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BFH 28.02.2018 - V B 145/16
BFH 28.02.2018 - V B 145/16 - Zum Umfang der Sachaufklärungspflicht bei Versicherungsvermittlung und zum Rügeverlust
Normen
§ 4 Nr 8 Buchst e UStG 2005, § 4 Nr 8 Buchst f UStG 2005, § 4 Nr 11 UStG 2005, § 76 Abs 1 FGO, § 96 Abs 1 FGO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO, § 116 Abs 6 FGO, § 155 FGO, § 295 ZPO, Art 13 Teil B Buchst d Nr 5 EWGRL 388/77, UStG VZ 2006, UStG VZ 2007, UStG VZ 2008
Vorinstanz
vorgehend Thüringer Finanzgericht, 8. September 2016, Az: 1 K 669/15, Urteil
Leitsatz
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1. NV: Drängen sich dem FG nach dessen eigenen Feststellungen weitere Aufklärungsmaßnahmen auf (hier zum Umfang des unmittelbaren Kundenkontaktes und zum Einfluss auf einzelne Vertragsabschlüsse im Rahmen einer Versicherungsvermittlung), so gebietet die Aufklärungspflicht, diese auch durchzuführen.
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2. NV: Es tritt kein Rügeverlust ein, wenn das FG eine konkrete Möglichkeit, den von seinem Rechtsstandpunkt aus entscheidungserheblichen Sachverhalt aufzuklären, nicht genutzt hat, obwohl sich ihm die Notwendigkeit der weiteren Aufklärung auch ohne Antrag nach Lage der Akten und dem Ergebnis der Verhandlung hätte aufdrängen müssen.
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3. NV: Es tritt auch kein Rügeverlust ein, wenn sich aus der Urteilsbegründung ergibt, dass dem FG die Existenz des übergangenen Beweismittels bewusst war.
Tenor
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Auf die Beschwerde des Klägers wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Thüringer Finanzgerichts vom 8. September 2016 1 K 669/15 aufgehoben.
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Die Sache wird an das Thüringer Finanzgericht zurückverwiesen.
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Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.
Gründe
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Die Beschwerde ist begründet. Das angefochtene Urteil wird aufgehoben und der Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Finanzgericht (FG) zurückverwiesen (§ 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung --FGO--), weil es auf einem Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO beruhen kann. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) rügt zu Recht, dass das FG seine Pflicht zur Sachaufklärung (§ 76 Abs. 1 FGO) verletzt hat. Mit der "Sachaufklärungsrüge der Verletzung des formellen Rechts bei der Feststellung des maßgeblichen Lebenssachverhalts" rügt er zudem sinngemäß, dass das FG seine Überzeugung nicht aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnen habe (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO).
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1. Die Sachaufklärungspflicht gemäß § 76 Abs. 1 FGO erfordert, dass das FG Tatsachen und Beweismitteln nachgeht, die sich ihm auf der Grundlage des materiell-rechtlichen Standpunkts des FG in Anbetracht der Umstände des Einzelfalls hätten aufdrängen müssen (z.B. Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 3. August 2017 IX B 54/17, BFH/NV 2017, 1449). Es darf substantiierte Beweisanträge, die den entscheidungserheblichen Sachverhalt betreffen, grundsätzlich weder ablehnen noch übergehen. Da die Sachaufklärungspflicht dazu dient, die Spruchreife der Klage herbeizuführen, hat das Gericht jedoch nur das aufzuklären, was aus seiner Sicht entscheidungserheblich ist (z.B. BFH-Beschluss vom 15. Dezember 2016 VI B 50/16, BFH/NV 2017, 598).
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2. Nach § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO hat das FG seine Überzeugung nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens zu bilden, also den gesamten konkretisierten Prozessstoff zugrunde zu legen. Insbesondere muss das FG den Inhalt der vorgelegten Akten und das Vorbringen der Beteiligten (quantitativ) vollständig und (qualitativ) einwandfrei berücksichtigen (vgl. BFH-Beschlüsse vom 22. März 2011 X B 7/11, BFH/NV 2011, 1005; vom 14. Dezember 2006 VIII B 108/05, BFH/NV 2007, 741). § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO ist allerdings nur verletzt, wenn das FG seiner Entscheidung einen Sachverhalt zugrunde legt, der dem schriftlich festgehaltenen Vorbringen der Beteiligten nicht entspricht oder wenn eine nach den Akten klar feststehende Tatsache unberücksichtigt geblieben ist. Ein Verstoß gegen § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO ist ein Verfahrensfehler i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO (vgl. BFH-Beschlüsse in BFH/NV 2011, 1005; vom 21. Februar 2006 II B 106/05, BFH/NV 2006, 975; vom 7. April 2005 IX B 194/03, BFH/NV 2005, 1354).
