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BFH 10.01.2013 - V R 47/11
BFH 10.01.2013 - V R 47/11 - Sachentscheidung trotz fehlender Sachentscheidungsvoraussetzungen - Anhängigkeit des Einspruchsverfahrens bei Teilabhilfebescheid - Notwendigkeit einer Untätigkeitsrüge
Normen
§ 44 Abs 1 FGO, § 46 Abs 1 S 1 FGO, § 367 AO
Vorinstanz
vorgehend Finanzgericht des Landes Sachsen-Anhalt, 10. November 2011, Az: 5 K 196/11, Urteil
Leitsatz
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NV: Entscheidet das FG in der Sache, obwohl das FA über einen außergerichtlichen Rechtsbehelf nicht vollständig abschließend entschieden hat, so ist das FG-Urteil aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen, damit dieses auf die Erfüllung der Voraussetzungen für eine Sachentscheidung hinwirken kann .
Tatbestand
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I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger), ein Landkreis, beantragte mit Schreiben vom 12. Oktober 2009 beim Beklagten und Revisionsbeklagten (Familienkasse) die Abzweigung von Kindergeld aus dem Kindergeldanspruch der Beigeladenen. Die Beigeladene ist Mutter einer Tochter, die als Schwerbehinderte einen Behinderungsgrad von 100 v.H. aufweist.
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Die Familienkasse lehnte den Antrag auf Abzweigung ab. Der hiergegen eingelegte Einspruch hatte insoweit Erfolg, als die Familienkasse für die Monate November und Dezember 2009 eine monatliche Abzweigung von 82 € und für den Zeitraum ab Januar 2010 eine Abzweigung von 92 € an den Kläger durch "Abhilfebescheid" vom 20. Januar 2011 anordnete und dabei darauf hinwies, dass dem Einspruch damit in vollem Umfang entsprochen werde. Eine weiter gehende Einspruchsentscheidung erfolgte nicht.
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Mit der Klage zum Finanzgericht (FG) machte der Kläger einen weitergehenden Anspruch auf Abzweigung geltend. Das FG sah die Klage mit den in "Entscheidungen der Finanzgerichte" 2012, 1360 veröffentlichten Gründen als zulässig, aber unbegründet an. Zur Zulässigkeit der Klage führte das FG an, dass der Kläger im Verwaltungsverfahren die Abzweigung des Kindergeldes beantragt habe, ohne diesen Antrag betragsmäßig zu beschränken. Auch im Einspruchsverfahren sei keine Einschränkung des Begehrens erfolgt. Dies bedeute, dass der Antrag des Klägers auf die vollständige Abzweigung des Kindergeldes gerichtet gewesen sei. Die Familienkasse habe zwar den Abzweigungsantrag demgegenüber nur auf den Teilbetrag des Kindergeldes bezogen, der nach ihrer Einschätzung unter Berücksichtigung der Unterhaltsaufwendungen der Beigeladenen äußerstenfalls abgezweigt werden könnte. Hierauf deute der Hinweis in dem Abhilfebescheid vom 20. Januar 2011 hin, dass dem Einspruch in vollem Umfang entsprochen worden sei. Dies ändere aber nichts daran, dass der Abzweigungsantrag des Klägers insoweit abgelehnt worden sei, als die im gerichtlichen Verfahren noch streitigen Beträge von monatlich 58 € und ab Januar 2010 von monatlich 68 € nicht an ihn abgezweigt wurden. Diese Auslegung des § 44 der Finanzgerichtsordnung (FGO) werde durch die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) bestätigt. Danach sei das außergerichtliche Rechtsbehelfsverfahren auch dann i.S. des § 44 Abs. 1 FGO erfolglos geblieben, wenn die Einspruchsentscheidung der Sache nach unvollständig sei, wie sich aus dem BFH-Urteil vom 27. September 2001 X R 134/98 (BFHE 196, 400, BStBl II 2002, 176) ergebe. Diese Unvollständigkeit liege vor, wenn das Einspruchsbegehren teilweise übergangen werde, wie sich aus dem BFH-Urteil vom 10. Mai 2007 III R 67/06 (BFH/NV 2007, 2063) ergebe. So liege der Fall hier, da die Familienkasse das weiterreichende Abzweigungsverlangen des Klägers unbeabsichtigt übergangen habe. Dem Kläger stehe aber der weitergehend geltend gemachte Anspruch auf Abzweigung nicht zu.
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Hiergegen wendet sich der Kläger mit der Revision, die er auf die Verletzung materiellen Rechts stützt. Das Urteil stehe nicht im Einklang mit § 74 Abs. 1 Satz 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG). Sein Anspruch auf Abzweigung werde willkürlich reduziert. Die Voraussetzungen für eine teleologische Reduktion lägen nicht vor.
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Der Kläger beantragt,
das Urteil des FG aufzuheben und die Zurückverweisung des Rechtstreits an das FG.
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Die Familienkasse beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
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Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
Entscheidungsgründe
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II. Auf die Revision des Klägers war das Urteil des FG aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO). Das FG hat zu Unrecht in der Sache entschieden, obwohl mangels abgeschlossenen Vorverfahrens (§ 44 FGO) die Klage unzulässig war.
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1. Ist gegen einen Steuerbescheid --hier den Bescheid über die Abzweigung von Kindergeld, für den als Entscheidung über eine Steuervergütung dieselben Vorschriften gelten (vgl. BFH-Urteil vom 25. Juli 2001 VI R 18/99, BFHE 196, 260, BStBl II 2002, 81)-- ein außergerichtlicher Rechtsbehelf gegeben, so ist eine Klage gegen den Bescheid vorbehaltlich der §§ 45 und 46 FGO nur zulässig, wenn das Vorverfahren über den außergerichtlichen Rechtsbehelf erfolglos geblieben ist (§ 44 Abs. 1 FGO).
