betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesfinanzhof (Deutschland) mit Entscheidung vom 30. Juni 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 27. Juli 2011, in dem Verfahren
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Richter M. Ilešič, E. Levits und M. Safjan sowie der Richterin M. Berger (Berichterstatterin),
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 12. September 2012
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 2 Nr. 1 der Entscheidung 2004/290 dahin auszulegen ist, dass der Begriff der „Bauleistungen“ in dieser Bestimmung neben den als Dienstleistungen im Sinne von Art. 6 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie eingestuften Umsätzen auch die Umsätze umfasst, die in der Lieferung eines Gegenstands im Sinne von Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie bestehen.
Das vorlegende Gericht ist nämlich der Ansicht, dass dann, wenn die Entscheidung 2004/290 die Bundesrepublik Deutschland nur ermächtige, bei Bauleistungen den Leistungsempfänger als Mehrwertsteuerschuldner zu bestimmen (sogenanntes Reverse-charge-Verfahren), soweit diese Bauleistungen in Form von Dienstleistungen erfolgen, nicht aber, soweit es sich um Lieferungen handelt, BLV zwar Mehrwertsteuerschuldnerin nach § 13b UStG, nicht aber gemäß der Entscheidung 2004/290 wäre.
In diesem Zusammenhang ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Entscheidung 2004/290 keine Definition des Begriffs der „Bauleistungen“ enthält.
Außerdem ist festzustellen, dass die Sechste Richtlinie, auf die Art. 1 der Entscheidung 2004/290 Bezug nimmt, in keiner ihrer Sprachfassungen mit Ausnahme der deutschen Fassung einen dem Begriff der „Bauleistungen“ nach dieser Entscheidung (in der französischen Fassung: „travaux de construction“) entsprechenden Begriff verwendet. In dieser Richtlinie, insbesondere in ihrem Art. 5 Abs. 5, wird nämlich nur ein anderer Begriff (in der französischen Fassung: „travaux immobiliers“) erwähnt.
Auch wenn man annimmt, dass der in der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie benutzte Begriff der „Bauleistungen“ („travaux immobiliers“) mit dem in der Entscheidung 2004/290 verwendeten Begriff der „Bauleistungen“ („travaux de construction“) übereinstimmt, wird der erste dieser Begriffe in der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie aber auch nicht definiert. Denn die Zweite Richtlinie 67/228 enthielt zwar in Art. 5 Abs. 2 Buchst. e in Verbindung mit Anhang A Nr. 5 dieser Richtlinie eine Definition von „Bauleistungen“ in Form von Beispielen und sah im Übrigen ausdrücklich vor, dass diese Leistungen „[a]ls Lieferungen … gelten“. Eine solche Definition fehlt jedoch in Bezug auf die Sechste Richtlinie.
Daraus folgt, dass der Unionsgesetzgeber, als er auf der Grundlage von Art. 27 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie die Bundesrepublik Deutschland mit der Entscheidung 2004/290 dazu ermächtigte, u. a. in Bezug auf „Bauleistungen“ eine abweichende Regelung auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer zu erlassen, sich dabei nicht auf einen in diesem Gebiet des Unionsrechts bereits vorher bestehenden und genau definierten Begriff bezog.
Nach ständiger Rechtsprechung sind mangels einer Definition des Begriffs „Bauleistungen“ die Bedeutung und die Tragweite dieses Begriffs unter Berücksichtigung des allgemeinen Zusammenhangs, in dem er verwendet wird, und entsprechend dem Sinn, den er nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch hat, zu bestimmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Mai 2006, Massachusetts Institute of Technology, C-431/04, Slg. 2006, I-4089, Randnr. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung). Im Übrigen sind bei der Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts die Ziele, die mit der betreffenden Regelung verfolgt werden, und deren praktische Wirksamkeit zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil vom 29. Januar 2009, Petrosian, C-19/08, Slg. 2009, I-495, Randnr. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Was erstens den gewöhnlichen Sprachgebrauch des Begriffs der „Bauleistungen“ betrifft, ist festzustellen, dass solche Leistungen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, nämlich insbesondere die Errichtung eines Gebäudes, unbestreitbar unter diesen Begriff fallen. Dabei ist nicht nur die Frage unerheblich, ob das Unternehmen, das dieses Gebäude errichtet, Eigentümer der bebauten Fläche oder des verwendeten Materials ist, sondern auch die Frage, ob der betreffende Umsatz als „Dienstleistung“ oder als „Lieferung von Gegenständen“ einzustufen ist.