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3. Im Streitfall liegen derartige Verfahrensverstöße vor, auf denen das angefochtene Urteil des FG beruhen kann.
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a) Die Grundsätze der Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 8 Buchst. f des Umsatzsteuergesetzes (UStG) sind durch die Rechtsprechung geklärt.
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Der im Rahmen der richtlinienkonformen Auslegung von § 4 Nr. 8 Buchst. e und f UStG zu berücksichtigende Begriff der Vermittlung i.S. von Art. 13 Teil B Buchst. d Nr. 5 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern (Richtlinie 77/388/EWG) bezieht sich auf eine Tätigkeit, die von einer Mittelsperson ausgeübt wird, die nicht den Platz einer Partei eines Vertrags über ein Finanzprodukt einnimmt und deren Tätigkeit sich von den typischen vertraglichen Leistungen unterscheidet, die von den Parteien solcher Verträge erbracht werden. Denn die Vermittlungstätigkeit ist eine Dienstleistung, die einer Vertragspartei erbracht und von dieser als eigenständige Mittlertätigkeit vergütet wird. Sie kann u.a. darin bestehen, der Vertragspartei die Gelegenheiten zum Abschluss eines solchen Vertrags nachzuweisen, mit der anderen Partei Kontakt aufzunehmen oder im Namen und für Rechnung des Kunden über die Einzelheiten der gegenseitigen Leistungen zu verhandeln. Zweck dieser Tätigkeit ist es also, das Erforderliche zu tun, damit zwei Parteien einen Vertrag schließen, ohne dass der Vermittler ein Eigeninteresse am Inhalt des Vertrags hat.
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Dagegen führt die Übernahme der mit dem zu vermittelnden Vertrag verbundenen Sacharbeit wie z.B. die Erteilung von Informationen an die andere Partei oder die Annahme und Bearbeitung von Anträgen, die Gegenstand des Vertrags sind, nicht zu einer steuerfreien Vermittlung; der Leistende nimmt dann den Platz des Anbieters ein und handelt nicht als Mittelsperson.
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Auch aus der Freiheit des Organisationsmodells ergibt sich keine über die Vermittlung von Abschlüssen hinausgehende Steuerfreiheit für Vertriebstätigkeiten allgemeiner Art. Zwar kann die Vermittlung in verschiedene Einzeldienstleistungen zerfallen, die dann ihrerseits Vermittlungsleistungen darstellen. Dies gilt jedoch nur, wenn es sich bei der einzelnen Leistung um ein im Großen und Ganzen eigenständiges Ganzes handelt, das die spezifischen und wesentlichen Funktionen der Vermittlung erfüllt (BFH-Urteile vom 14. Mai 2014 XI R 13/11, BFHE 245, 424, BStBl II 2014, 734; vom 30. Oktober 2008 V R 44/07, BFHE 223, 507, BStBl II 2009, 554, jeweils mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union).
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b) Da das FG diese Grundsätze zutreffend seinem Urteil zugrunde gelegt hat, hätte es sich aufdrängen müssen, den Umfang des unmittelbaren Kundenkontaktes des Klägers und seinen Einfluss auf die einzelnen konkreten Vertragsabschlüsse aufzuklären. Nach den Feststellungen des FG war der Kläger nicht nur verpflichtet, seinen Vertriebspartnern potentielle Anleger zuzuführen und sie bei ihren Vermittlungsleistungen zu unterstützen, sondern er sollte u.a.
•
regelmäßig zusammen mit Regionalleitern und/oder Vertriebspartnern potentielle Anleger aufsuchen,
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regelmäßig Kundenveranstaltungen mit Geschäftsführern der R-Direktion als Redner organisieren und
•
die in seinem Postleitzahlengebiet vermittelten Vertragsabschlüsse prüfen.
