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BVerfG 27.05.2016 - 1 BvR 345/16
BVerfG 27.05.2016 - 1 BvR 345/16 - Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung des Willkürverbots durch Nichtzulassung der Berufung im Zivilprozess entgegen § 511 Abs 4 S 1 Nr 1 Alt 3 ZPO - Gegenstandswertfestsetzung
Normen
Art 3 Abs 1 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 511 Abs 2 Nr 2 ZPO, § 511 Abs 4 S 1 Nr 1 Alt 3 ZPO
Vorinstanz
vorgehend AG Köln, 26. Januar 2016, Az: 270 C 207/14, Beschluss
vorgehend AG Köln, 30. November 2015, Az: 207 C 207/14, Urteil
Tenor
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1. Das Urteil des Amtsgerichts Köln vom 30. November 2015 - 270 C 207/14 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes, soweit die Berufung nicht zugelassen worden ist. Es wird insoweit aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht Köln zurückverwiesen. Damit wird der Beschluss des Amtsgerichts Köln vom 26. Januar 2016 - 270 C 207/14 - gegenstandslos.
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2. Das Land Nordrhein-Westfalen hat die notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin zu erstatten.
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3. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 10.000 €(in Worten: zehntausend Euro) festgesetzt.
Gründe
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I.
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Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Nichtzulassung der Berufung in einem Zivilrechtsstreit.
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1. Die Beschwerdeführerin, Klägerin des Ausgangsverfahrens, ist ein inkassoberechtigtes Factoringunternehmen, welches unter anderem auf der Grundlage einer von ihr gestellten Abtretungserklärung an sie abgetretene Schadensersatzansprüche auf Erstattung von Sachverständigenkosten nach Verkehrsunfällen gegen Haftpflichtversicherer außergerichtlich und gerichtlich geltend macht. Sie betreibt ihr Geschäft bundesweit und führt jährlich eine vierstellige Anzahl an Prozessen.
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a) Die Beschwerdeführerin begehrte im Ausgangsverfahren aus abgetretenem Recht die Erstattung von Sachverständigenkosten in Höhe von 378,71 € aus einem Verkehrsunfall von der Beklagten des Ausgangsverfahrens. Diese haftet als Haftpflichtversicherung des Unfallverursachers unstreitig zu 100 % für die durch den Verkehrsunfall entstandenen Schäden und überwies die Klageforderung bereits vor Anhängigkeit der Klage direkt an den Sachverständigen.
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Das Amtsgericht wies die Klage ab, da der Beschwerdeführerin die Aktivlegitimation fehle. Bereits die vorangegangene Abtretung der Geschädigten an den Sachverständigen sei zu unbestimmt und daher unwirksam. In der Abtretungserklärung seien als abgetretene Forderung auch "Nebenkosten" aufgeführt, was jedoch weder hinreichend bestimmt noch hinreichend bestimmbar sei. Die entgegenstehende Rechtsprechung einer Berufungskammer des Landgerichts Köln (Urteil vom 23. April 2015 - 6 S 199/14 -), wonach die (gleichlautende) Abtretungserklärung "hinreichend" bestimmbar und folglich wirksam sei, überzeuge nicht. Das Landgericht gehe der aufgeworfenen Frage, was unter der Position "Nebenkosten" überhaupt zu verstehen sei, nicht nach.
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Die Berufung sei nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 511 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 ZPO nicht vorlägen. Schon die genannte Entscheidung des Landgerichts sei geeignet, eine einheitliche Rechtsprechung herbeizuführen, sodass weitere Entscheidungen des Berufungsgerichts nicht "erfordert" im Sinne des § 511 ZPO seien. Das tatsächliche Erreichen einer einheitlichen Rechtsprechung sei durch § 511 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 ZPO nicht geschützt. Vielmehr blieben die Vordergerichte in ihrer Entscheidung trotz einer abweichenden Entscheidung des Berufungsgerichts frei. Eine andere Beurteilung sei auch nicht durch den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Mai 2004 (1 BvR 2682/03) veranlasst. Auch nach dieser Entscheidung - soweit man ihr folgen wolle - würden lediglich ansonsten drohende "schwer erträgliche Unterschiede in der Rechtsprechung" die Zulassung der Berufung gebieten, die hier jedoch nicht ersichtlich seien.
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b) Mit ihrer vom Amtsgericht durch Beschluss zurückgewiesenen Anhörungsrüge wies die Beschwerdeführerin darauf hin, dass eine weitere Berufungskammer des Landgerichts Köln (Urteil vom 1. Dezember 2015 - 11 S 46/15 -) die Wirksamkeit der von ihr verwandten Abtretungserklärung bestätigt habe.