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a) Ein außergerichtliches Vorverfahren muss zwar nicht zwangsläufig mit einer Einspruchsentscheidung beendet werden. Eine Erledigung des Einspruchsverfahrens tritt jedoch nur dann ein, wenn die Behörde dem Antrag des Einspruchsführers u.a. durch Änderung des Bescheids (§ 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a der Abgabenordnung --AO--) in vollem Umfang entspricht.
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Ob dies der Fall ist, ergibt ein Vergleich zwischen dem Antrag im Einspruchsverfahren und der Regelung im Abhilfebescheid. Dabei ist der Antrag des Einspruchsführers im Zeitpunkt der Bekanntgabe des Abhilfebescheids maßgebend (z.B. BFH-Beschluss vom 30. Oktober 2003 VI B 83/03, BFH/NV 2004, 356).
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Dagegen wird auch durch eine unvollständige Rechtsbehelfsentscheidung das außergerichtliche Vorverfahren in der nach dem Gesetz erforderlichen Weise förmlich abgeschlossen (BFH-Urteile in BFH/NV 2007, 2063; in BFHE 196, 400, BStBl II 2002, 176, m.w.N.).
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b) Liegt nur ein Teilabhilfebescheid vor, der dem Antrag des Einspruchsführers nicht in vollem Umfang entspricht, bleibt das Einspruchsverfahren --entgegen der Auffassung des FG im Streitfall-- weiter anhängig (z.B. BFH-Beschluss in BFH/NV 2004, 356, m.w.N.). Der Teilabhilfebescheid wird nach § 365 Abs. 3 AO automatisch Gegenstand des Einspruchsverfahrens. Hierdurch soll verhindert werden, dass der Einspruchsführer ohne Einlegung eines neuen Rechtsbehelfs aus dem Rechtsbehelfsverfahrens gedrängt wird. Eines weiteren Einspruchs gegen den Teilabhilfebescheid bedarf es nicht. Bei einer Teilabhilfe ist jedoch über den nicht erledigten Teil des Einspruchs noch durch eine förmliche Einspruchsentscheidung zu entscheiden (z.B. BFH-Beschluss in BFH/NV 2004, 356, m.w.N.).
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2. Nach diesen Grundsätzen ist die Klage im Streitfall nach § 44 Abs. 1 FGO nicht zulässig.
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a) Die Familienkasse hat im Streitfall --wie sich aus der dem Bescheid vom 20. Januar 2011 und dessen Rechtsbehelfsbelehrung ergibt-- keine Einspruchsentscheidung, sondern lediglich einen Abhilfebescheid erlassen, der --wie das FG insoweit zu Recht entschieden hat-- dem Begehren des Klägers nicht in vollem Umfang entspricht.
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b) Eine abweichende Beurteilung folgt nicht aus § 46 FGO. Nach dieser Vorschrift ist zwar eine Klage ohne vorherigen Ab-schluss des Vorverfahrens zulässig, wenn über einen außergerichtlichen Rechtsbehelf ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes nicht innerhalb einer angemessenen Frist sachlich entschieden worden ist. Jedoch kann eine vor Abschluss des Vorverfahrens erhobene Klage nur dann nach § 46 Abs. 1 Satz 1 FGO zulässig sein, wenn spätestens bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung vor dem FG die Untätigkeit der Finanzbehörde gerügt wird (BFH-Urteile vom 17. Mai 1985 III R 213/82, BFHE 143, 509, BStBl II 1985, 521; vom 24. April 2007 I R 33/06, BFH/NV 2007, 2236, unter II.5.). Dass im Streitfall eine solche Rüge erhoben worden ist, hat weder das FG festgestellt noch hat der Kläger Entsprechendes vorgetragen.
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c) Dem steht auch nicht das vom FG für seine Auffassung angeführte BFH-Urteil in BFHE 196, 400, BStBl II 2002, 176 entgegen, da dieses auf der Besonderheit beruht, dass die Behörde in diesem Fall während eines über zwei Jahre dauernden Beschwerdeverfahrens von der "Möglichkeit der Selbstkontrolle" keinen Gebrauch gemacht hat, so dass die Annahme, es fehle an einem förmlichen Abschluss des Verfahrens dazu geführt hätte, dass Rechtsschutz nur unter erschwerten Voraussetzungen in Anspruch genommen werden könnte. Damit ist der Streitfall nicht vergleichbar.
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Gegenteiliges ergibt sich nicht aus dem vom FG für seine Auffassung angeführten BFH-Urteil in BFH/NV 2007, 2063. Dieses betrifft nur die Fallgestaltung, dass eine Einspruchsentscheidung vorliegt, diese aber einen Streitpunkt übergeht.
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3. Das FG ist von anderen Grundsätzen ausgegangen. Es hätte über die Klage nicht in der Sache entscheiden dürfen, sondern hätte vielmehr zunächst der Familienkasse Gelegenheit geben müssen, über den Einspruch zu entscheiden. Versäumt das FG dies und erlässt es stattdessen eine Sachentscheidung, so ist sein Urteil wegen Verletzung des § 44 Abs. 1 FGO aufzuheben (BFH-Urteile in BFH/NV 2007, 2236, m.w.N.; vom 21. Juli 1987 IX R 80/83, BFH/NV 1988, 213). Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben. Die Sache ist an das FG zurückzuverweisen, damit dieses auf die Erfüllung der Voraussetzungen für eine Sachentscheidung hinwirken kann.
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4. Die Übertragung der Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 1 FGO. Über die Kosten der Beigeladenen, die keinen Antrag gestellt hat, war nicht zu entscheiden.
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