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BFH 29.06.2012 - III S 35/11 (PKH)
BFH 29.06.2012 - III S 35/11 (PKH) - Zweitgutachten zur Feststellung des Grads der Behinderung
Normen
§ 32 Abs 4 S 1 Nr 3 EStG 2002, § 82 FGO, § 76 Abs 1 FGO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO, § 411a ZPO, § 412 Abs 1 ZPO
Leitsatz
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1. NV: Ein im sozialgerichtlichen Verfahren eingeholtes Gutachten zur Feststellung des Grads der Behinderung kann grundsätzlich in einem finanzgerichtlichen Verfahren, in dem um die Berücksichtigungsfähigkeit eines behinderten Kindes gestritten wird, verwertet werden.
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2. NV: Die Entscheidung, das "Fremdgutachten" zu verwerten oder eine weitere Begutachtung anzuordnen, steht im Ermessen des FG.
Tatbestand
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I. Die Klägerin, Beschwerdeführerin und Antragstellerin (Klägerin) beantragt die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) für die Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des Niedersächsischen Finanzgerichts (FG) vom 8. Juni 2011 2 K 66/11.
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Der Sohn (S) der Klägerin vollendete im Februar 2006 sein 18. Lebensjahr. Die Beklagte und Beschwerdegegnerin (Familienkasse) hob die Kindergeldfestsetzung ab März 2006 auf, weil es die Berücksichtigungsvoraussetzungen für volljährige Kinder nicht als gegeben ansah. Sie lehnte insbesondere eine Berücksichtigung des S als behindertes Kind ab. Einspruch und Klage blieben erfolglos.
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Das FG zog im Rahmen des Klageverfahrens die Akten eines parallel von S geführten Verfahrens vor dem Sozialgericht mit sich hieran anschließendem Berufungsverfahren vor dem Landessozialgericht (LSG) bei. Im sozialgerichtlichen Verfahren wollte S die Feststellung erreichen, dass bei ihm ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 festgestellt wird. S drang mit diesem Begehren nicht durch. Das LSG stellte lediglich einen GdB von 30 rechtskräftig fest. Das FG verwertete das vom LSG eingeholte ärztliche Gutachten. Dem Beweisantrag der Klägerin, ein weiteres Gutachten einzuholen, folgte es nicht. Es ging vielmehr, wie das LSG, lediglich von einem GdB von 30 aus und sah daher die Ursächlichkeit der Behinderung für die Unfähigkeit zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit nicht als gegeben an.
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Mit der Nichtzulassungsbeschwerde macht die Klägerin geltend, dass das FG-Urteil auf einem Verfahrensfehler beruhe. Durch das Übergehen ihres Beweisantrages habe das FG ihr Recht auf rechtliches Gehör verletzt und überdies gegen die Sachaufklärungspflicht nach § 76 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) verstoßen.
Entscheidungsgründe
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II. Der Antrag auf Bewilligung von PKH wird abgelehnt.
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1. Nach § 142 Abs. 1 FGO i.V.m. § 114 der Zivilprozessordnung (ZPO) erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag PKH, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
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2. Das beabsichtigte Verfahren wegen Nichtzulassung der Revision bietet keine hinreichende Aussicht auf Erfolg, weil bei der gebotenen summarischen Prüfung des Vortrages der Klägerin, des Inhalts der Akten und des Urteils des FG der geltend gemachte Zulassungsgrund des Verfahrensmangels (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) nicht vorliegt. Denn das FG hat Verfahrensrecht nicht dadurch verletzt, dass es den Antrag der Klägerin auf Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens ablehnte.
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a) Nach § 82 FGO i.V.m. § 411a ZPO darf das FG die schriftliche Begutachtung durch die Verwertung eines gerichtlich eingeholten Sachverständigengutachtens aus einem anderen Verfahren ersetzen. Entscheidet sich das Gericht für die Verwertung, dann ist das "Fremdgutachten" als vollwertiger Sachverständigenbeweis zu behandeln (Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 82 Rz 37a). Erachtet das Gericht das Gutachten aus einem anderen Verfahren für ungenügend, dann kann es eine neue Begutachtung durch dieselben oder andere Sachverständige anordnen (§ 82 FGO i.V.m. § 412 Abs. 1 ZPO). Wie der Wortlaut der §§ 411a und 412 Abs. 1 ZPO ("kann") deutlich macht, steht sowohl die Verwertung des "Fremdgutachtens" als auch die Einholung eines Zweitgutachtens im Ermessen des Tatsachengerichts. Dieses Ermessen wird nur dann verfahrensfehlerhaft ausgeübt, wenn das Gericht von der Einholung gutachterlicher Stellungnahmen absieht, obwohl sich ihm die Notwendigkeit einer zusätzlichen Beweiserhebung hätte aufdrängen müssen. Dies gilt auch für die Einholung eines Zweitgutachtens. Ein solches ist insbesondere dann einzuholen, wenn die Einschätzung des Erstgutachters nicht dem Stand der Wissenschaft entspricht, widersprüchlich oder von unsachlichen Erwägungen getragen ist (Beschlüsse des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 9. Mai 1996 X B 223/95, BFH/NV 1996, 773; vom 31. Oktober 2002 XI B 43/02, juris; vom 5. Mai 2004 VIII B 107/03, BFH/NV 2004, 1533).