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2. Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen die Nichtzulassung der Berufung durch die Entscheidungen des Amtsgerichts. Sie rügt eine Verletzung des Willkürverbots aus Art. 3 Abs. 1 GG, ihrer Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG und ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG und führt dies näher aus.
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3. Die Verfassungsbeschwerde ist den Äußerungsberechtigten zugestellt worden. Das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen hat von einer Stellungnahme abgesehen. Die Beklagte des Ausgangsverfahrens vertritt die Ansicht, die Nichtzulassung der Berufung sei weder willkürlich im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG noch verstoße sie gegen Art. 103 Abs. 1 GG und führt dies näher aus. Die Akte des Ausgangsverfahrens lag der Kammer vor.
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II.
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1. Die Kammer nimmt die zulässige Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts der Beschwerdeführerin aus Art. 3 Abs. 1 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchst. b BVerfGG; vgl. BVerfGE 90, 22 25>). Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor. Das Bundesverfassungsgericht hat die hier maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden. Die Verfassungsbeschwerde ist danach offensichtlich begründet. Das angegriffene Urteil des Amtsgerichts verletzt die Beschwerdeführerin jedenfalls in ihrem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG, soweit in ihm die Berufung nicht zugelassen worden ist.
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a) Auslegung und Anwendung des Gesetzes sind Aufgabe der Fachgerichte und werden vom Bundesverfassungsgericht nur eingeschränkt, namentlich auf Verstöße gegen den allgemeinen Gleichheitssatz wegen Missachtung des Willkürverbots, überprüft. Gegen den Gleichheitssatz wird nicht bereits dann verstoßen, wenn die angegriffene Rechtsanwendung oder das dazu eingeschlagene Verfahren des Fachgerichts fehlerhaft sind. Hinzukommen muss vielmehr, dass Rechtsanwendung oder Verfahren unter keinem denkbaren Aspekt mehr rechtlich vertretbar sind und sich daher der Schluss aufdrängt, dass die Entscheidung auf sachfremden und damit willkürlichen Erwägungen beruht; dabei enthält die Feststellung von Willkür keinen subjektiven Schuldvorwurf (stRspr; vgl. nur BVerfGE 83, 82 84>). Es muss sich um eine krasse Fehlentscheidung handeln (vgl. BVerfGE 89, 1 14>).
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b) Nach diesem Maßstab steht die Nichtzulassung der Berufung im angegriffenen Urteil des Amtsgerichts mit Art. 3 Abs. 1 GG nicht im Einklang.
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Die Beschwerdeführerin beantragte vor Erlass des Urteils, die Berufung im Fall der Abweichung von der Rechtsprechung des Landgerichts zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen (§ 511 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 Alternative 3 ZPO). Das Amtsgericht hat bei seiner Entscheidung, dem Ansinnen der Beschwerdeführerin nicht zu entsprechen, diesen Zulassungsgrund mit der nicht haltbaren Begründung verneint, schon das - in anderer Sache zu einer insoweit gleichlautenden Abtretungserklärung mit gegenläufiger Würdigung ergangene - Berufungsurteil des übergeordneten Landgerichts Köln (Urteil vom 23. April 2015 - 6 S 199/14 -) sei geeignet, eine einheitliche Rechtsprechung herbeizuführen, sodass weitere Entscheidungen des Berufungsgerichts nicht "erfordert" im Sinne des § 511 ZPO seien. Das tatsächliche Erreichen einer einheitlichen Rechtsprechung sei durch § 511 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 ZPO nicht geschützt.