Was zweitens den allgemeinen Zusammenhang und die mit der betreffenden Regelung verfolgten Ziele betrifft, so wird im zweiten Erwägungsgrund der Entscheidung 2004/290 erläutert, dass in Deutschland „[i]m Baugewerbe … beträchtliche MwSt.-Ausfälle festgestellt [wurden], die dadurch entstanden sind, dass die MwSt. in der Rechnung offen ausgewiesen, jedoch nicht an den Fiskus abgeführt wurde, während der Leistungsempfänger sein Vorsteuerabzugsrecht ausübte. … Derartige Fälle treten inzwischen so häufig auf, dass rechtliche Maßnahmen ergriffen werden müssen“. Daher wird in Art. 1 dieser Entscheidung „die Bundesrepublik Deutschland … ermächtigt, bei den in Artikel 2 dieser Entscheidung bezeichneten Lieferungen von Gegenständen und Erbringungen von Dienstleistungen den Empfänger als Mehrwertsteuerschuldner zu bestimmen“.
Die Regelung des Art. 2 Nr. 1 der Entscheidung 2004/290, nach der „bei der Erbringung von Bauleistungen an einen Steuerpflichtigen“ der „Empfänger der Gegenstände oder Dienstleistungen als Mehrwertsteuerschuldner bestimmt werden [kann]“, einschränkend dahin auszulegen, dass sie nicht die Lieferung von Gegenständen umfasst, wie sie in Art. 5 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie definiert ist, liefe aber dem mit dieser Regelung verfolgten Ziel eindeutig zuwider.
Außerdem steht fest, dass die Einstufung eines bestimmten Umsatzes als „Lieferung von Gegenständen“ oder als „Dienstleistung“ eine komplexe Beurteilung erfordert, die sich, wie der Generalanwalt in den Nrn. 30 ff. seiner Schlussanträge hervorgehoben hat, grundsätzlich auf eine Einzelfallbetrachtung stützen muss (vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 10. März 2011, Bog u. a., C-497/09, C-499/09, C-501/09 und C-502/09, Slg. 2011, I-1457, Randnrn. 61 ff.).
In diesem Zusammenhang weist nichts darauf hin, dass der Unionsgesetzgeber beim Erlass von Art. 2 Nr. 1 der Entscheidung 2004/290 die Anwendung dieser Regelung auf die alleinigen Fälle beschränken wollte, in denen diese komplexe Beurteilung letztlich zu dem Ergebnis führt, dass der in Rede stehende Umsatz als eine „Dienstleistung“ einzustufen ist.
Im Übrigen ist die Einstufung des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Umsatzes unter dem Blickwinkel der Verwirklichung des mit der Entscheidung 2004/290 verfolgten Ziels unerheblich, da die Gefahr „beträchtliche[r] MwSt.-Ausfälle“, wenn dieser Umsatz als „Dienstleistung“ einzustufen ist, ebenso groß ist wie dann, wenn er als „Lieferung“ anzusehen ist.
All das spricht für eine Auslegung dahin, dass der Begriff der „Bauleistungen“ in Art. 2 Nr. 1 der Entscheidung 2004/290 nicht nur Dienstleistungen, sondern auch die Lieferung von Gegenständen umfasst.
