253, BStBl II 2002, 88).
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Die Bestandskraft des Bescheids vom 17. September 2004 wird durch den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 11. Januar 2005 2 BvR 167/02 (BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260) nicht berührt. Das BVerfG hatte entschieden, die Einbeziehung von Sozialversicherungsbeiträgen des Kindes in die Bemessungsgröße für den Jahresgrenzbetrag gemäß § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG verstoße gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG). Nach § 79 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) bleiben nicht mehr anfechtbare Entscheidungen, die auf einer gemäß § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm beruhen, grundsätzlich unberührt. Dies gilt analog, wenn das BVerfG --wie im Streitfall-- lediglich die Auslegung einer Norm für unvereinbar mit dem GG erklärt hat (Senatsurteil vom 28. Juni 2006 III R 13/06, BFHE 214, 287, BStBl II 2007, 714, m.w.N.).
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2. Ob der Ablehnungsbescheid nach § 70 Abs. 4 EStG geändert werden kann --wie das FG meint--, kann der Senat auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen des FG nicht abschließend entscheiden.
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Nach § 70 Abs. 4 EStG ist eine Kindergeldfestsetzung aufzuheben oder zu ändern, wenn nachträglich bekannt wird, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Jahresgrenzbetrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG über- oder unterschreiten. Unter dem Begriff Kindergeldfestsetzung ist dabei auch ein Bescheid zu verstehen, mit dem ein Antrag auf Kindergeld abgelehnt wird (Senatsurteil vom 10. Mai 2007 III R 103/06, BFHE 218, 147, BStBl II 2008, 549, m.w.N.).
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Entgegen der Auffassung des FG ist der Anwendungsbereich des § 70 Abs. 4 EStG nicht schon dann eröffnet, wenn sich die tatsächlichen Einkünfte und Bezüge --z.B. wegen geringerer Einnahmen oder höherer Werbungskosten als in der Prognoseentscheidung angenommen-- geändert haben. War die Prognoseentscheidung --wie im Streitfall-- rechtswidrig, weil die Einkünfte und Bezüge bei Berücksichtigung der Sozialversicherungsbeiträge den Jahresgrenzbetrag unterschritten hätten, kann ein Ablehnungsbescheid nach § 70 Abs. 4 EStG nur geändert werden, wenn die Einkünfte und Bezüge allein aufgrund der geänderten tatsächlichen Beträge unter dem Jahresgrenzbetrag liegen. Andernfalls würde ein materieller Fehler der Familienkasse (Nichtberücksichtigung der Sozialversicherungsbeiträge) rückwirkend berichtigt. Das widerspräche jedoch dem Zweck des § 70 Abs. 4 EStG und der gesetzgeberischen Wertung in § 70 Abs. 3 Satz 2 EStG (Senatsurteil vom 28. November 2006 III R 6/06, BFHE 216, 138, BStBl II 2007, 717; Senatsbeschluss vom 30. September 2008 III B 206/07, BFH/NV 2009, 20, jeweils m.w.N.).
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Bei einer unzutreffenden Prognose über die Höhe der Einkünfte und Bezüge des Kindes sind für die Anwendung des § 70 Abs. 4 EStG folgende Alternativen zu unterscheiden:
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- Beruht das Überschreiten des Jahresgrenzbetrages allein auf einer rechtsfehlerhaften Auslegung der Begriffe "Einkünfte und Bezüge", ist eine bestandskräftige Prognoseentscheidung nicht nach § 70 Abs. 4 EStG änderbar.
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- Unterschreiten die tatsächlichen Einkünfte und Bezüge auch ohne Abzug der Sozialversicherungsbeiträge den Jahresgrenzbetrag, kann eine ablehnende Prognoseentscheidung in jedem Fall nach § 70 Abs. 4 EStG geändert werden.
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- War die ablehnende Prognoseentscheidung rechtmäßig, weil der Jahresgrenzbetrag auch bei Berücksichtigung der Sozialversicherungsbeiträge überschritten gewesen wäre, kann die Prognoseentscheidung dagegen auch dann korrigiert werden, wenn die geänderten tatsächlichen Einkünfte und Bezüge nur im Zusammenwirken mit einer rechtmäßigen Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG (Abzug der Sozialversicherungsbeiträge) den Jahresgrenzbetrag unterschreiten (Senatsurteil in BFHE 218, 147, BStBl II 2008, 549).
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3. Die von der Familienkasse im Bescheid vom 17. September 2004 prognostizierten Einkünfte und Bezüge des S in Höhe von 7.881,85 € überschritten den maßgeblichen Jahresgrenzbetrag von 7.680 € allein deshalb, weil die Familienkasse die Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von 2.002,59 € nicht abgezogen hatte. Der Ablehnungsbescheid könnte daher nur dann nach § 70 Abs. 4 EStG geändert werden, wenn die tatsächlichen Einkünfte und Bezüge --ohne Berücksichtigung der Sozialversicherungsbeiträge-- den Jahresgrenzbetrag unterschreiten würden (Alternative 2).
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Das FG hat --aus seiner Sicht zu Recht-- bisher keine ausreichenden Feststellungen zur genauen Höhe der nachträglich bekannt gewordenen Einkünfte und Bezüge des S getroffen. Auf der Grundlage der überschlägigen Berechnung im FG-Urteil würden sie sich --ohne Abzug der Sozialversicherungsbeiträge-- auf 7.999,81 € belaufen und damit den Jahresgrenzbetrag um 319,18 € übersteigen. Bei den hierbei abgezogenen Werbungskosten in Höhe von 1.655,50 € handelt es sich nach den Feststellungen im finanzgerichtlichen Urteil jedoch nur um einen Mindestbetrag. Der Kläger hatte bereits im Verfahren vor dem FG weitere Werbungskosten in einer 319,18 € übersteigenden Höhe geltend gemacht.
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Für die Entscheidung, ob § 70 Abs. 4 EStG anwendbar ist, kommt es daher auf die genaue Höhe der dem S entstandenen Werbungskosten an. Diese Feststellungen wird das FG nachholen. Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass der Kläger im zweiten Rechtsgang beim FG --anders als im Revisionsverfahren-- neue Tatsachen auch hinsichtlich bisher im Klageverfahren nicht geltend gemachter Werbungskosten vorbringen kann.
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