BVerfG 07.10.2010 - 1 BvR 2509/10 - Erlass einer einstweiligen Anordnung: Aussetzung der Vollziehung, Untersuchungen im Rahmen eines Vaterschaftsfeststellungsverfahrens zu dulden - Überwiegen der Nachteile bei Durchführung dieser Untersuchungen und späterem Erfolg der Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache
Normen
Art 6 Abs 2 S 1 GG, §§ 1600ff BGB, § 1592 Nr 2 BGB, § 1600 Abs 1 Nr 5 BGB, § 1600 Abs 3 BGB, § 32 Abs 1 BVerfGG, § 372a Abs 1 ZPO
Vorinstanz
vorgehend OLG Hamm, 25. August 2010, Az: 12 UF 129/10, Beschluss
vorgehend AG Gelsenkirchen, 2. Juni 2010, Az: 24 F 484/09, Zwischenbeschluss
nachgehend BVerfG, 16. März 2011, Az: 1 BvR 2509/10, Einstweilige Anordnung
nachgehend BVerfG, 7. September 2011, Az: 1 BvR 2509/10, Einstweilige Anordnung
Tenor
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Die Erzwingung der Duldungspflicht aus dem Zwischenbeschluss des Amtsgerichts Gelsenkirchen vom 2. Juni 2010 - 24 F 484/09
-, bestätigt durch den Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 25. August 2010 - 12 UF 129/10 -, wird einstweilen für die
Dauer des Verfassungsbeschwerdeverfahrens, längstens für die Dauer von sechs Monaten, ausgesetzt.
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Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen
Anordnung zu erstatten.
Gründe
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I.
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Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die durch Zwischenbeschluss gemäß § 372a ZPO angeordnete Verpflichtung, Untersuchungen
zu dulden, durch die in einem Vaterschaftsfeststellungsverfahren festgestellt werden soll, dass das im April 2005 geborene
Kind D., für das der Beschwerdeführer die Vaterschaft mit Zustimmung der Kindesmutter am 18. April 2005 anerkannt hat, nicht
von ihm abstammt.
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1. a) Der Beschwerdeführer ist deutscher Staatsangehöriger. Die Kindesmutter besaß zuletzt die Staatsangehörigkeit des ehemaligen
Jugoslawiens.
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Im November 1998 reiste die Kindesmutter mit ihrem damaligen Ehemann und ihrer ältesten Tochter zur Durchführung eines Asylverfahrens
in die Bundesrepublik ein. Trotz Ablehnung ihres Asylantrags wurde der weitere Aufenthalt der Kindesmutter und ihrer Familie
aufgrund der Bürgerkriegslage geduldet. Im Dezember 1999 gebar die Kindesmutter ihr zweites Kind. Als in den Jahren 2000/2001
Rückführungen in die Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens vorgenommen wurden, beantragten die Kindesmutter und ihre
Familie die Erteilung einer weiteren Duldung, die ihnen versagt wurde. Eine anberaumte Rückführung im Mai 2004 konnte nicht
durchgeführt werden, da die Kindesmutter mit ihrer Familie unbekannten Aufenthalts war. Nach einer Überstellung der Kindesmutter,
ihres damaligen Ehemanns und ihrer beiden Kinder im November 2004 aus Schweden in die Bundesrepublik beantragte die Familie
erneut die Anerkennung als Asylberechtigte. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte jedoch die Durchführung eines
weiteren Asylverfahrens ab. Wiederaufnahmegründe seien nicht gegeben.
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Mit rechtskräftigem Urteil vom Februar 2005 wurde die Ehe der Kindesmutter in Serbien geschieden. Ende Februar/Anfang März
2005 legte die Kindesmutter bei der zuständigen Ausländerbehörde in der Bundesrepublik einen Nachweis vor, wonach sie erneut
schwanger sei. Aufgrund der Vaterschaftsanerkennung durch einen deutschen Staatsangehörigen erwarb ihr drittes Kind die deutsche
Staatsangehörigkeit nach § 4 Abs. 1 Staatsangehörigkeitsgesetz. Die Kindesmutter erhielt daraufhin erstmals eine Aufenthaltserlaubnis
nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Aufenthaltsgesetz.
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Im April 2009 versicherte der Beschwerdeführer eidesstattlich, dass er der Vater des anerkannten Kindes sei und das Kind bereits
direkt nach der Geburt im Krankenhaus besucht habe. In den ersten Lebensmonaten des Kindes habe er sich intensiv um sein Kind
gekümmert und es einmal in der Woche besucht. Nach etwa einem halben Jahr seien die Besuche weniger geworden, da er eine Vollzeittätigkeit
als Schlosser erhalten habe, bei der er häufig am Wochenende oder auf Montage arbeiten müsse. Ferner habe der Beschwerdeführer
noch eine minderjährige Tochter, mit der er nicht zusammenlebe und die er ebenfalls regelmäßig besuche. Die letzten dreieinhalb
Jahre habe er daher seinen Sohn regelmäßig ein bis zwei Mal im Monat an Wochenenden und zu den Geburtstagen besucht. Unterhalt
zahle er derzeit nicht für sein Kind, würde dies aber bei einer Aufforderung durch das Jugendamt tun.
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b) Mit Klage vom 23. November 2009 gegen den Beschwerdeführer und das Kind D. beantragte die Bezirksregierung A. beim Amtsgericht
Gelsenkirchen festzustellen, dass der Beschwerdeführer nicht der leibliche Vater des Kindes D. ist.
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c) Mit Beschluss vom 19. Januar 2010 ordnete das Amtsgericht Gelsenkirchen ohne vorherige mündliche Verhandlung die Einholung
eines Abstammungsgutachtens an.