Dieses Ergebnis kann nicht dadurch in Frage gestellt werden, dass diese Bestimmung als eine Ausnahme von der allgemeinen Regel des Art. 21 Abs. 1 Buchst. a Satz 1 der Sechsten Richtlinie eng auszulegen ist. Denn nach ständiger Rechtsprechung sind die Mehrwertsteuerbestimmungen, die Ausnahmen von einem Grundsatz darstellen, zwar eng auszulegen, aber ist dennoch darauf zu achten, dass der Ausnahme nicht ihre praktische Wirksamkeit genommen wird (Urteil Bog u. a., Randnr. 84 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie in diesem Sinne Urteil vom 10. März 2011, Skandinaviska Enskilda Banken, C-540/09, Slg. 2011, I-1509, Randnr. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Es ist festzustellen, dass der Ausschluss der Lieferungen von Gegenständen aus dem Anwendungsbereich des Art. 2 Nr. 1 der Entscheidung 2004/290 die praktische Wirksamkeit dieser Bestimmung in Frage stellen könnte. Diese Auslegung hätte nämlich zur Folge, dass insbesondere die Errichtung eines Gebäudes vom Anwendungsbereich der mit der Entscheidung 2004/290 zugelassenen abweichenden Regelung ausgenommen sein könnte. Dieser Umsatz gehört aber seinem ganzen Wesen nach zu „Bauleistungen“ und steht für eine Untergruppe von Umsätzen, die – wie die deutsche Regierung in ihren Erklärungen zu Recht betont hat – einen bedeutenden Teil der fraglichen Umsätze ausmacht.
Folglich ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 2 Nr. 1 der Entscheidung 2004/290 dahin auszulegen ist, dass der Begriff der „Bauleistungen“ in dieser Bestimmung neben den als Dienstleistungen im Sinne von Art. 6 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie eingestuften Umsätzen auch die Umsätze umfasst, die in der Lieferung von Gegenständen im Sinne von Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie bestehen.
Mit der zweiten und der dritten Frage, die gemeinsam zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Entscheidung 2004/290 dahin auszulegen ist, dass die Bundesrepublik Deutschland berechtigt ist, die ihr mit dieser Entscheidung erteilte Ermächtigung nur teilweise für bestimmte Untergruppen wie einzelne Arten von Bauleistungen und für Leistungen an bestimmte Leistungsempfänger auszuüben, und ob gegebenenfalls für diesen Mitgliedstaat Beschränkungen bei der Bildung solcher Untergruppen bestehen.
Das vorlegende Gericht wirft somit die Frage auf, ob die Bundesrepublik Deutschland, wenn sie durch die Entscheidung 2004/290 dazu ermächtigt worden sein sollte, den Empfänger auch dann als Mehrwertsteuerschuldner zu bestimmen, wenn der Umsatz Baulieferungen betraf, gemäß Art. 2 Nr. 1 der Entscheidung 2004/290 verpflichtet wäre, diese Bestimmung als Steuerschuldner für sämtliche solche Lieferungen betreffenden Umsätze und damit für Lieferungen an sämtliche Steuerpflichtige vorzunehmen.
Zum einen ordne § 13b UStG nämlich keine Steuerschuld des Leistungsempfängers für alle Baulieferungen, sondern nur für Werklieferungen nach § 3 Abs. 4 UStG an, und zum anderen seien nur die Steuerpflichtigen, die selbst Bauleistungen erbrächten, nach deutschem Recht Mehrwertsteuerschuldner und nicht alle Empfänger dieser Leistungen.
Im Übrigen fragt das vorlegende Gericht den Gerichtshof, ob der betreffende Mitgliedstaat, wenn er zu einer Untergruppenbildung berechtigt wäre, Beschränkungen insbesondere in Bezug auf die Beachtung des Grundsatzes der Rechtssicherheit unterläge.
Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die in Art. 27 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie genannten abweichenden Maßnahmen, die u. a. gestattet sind, „um … Steuerhinterziehungen oder -umgehungen zu verhüten“, eng auszulegen sind und überdies zur Verwirklichung des mit ihnen verfolgten konkreten Ziels erforderlich und geeignet sein müssen sowie die Ziele und Grundsätze der Sechsten Richtlinie nicht mehr als erforderlich beeinträchtigen dürfen (vgl. Urteil vom 27. Januar 2011, Vandoorne, C-489/09, Slg. 2011, I-225, Randnr. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Dass die Anwendung einer Ausnahme von einer allgemeinen Regel auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer auf konkrete und spezifische Bereiche beschränkt wird, steht im Übrigen, wie der Gerichtshof bereits in anderem Zusammenhang zu erläutern Gelegenheit hatte, im Einklang mit dem Grundsatz, dass Befreiungen oder Ausnahmevorschriften eng auszulegen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Mai 2003, Kommission/Frankreich, C-384/01, Slg. 2003, I-4395, Randnr. 28), vorausgesetzt, dass der Grundsatz der steuerlichen Neutralität beachtet bleibt, der dem gemeinsamen Mehrwertsteuersystem zugrunde liegt (vgl. Urteil vom 3. April 2008, Zweckverband zur Trinkwasserversorgung und Abwasserbeseitigung Torgau-Westelbien, C-442/05, Slg. 2008, I-1817, Randnr. 43, sowie in diesem Sinne Urteil vom 6. Mai 2010, Kommission/Frankreich, C-94/09, Slg. 2010, I-4261, Randnr. 30).
