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BFH 24.05.2012 - IV B 58/11
BFH 24.05.2012 - IV B 58/11 - Keine Pflicht des FG zur Beiziehung von Prüferhandakten
Normen
§ 76 Abs 1 S 1 FGO, § 71 Abs 2 FGO, § 96 Abs 2 FGO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO
Vorinstanz
vorgehend Hessisches Finanzgericht, 14. März 2011, Az: 13 K 2545/09, Urteil
Leitsatz
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1. NV: Aufklärungsmaßnahmen nach § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO (hier: Beiziehung einer Prüferhandakte) muss das FG nur dann ergreifen, wenn ein Anlass dazu besteht, der sich aus den beigezogenen Akten, dem Beteiligtenvorbringen oder sonstigen Umständen ergibt.
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2. NV: Nach § 71 Abs. 2 FGO ist die Finanzbehörde verpflichtet, dem FG eine Prüferhandakte vorzulegen, wenn darin ein offensichtlich entscheidungsrelevantes Schriftstück enthalten ist.
Gründe
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Die Beschwerde ist unbegründet.
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Die vom Beklagten und Beschwerdeführer (Finanzamt --FA--) geltend gemachten Verfahrensfehler, auf denen das Urteil des Finanzgerichts (FG) i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) beruhen soll, liegen nicht vor.
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1. Anders als das FA meint, hat das FG seine Sachaufklärungspflicht nach § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO nicht dadurch verletzt, dass es die Prüferhandakte nicht von sich aus zum Verfahren beigezogen hat.
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a) Es mag zwar sein, dass die Prüferhandakte mit dem Schreiben der Klägerin und Beschwerdegegnerin (Klägerin) vom 27. Oktober 2006 ein Schriftstück enthalten hat, welches dadurch unmittelbare rechtliche Auswirkungen auf den Streitfall hatte, dass durch den klägerischen Antrag auf Verschiebung des Außenprüfungsbeginns die Rechtsfolgen des § 171 Abs. 4 Satz 1 der Abgabenordnung eingetreten sind. Dies wiederum führt materiell-rechtlich dazu, dass die im angefochtenen FG-Urteil enthaltene Feststellung, hinsichtlich der Änderungsbescheide 2000 und 2001 vom 24. Oktober 2007 sei bereits Festsetzungsverjährung eingetreten, falsch ist.
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b) Allein die materiell-rechtliche Fehlerhaftigkeit des FG-Urteils führt jedoch nicht zur Zulassung der Revision. Das FA verkennt mit Blick auf den von ihm geltend gemachten Verfahrensfehler den Umfang der gerichtlichen Sachaufklärungspflicht nach § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO.
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aa) Nach § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen. Deshalb hat das Gericht den Sachverhalt unter Ausschöpfung aller verfügbaren Beweismittel bis zur Grenze des Zumutbaren so vollständig wie möglich aufzuklären (Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 29. November 2006 VI R 70/05, BFH/NV 2007, 732, m.w.N.). Das Gericht trifft allerdings keine Verpflichtung, den Sachverhalt ohne bestimmten Anlass und gleichsam "ins Blaue hinein" zu erforschen (BFH-Beschlüsse vom 1. September 2006 VIII B 81/05, BFH/NV 2006, 2297; vom 22. August 2006 I B 21/06, BFH/NV 2007, 10). Aufklärungsmaßnahmen muss das Gericht vielmehr nur dann ergreifen, wenn ein Anlass hierzu besteht, der sich aus den beigezogenen Akten, dem Beteiligtenvorbringen oder sonstigen Umständen ergibt (BFH-Beschlüsse vom 3. August 2005 I B 9/05, BFH/NV 2005, 2227; vom 13. September 2007 VI B 100/06, BFH/NV 2007, 2331).
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bb) So liegt der Streitfall ganz offensichtlich nicht. Das FA gibt selbst an, dass sich der Schriftsatz der Klägerin vom 27. Oktober 2006 nicht in den dem FG übersandten Verfahrensakten befunden hat und auch keiner der Beteiligten das Gericht auf die Verjährungsproblematik hingewiesen hat. Es mag zwar sein, dass sich die Beteiligten beide darüber klar gewesen sind, dass das vorgenannte Schreiben ablaufhemmende Wirkung gehabt hat. Damit ist aber noch nichts dazu dargetan, warum sich dem FG ohne Hinweis in den Akten oder durch die Beteiligten ein Erfordernis zur weiteren Sachaufklärung hätte aufdrängen müssen.