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b) Bei Anwendung dieser Rechtsgrundsätze bestehen für die Klägerin keine hinreichenden Erfolgsaussichten, mit der geltend gemachten Verfahrensrüge die Zulassung der Revision zu erreichen.
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aa) Zur Klärung der Frage, ob S als behindertes Kind gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes berücksichtigungsfähig ist, hat das FG im Streitfall das im sozialgerichtlichen Verfahren eingeholte Gutachten zur Klärung der Frage, ob bei S ein GdB festzustellen ist, gemäß § 411a FGO verwertet. Dagegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Beschwerde auch nicht. Ihre Rüge geht vielmehr dahin, dass ein weiteres Gutachten hätte eingeholt werden müssen. Das FG hat sich mit dieser Frage ausdrücklich befasst und nachvollziehbar begründet, weshalb es das vorliegende (Erst-)Gutachten für tragfähig und in sich schlüssig hält. Damit hat es sein Ermessen fehlerfrei ausgeübt. Dass die ärztliche Einschätzung des körperlich-geistigen Zustandes von S durch den Erstgutachter nicht dem Stand der Wissenschaft entsprochen habe, dass dessen Erwägungen unsachlich oder widersprüchlich seien, hat die Klägerin weder dargelegt noch gibt es sonst dafür objektive Anhaltspunkte.
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bb) Der Gesichtspunkt, dass der vom LSG beauftragte Gutachter sich mit dem GdB befasst hat und nicht dezidiert auf die Frage der Ursächlichkeit einer etwaigen Behinderung für die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt eingegangen ist, musste das FG nicht zu einer weiteren Beweisaufnahme drängen. Denn bei S wurde im sozialgerichtlichen Verfahren wegen Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule und Intelligenzminderung lediglich ein GdB von 30 rechtskräftig festgestellt. Wenn der GdB weniger als 50 beträgt und keine besonderen Umstände dafür ersichtlich sind, dass auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt keine Erwerbstätigkeit ausgeübt werden kann, dann spricht eine widerlegbare Vermutung dafür, dass die Behinderung für die Unfähigkeit des Kindes zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit grundsätzlich nicht ursächlich ist (BFH-Urteil vom 19. November 2008 III R 105/07, BFHE 223, 365, BStBl II 2010, 1057). Besondere Umstände wurden im Streitfall weder substantiiert vorgetragen noch sind sie sonst ersichtlich. Das in diesem Zusammenhang vorgelegte privatärztliche Attest des Herrn Dr. X hat das FG zu Recht nicht zum Anlass für eine weitere Begutachtung genommen, weil der Aussteller des Attests Internist ist und er die behinderungsbedingte Unfähigkeit zum Selbstunterhalt lediglich pauschal behauptet hat.
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cc) Soweit die Klägerin schließlich die Einschätzung des Erstgutachters nicht teilt, dass der Intelligenzquotient des S 80 beträgt, macht sie keinen Verfahrensfehler geltend, sondern rügt letztendlich die Beweiswürdigung des FG. Das FG hat sich mit der Frage der Intelligenzminderung und dem hieraus resultierenden Einzel-GdB unter Auseinandersetzung mit dem Gutachten, anderen vorliegenden ärztlichen Attesten und der Bewertung des LSG befasst. Diese Würdigung ist revisionsrechtlich dem materiellen Recht zugeordnet. Etwaige Fehler können daher mit der Verfahrensrüge grundsätzlich nicht geltend gemacht werden (vgl. BFH-Beschlüsse vom 10. August 2011 X B 100/10, BFH/NV 2011, 2098; vom 13. Februar 2012 II B 12/12, BFH/NV 2012, 772).
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3. Eine Kostenentscheidung ist nicht zu treffen; Gerichtsgebühren sind nicht entstanden, weil das Kostenverzeichnis hierfür keinen Gebührentatbestand vorsieht.
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