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Daraufhin beantragte der Beschwerdeführer, den Beweisbeschluss aufzuheben und gemäß § 175 Abs. 1 FamFG vor Einholung eines
Gutachtens im Rahmen einer mündlichen Verhandlung die Frage des Bestehens einer sozial-familiären Beziehung zwischen dem Beschwerdeführer
und seinem Kind D. zu klären. In der danach anberaumten mündlichen Verhandlung wies das Gericht darauf hin, dass es bei einer
erfolgreichen Feststellung der biologischen Vaterschaft des Beschwerdeführers durch ein Abstammungsgutachten nicht mehr auf
die sozial-familiäre Beziehung ankomme.
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d) Mit angegriffenem Zwischenbeschluss vom 2. Juni 2010 stellte das Amtsgericht Gelsenkirchen fest, dass der Beschwerdeführer
verpflichtet sei, die für die Erstellung des mit Beschluss vom 19. Januar 2010 angeforderten Gutachtens erforderlichen Untersuchungen
zu dulden. Nach § 1600 Abs. 3 BGB könne die Anfechtung der zuständigen Behörde nur dann Erfolg haben, wenn der Beschwerdeführer
nicht der leibliche Vater des Kindes D. sei, zwischen ihm und dem Kind keine sozial-familiäre Beziehung bestehe und durch
die Vaterschaftsanerkennung rechtliche Voraussetzungen für den Aufenthalt des Kindes oder der Kindesmutter in der Bundesrepublik
geschaffen worden seien. In welcher Reihenfolge die Prüfung insoweit stattzufinden habe, ergebe sich aus dem Gesetz nicht.
Im Übrigen gehe das Gericht davon aus, dass die Feststellung der Vaterschaft durch ein Abstammungsgutachten im Regelfall zu
sichereren Ergebnissen führe als die Prüfung der Frage, ob eine sozial-familiäre Beziehung bestehe. Inwieweit durch die gerichtliche
Verfahrensweise Art. 6 GG betroffen sein solle, erschließe sich dem Gericht nicht.
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e) Auf die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde wies das Oberlandesgericht Hamm mit Beschluss vom 14. Juli 2010 darauf
hin, dass die Beschwerde keine Erfolgsaussicht habe. In welcher Reihenfolge das Amtsgericht bei der Erhebung der erforderlichen
Beweise vorgehe, könne nicht Gegenstand des Beschwerdeverfahrens sein. Das Ermessen des Amtsgerichts bei der Festlegung der
Reihenfolge sei auch nicht auf Null reduziert gewesen. Der Beschwerdeführer habe zwar darauf hingewiesen, dass die angeordnete
Begutachtung in seine Grundrechte eingreife. Jedoch berühre auch eine Beweiserhebung über die Frage, ob eine sozial-familiäre
Beziehung zwischen dem Beschwerdeführer und seinem Kind bestehe, die Grundrechte der in eine solche Beweiserhebung einzubeziehenden
Personen. Komme das Abstammungsgutachten zu dem Ergebnis, dass der Beschwerdeführer der leibliche Vater des Kindes sei, werde
eine Beweiserhebung zur Frage, ob eine sozial-familiäre Beziehung zwischen dem Beschwerdeführer und seinem Kind bestehe, entbehrlich.
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Mit angegriffenem Beschluss vom 25. August 2010 wies das Oberlandesgericht Hamm die sofortige Beschwerde zurück.
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2. Mit seiner Verfassungsbeschwerde und dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung rügt der Beschwerdeführer die
Verletzung seines Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG.
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II.
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1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat Erfolg.
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a) Nach § 32 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies
zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl
dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Entscheidung vorgetragen
werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, der in der Hauptsache gestellte Antrag ist insgesamt unzulässig
oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen,
die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde indes Erfolg hätte, gegenüber
den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die angegriffene Regelung nicht erginge (vgl. BVerfGE 91, 320 326>; stRspr).
Wegen der meist weittragenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren auslöst,
ist bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 87, 107 111>;
stRspr). Im Zuge der nach § 32 Abs. 1 BVerfGG gebotenen Folgenabwägung legt das Bundesverfassungsgericht seiner Entscheidung
in aller Regel die Tatsachenfeststellungen und Tatsachenwürdigungen in den angegriffenen Entscheidungen zugrunde (vgl. hierzu
etwa BVerfGE 34, 211 216>; 36, 37 40>).
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b) Die erhobene Verfassungsbeschwerde erweist sich weder als offensichtlich unzulässig noch als offensichtlich unbegründet.
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Die danach gebotene Folgenabwägung ergibt, dass die Nachteile, die dem Beschwerdeführer im Falle der Ablehnung des Erlasses
der begehrten einstweiligen Anordnung drohen, gewichtiger als die Nachteile sind, die im Falle der Stattgabe entstehen könnten.
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Erginge die beantragte einstweilige Anordnung nicht und erwiese sich die Verfassungsbeschwerde im Hauptsacheverfahren als
begründet, würde dies dazu führen, dass der Beschwerdeführer unter Verstoß gegen sein Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1
GG einen körperlichen Eingriff dulden müsste, die vom Ausgangsgericht für erforderlich gehaltene Abstammungsuntersuchung zu
dem Ergebnis kommen könnte, dass das Kind nicht vom Beschwerdeführer abstammt, und dazu, dass die rechtliche Beziehung des
Beschwerdeführers zu dem Kind aufgehoben sowie seine eventuell bestehende soziale Beziehung zu diesem dadurch gestört werden
könnte.
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Demgegenüber führt der Erlass der einstweiligen Anordnung für den Fall, dass sich die Verfassungsbeschwerde im Hauptsacheverfahren
als unbegründet erweist, lediglich dazu, dass die für erforderlich gehaltene Abstammungsuntersuchung später erfolgen würde.
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2. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 3 BVerfGG.