Diese Rechtsprechung, die ebenfalls die den Mitgliedstaaten belassene Möglichkeit betrifft, ausnahmsweise von einer allgemeinen Regel auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer abzuweichen, nämlich von dem Grundsatz der Anwendung des gleichen Mehrwertsteuersatzes für alle Lieferungen von Gegenständen und alle Dienstleistungen, ist auf einen Sachverhalt wie den im Ausgangsverfahren fraglichen übertragbar. Deshalb war die Bundesrepublik Deutschland dazu berechtigt, die Ermächtigung nur teilweise für bestimmte Untergruppen wie einzelne Arten von Bauleistungen und für Leistungen an bestimmte Leistungsempfänger auszuüben, vorausgesetzt jedoch, dass der Grundsatz der steuerlichen Neutralität und, da der betreffende Mitgliedstaat insoweit das Unionsrecht umgesetzt hat, die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts beachtet werden.
Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass die Entscheidung 2004/290, wie in ihrem vierten Erwägungsgrund ausgeführt wird, die Bundesrepublik Deutschland dazu ermächtigte, eine abweichende Maßnahme vorzusehen, die den im Stadium des Endverbrauchs fälligen Mehrwertsteuerbetrag nicht beeinflusst und die keine Auswirkungen auf die Mehrwertsteuer-Eigenmittel der Union hat. Was die auf dieser Grundlage konkret erlassenen Maßnahmen betrifft, war ihre Anwendung auf die Fälle beschränkt, in denen der Empfänger der fraglichen Leistungen selbst ein Steuerpflichtiger im Bausektor im Sinne der Sechsten Richtlinie ist, der demnach berechtigt ist, einen Vorsteuerabzug vorzunehmen oder gegebenenfalls die Erstattung dieser Steuer zu verlangen. Somit hatten diese Maßnahmen neben dem Umstand, dass sie keinen Einfluss auf den im Stadium des Endverbrauchs fälligen Mehrwertsteuerbetrag hatten, auch nicht die Wirkung, eine finanzielle Belastung bei den unmittelbar von ihnen betroffenen Personen zu verursachen. Es ist demnach nicht ersichtlich, dass die in Rede stehende deutsche Regelung zu einer Verletzung des dem gemeinsamen Mehrwertsteuersystem zugrunde liegenden Grundsatzes der steuerlichen Neutralität geführt hätte.
Was zweitens die Beachtung der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts durch die Bundesrepublik Deutschland bei der Bildung von Untergruppen von Leistungen und von Leistungsempfängern betrifft, für die die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Maßnahme gilt, so könnte die fragliche Regelung auf den ersten Blick nur im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und den Grundsatz der Rechtssicherheit Zweifel aufwerfen.
In Bezug auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist festzustellen, dass die Akte nichts enthält, was die Verhältnismäßigkeit der von der Bundesrepublik Deutschland auf der Grundlage der Entscheidung 2004/290 erlassenen abweichenden Regelung in Frage stellen könnte. Wie in Randnr. 43 des vorliegenden Urteils ausgeführt, beschränkten sich diese Maßnahmen zum einen darauf, das Reverse-charge-Verfahren für bestimmte Umsätze vorzusehen, und verursachten grundsätzlich keine finanzielle Belastung bei den von diesen Maßnahmen betroffenen Personen, während sie es zum anderen ermöglichten, beträchtliche Mehrwertsteuerausfälle zu verhindern. Mangels anderer besonderer Umstände, die im Übrigen aus der Akte nicht hervorgehen, kann eine solche Maßnahme nicht als unverhältnismäßig angesehen werden. Es ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts, gegebenenfalls zu überprüfen, ob solche anderen besonderen Umstände vorliegen.