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Damit hat das Amtsgericht den Zulassungsgrund des § 511 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 Alternative 3 ZPO übergangen. Dieser war im Ausgangsverfahren einschlägig. Danach ist die Berufung durch das Gericht des ersten Rechtszugs zuzulassen, wenn die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert. Damit soll ausweislich der Gesetzesmaterialien auch vermieden werden, dass im Zuständigkeitsbereich eines Berufungsgerichts schwer erträgliche Unterschiede in der Rechtsprechung entstehen oder fortbestehen (vgl. BTDrucks 14/4722, S. 93 i.V.m. S. 104; Rimmelspacher, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 4. Aufl. 2012, § 511 Rn. 73). Von solchen Unterschieden ist bei der Abweichung von der Entscheidung eines höherrangigen Gerichts in einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage auszugehen, wenn die Rechtsfrage von allgemeiner Bedeutung ist, weil sie in einer Mehrzahl von Fällen auftreten kann (vgl. BTDrucks 14/4722, S. 93 i.V.m. S. 104; BVerfG, stattgebender Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 26. Mai 2004 - 1 BvR 2682/03 -, juris, Rn. 13; BVerfG, stattgebender Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 26. Mai 2004 - 1 BvR 172/04 -, NJW 2004, S. 2584 2585>; Rimmelspacher, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 4. Aufl. 2012, § 511 Rn. 78; Lemke, in: Prütting/Gehrlein, ZPO, 7. Aufl. 2015, § 511 Rn. 44; Reichold, in: Thomas/Putzo, ZPO, 37. Aufl. 2016, § 511 Rn. 21; Wulf, in: Beck'scher Online-Kommentar ZPO, 20. Edition Stand: 01.03.2016, § 511 Rn. 39).
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Das Amtsgericht hat hinsichtlich der Anforderungen an die Bestimmtheit der von der Beschwerdeführerin verwandten Abtretungserklärung eine Rechtsfrage entschieden, die sich in einer Vielzahl von vergleichbaren Prozessen im Landgerichtsbezirk und damit auch vor dem Amtsgericht stellt, weil nach dem Vortrag der Beschwerdeführerin dort einige ihrer Kunden und zudem verschiedene Versicherer ihren Sitz hätten. Dabei ist das Amtsgericht von der ihm erklärtermaßen bekannten Rechtsprechung des zuständigen Berufungsgerichts abgewichen, was - worauf das Amtsgericht zu Recht verweist - aufgrund der sachlichen Unabhängigkeit des Gerichts (Art. 97 Abs. 1 GG) nicht zu beanstanden ist. Indem das Amtsgericht aber die Berufung trotz Vorliegens der Voraussetzungen des § 511 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 Alternative 3 ZPO nicht zugelassen hat, hat es damit die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung im Zuständigkeitsbereich des Berufungsgerichts vereitelt.
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Die Nichtzulassung der Berufung mit der vom Amtsgericht gegebenen Begründung erweist sich hier nicht nur als Rechtsanwendungsfehler im Einzelfall, sondern als grobe Verkennung, die zugleich auf eine generelle Vernachlässigung des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz hindeutet und auf einem geradezu leichtfertigen Umgang mit grundrechtlich geschützten Positionen beruht (vgl. BVerfGE 90, 22 25>). Überdies ist nicht etwa deutlich abzusehen, dass die Beschwerdeführerin auch im Falle einer Zurückverweisung der Sache an das Ausgangsgericht im Ergebnis keinen Erfolg haben würde (vgl. BVerfGE 90, 22 26>). Etwas anderes ergibt sich nicht aus dem von der Beklagten des Ausgangsverfahrens zitierten Urteil des Bundesgerichtshofs (vom 21. Oktober 2014 - VI ZR 507/13 -, juris), das sich zu einer Forderungsabtretung eines Sachverständigen an ein Factoringunternehmen verhält, die aus ganz anderen Gründen unwirksam war. Auch ist die Klage entgegen der Ansicht der Beklagten bei einer Aufhebung des Urteils und einer gegebenenfalls erneuten Verhandlung und Entscheidung in der Sache keineswegs zwingend wegen ihrer Zahlung an den Sachverständigen abzuweisen. Gegenstand des Rechtsstreits ist gerade die Rechtsfrage, ob die Beschwerdeführerin aufgrund der Kettenabtretung alleinige Forderungsinhaberin ist, mithin die Beklagte allein an sie mit Erfüllungswirkung leisten kann.
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2. Danach kann offenbleiben, ob auch bezüglich der von der Beschwerdeführerin als verletzt gerügten Rechte aus Art. 12 Abs. 1 GG sowie Art. 103 Abs. 1 GG die Annahmevoraussetzungen vorliegen.
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III.
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1. Da die Nichtzulassung der Berufung durch das Amtsgericht auf dem festgestellten Verfassungsverstoß beruht, ist das angegriffene Urteil insoweit gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben und die Sache im Umfang der Aufhebung an das Amtsgericht zurückzuverweisen. Der ebenfalls angegriffene Beschluss des Amtsgerichts zu der Anhörungsrüge wird damit gegenstandslos.
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2. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG und den Grundsätzen für die Festsetzung des Gegenstandswerts im verfassungsgerichtlichen Verfahren (vgl. BVerfGE 79, 365 366 ff.>; BVerfGK 20, 336 337 ff.>).
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