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Sowohl die Verpflichtung zur Prüfung der Vertragsabschlüsse im Einzelfall, die über die typischerweise mit dem Aufbau und der Aufrechterhaltung eines Strukturvertriebes einhergehenden Tätigkeiten hinausgeht (BFH-Urteil vom 3. August 2017 V R 19/16, BFHE 259, 156, zu § 4 Nr. 11 UStG) als auch die übrigen vom FG festgestellten Verpflichtungen zum unmittelbaren Kundenkontakt sprechen für eine Vermittlungstätigkeit. Damit hat sich das FG nicht auseinandergesetzt. Der Kläger hat zwar seinen in der Klageschrift angekündigten Beweisantrag, dreißig namentlich mit ladungsfähigen Anschriften benannte Zeugen zum Umfang des Kundenkontaktes zu vernehmen, in der mündlichen Verhandlung nicht wiederholt. Angesichts der eigenen Feststellungen des FG zum Kundenkontakt des Klägers hätte sich aber eine weitere Sachaufklärung aufgedrängt. Denn es erschließt sich nicht, wie das FG ohne die vom Kläger angeregte Beweisaufnahme zum Umfang seiner Tätigkeit zu dem Ergebnis gelangt ist, der Kläger habe nur "vertriebsunterstützende Leistungen" erbracht und ihm könne kein Vermittlungserfolg zugesprochen werden (Bl. 24 f. des FG-Urteils).
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4. Der Kläger hat sein Rügerecht nicht nach § 155 FGO i.V.m. § 295 der Zivilprozessordnung (ZPO) verloren.
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a) Zwar ist die Verletzung der aus § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO folgenden Sachaufklärungspflicht ein verzichtbarer Verfahrensmangel (§ 155 FGO i.V.m. § 295 ZPO), bei dem das Rügerecht nicht nur durch eine ausdrückliche oder konkludente Verzichtserklärung gegenüber dem FG verloren geht, sondern auch durch das bloße Unterlassen einer rechtzeitigen Rüge.
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Auch ergibt sich aus dem Protokoll der mündlichen Verhandlung vor dem FG nicht, dass der fachkundig vertretene Kläger seinen schriftsätzlich angekündigten Beweisantrag in der mündlichen Verhandlung wiederholt oder die unterbliebene Ladung der von ihm benannten Zeugen gerügt hätte.
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b) Ein Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht liegt aber trotz unterlassener Rüge vor, wenn das FG --wie hier-- eine konkrete Möglichkeit, den von seinem Rechtsstandpunkt aus entscheidungserheblichen Sachverhalt aufzuklären, nicht genutzt hat, obwohl sich ihm die Notwendigkeit der weiteren Aufklärung auch ohne Antrag nach Lage der Akten und dem Ergebnis der Verhandlung hätte aufdrängen müssen (vgl. u.a. BFH-Beschlüsse vom 17. März 2010 X B 95/09, BFH/NV 2010, 1827; vom 3. April 2007 I B 151, 152/06, BFH/NV 2007, 1671).
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Hinzu kommt, dass das FG begründet hat, weshalb es von der Beweiserhebung abgesehen hat. Denn es hat ausgeführt, es habe keine Veranlassung bestanden, die benannten Personen als Zeugen für eine Vermittlungstätigkeit des Klägers zu vernehmen, weil es sich um einen unzulässigen Ausforschungsbeweis gehandelt hätte. In einem derartigen Fall bedarf es keiner Rüge in der mündlichen Verhandlung, weil aus dem Urteil selbst hervorgeht, dass dem FG die Existenz des übergangenen Beweismittels bewusst war (BFH-Beschlüsse vom 29. Juni 2011 X B 242/10, BFH/NV 2011, 1715; vom 26. November 2008 IX B 122/08, BFH/NV 2009, 600).
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5. Der Senat hält es für sachgerecht, die Vorentscheidung nach § 116 Abs. 6 FGO aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
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6. Von einer weitergehenden Begründung wird gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 FGO abgesehen, der auch für das Verfahren nach § 116 Abs. 6 FGO Anwendung findet (vgl. BFH-Beschluss vom 6. Juni 2007 VIII B 154/06, BFH/NV 2007, 1910).
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7. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.
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