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aaa) Im finanzgerichtlichen Verfahren bilden die Akten bzw. der Akteninhalt eine wesentliche Entscheidungsgrundlage, weshalb die beteiligte Behörde die den Streitfall betreffenden Akten vorzulegen hat (§ 71 Abs. 2 FGO). Das bedeutet, dass jedes Aktenstück übersandt werden muss, das für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage erheblich und für die Entscheidung des Rechtsstreits von Bedeutung sein kann (vgl. BFH-Beschlüsse vom 18. September 1989 IV B 3/89, BFH/NV 1990, 378; vom 8. Juli 1994 V B 19/94, BFH/NV 1995, 604). Zu den nach Maßgabe des § 71 Abs. 2 FGO vorzulegenden Akten gehören auch Prüferhandakten (vgl. BFH-Beschluss vom 25. Juli 1994 X B 333/93, BFHE 174, 491, BStBl II 1994, 802, m.w.N.). Nach den vorstehenden Ausführungen wäre das FA folglich nach § 71 Abs. 2 FGO verpflichtet gewesen, dem FG im Streitfall auch die Prüferhandakte vorzulegen, weil der darin enthaltene Schriftsatz der Klägerin vom 27. Oktober 2006 offensichtlich entscheidungsrelevant ist.
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bbb) Wenn das FA demgegenüber ausführt, das Erfordernis der Beiziehung der Prüferhandakte habe sich dem FG schon deshalb aufdrängen müssen, weil bei der Prüfung der Klägerin als Großbetrieb besonders erfahrene Prüfer zum Einsatz gekommen seien, welche erfahrungsgemäß Verjährungsfragen bei der Terminierung von Prüfungen berücksichtigen würden, so ist dies schon deshalb unerheblich, weil es weder einen solchen Erfahrungssatz gibt noch daraus der Schluss abgeleitet werden könnte, es müsse abseits der dem Gericht vorgelegten Akten im Aktenbestand des FA noch ein Schriftstück existieren, welches eine Ablaufhemmung ausgelöst haben könnte. Abgesehen davon, dass es nach den Erfahrungen des Senats auch im Rahmen von Großbetriebsprüfungen gelegentlich zum Eintritt der Festsetzungsverjährung kommt, ist es in keiner Weise nachvollziehbar, warum das FA ein offenkundig verjährungsrelevantes Schriftstück statt in der Betriebsprüfungsakte in der Handakte aufbewahrt hat. Da dies offenbar auf einem bis zur mündlichen Verhandlung nicht erkannten Versehen des FA beruht, ist auch nicht nachvollziehbar, warum das FG, welches naturgemäß den Aktenbestand des FA nicht kennt, hätte erkennen oder auch nur erahnen müssen, dass ein streitrelevantes Schriftstück fehlen könnte.
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2. Das FG hat auch den Anspruch des FA auf rechtliches Gehör (§ 96 Abs. 2 FGO) nicht dadurch verletzt, dass es zu Unrecht auf einen Hinweis auf die Problematik der Festsetzungsverjährung verzichtet und dadurch eine Überraschungsentscheidung gefällt hätte.
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a) Von einer Überraschungsentscheidung ist auszugehen, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen bis zum Ergehen der Entscheidung nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt gestützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hat, mit der alle oder einzelne Beteiligte nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchten (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 24. April 1990 VIII R 170/83, BFHE 160, 256, BStBl II 1990, 539; BFH-Beschluss vom 16. November 2009 V B 37/09, BFH/NV 2010, 450). Eine solche Überraschungsentscheidung verletzt den Anspruch der Verfahrensbeteiligten auf rechtliches Gehör (Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Juli 1997 1 BvR 1934/93, Neue Juristische Wochenschrift 1997, 2305), weshalb das FG, wenn es sein Urteil auf einen Gesichtspunkt stützen will, den ein Beteiligter erkennbar übersehen oder für unwesentlich gehalten hat, diesen nach § 139 Abs. 2 der Zivilprozessordnung i.V.m. § 155 FGO zuvor auf den Gesichtspunkt hinweisen und ihm Gelegenheit zur Stellungnahme geben muss (BFH-Beschluss vom 2. Februar 2004 VIII B 59/03, juris).
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b) Eine Überraschungsentscheidung liegt danach nicht vor, wenn das FG vor seiner Entscheidung auf seine neue Rechtsauffassung hinweist (BFH-Beschluss vom 20. Februar 2003 IX B 58/02, BFH/NV 2003, 810). Deshalb entspricht es auch allgemeiner Auffassung, dass ein FG eine Überraschungsentscheidung bereits dadurch vermeiden kann, dass es auf bis dahin nicht erörterte tatsächliche oder rechtliche Aspekte schriftlich, in einem Erörterungstermin oder in der mündlichen Verhandlung hinweist (vgl. Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 119 FGO Rz 213). So liegt auch der Streitfall, denn das FG hat ausweislich des Protokolls zur mündlichen Verhandlung vom 14. März 2011 explizit darauf hingewiesen, dass hinsichtlich des Änderungsbescheides 2000 "möglicherweise Festsetzungsverjährung eingetreten sei".
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3. Der Beschluss ergeht im Übrigen nach § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO ohne weitere Begründung, insbesondere ohne Wiedergabe des Tatbestandes.
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