Was den Grundsatz der Rechtssicherheit angeht, weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die fragliche nationale Regelung die Folge haben könne, dass die Steuerpflichtigen Schwierigkeiten bei der Feststellung haben könnten, wer Steuerschuldner sei, wenn sie keinen Einblick in die Verhältnisse des Empfängers hätten. Denn bei Vorliegen einer Bauleistung sei der Leistungsempfänger nur dann Steuerschuldner, wenn u. a. zumindest 10 % seines „Weltumsatzes“ im vorigen Geschäftsjahr aus derartigen Bauleistungen bestehe. Der Steuerpflichtige könnte jedoch, wie es im Ausgangsverfahren der Fall gewesen sei, zunächst davon ausgehen, dass er diese Grenze überschritten habe, später aber feststellen, dass dies nicht der Fall gewesen sei.
In diesem Zusammenhang ist zunächst darauf hinzuweisen, dass Rechtsakte der Union nach ständiger Rechtsprechung eindeutig sein müssen und dass ihre Anwendung für die Betroffenen vorhersehbar sein muss. Dieses Gebot der Rechtssicherheit gilt in besonderem Maße, wenn es sich um eine Regelung handelt, die sich finanziell belastend auswirken kann, denn die Betroffenen müssen in der Lage sein, den Umfang der ihnen damit auferlegten Verpflichtungen genau zu erkennen (Urteil vom 16. September 2008, Isle of Wight Council u. a., C-288/07, Slg. 2008, I-7203, Randnr. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung). Der Grundsatz der Rechtssicherheit ist von jeder mit der Anwendung des Unionsrechts betrauten innerstaatlichen Stelle zu beachten (vgl. Urteil vom 17. Juli 2008, ASM Brescia, C-347/06, Slg. 2008, I-5641, Randnr. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Auch wenn die fragliche Regelung im Allgemeinen nicht geeignet erscheint, sich für die Steuerpflichtigen finanziell belastend im Sinne des Urteils Isle of Wight Council u. a. auszuwirken, könnte sich eine solche finanzielle Belastung gleichwohl, wie dies in einem Sachverhalt wie dem im Ausgangsverfahren fraglichen der Fall sein kann, aus der Anwendung dieser Regelung durch die zuständigen nationalen Behörden ergeben, wenn es diese Anwendung den betreffenden Steuerpflichtigen, zumindest vorübergehend, nicht erlaubt, den Umfang ihrer Verpflichtungen auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer genau zu erkennen.
Es ist daher Sache des vorlegenden Gerichts, unter Berücksichtigung aller maßgeblichen tatsächlichen und rechtlichen Umstände zu überprüfen, ob es sich im vorliegenden Fall so verhält, und gegebenenfalls die Maßnahmen zu ergreifen, die erforderlich sind, um die nachteiligen Folgen einer den Grundsatz der Rechtssicherheit verletzenden Anwendung der in Rede stehenden Vorschriften auszugleichen.
Folglich ist auf die zweite und die dritte Frage zu antworten, dass die Entscheidung 2004/290 dahin auszulegen ist, dass die Bundesrepublik Deutschland berechtigt ist, die ihr mit dieser Entscheidung erteilte Ermächtigung nur teilweise für bestimmte Untergruppen wie einzelne Arten von Bauleistungen und für Leistungen an bestimmte Leistungsempfänger auszuüben. Bei der Bildung dieser Untergruppen hat dieser Mitgliedstaat den Grundsatz der steuerlichen Neutralität sowie die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, wie insbesondere die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Rechtssicherheit, zu beachten. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, unter Berücksichtigung aller maßgeblichen tatsächlichen und rechtlichen Umstände zu überprüfen, ob dies im Ausgangsverfahren der Fall ist, und gegebenenfalls die Maßnahmen zu ergreifen, die erforderlich sind, um die nachteiligen Folgen einer gegen die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit oder der Rechtssicherheit verstoßenden Anwendung der in Rede stehenden Vorschriften auszugleichen.