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    BVerfG 27.01.2025 - 1 BvR 2184/24 - Nichtannahmebeschluss: Zur Reichweite des Anspruchs auf schulische Bildung (Art 2 Abs 1 GG iVm Art 7 Abs 1 GG) - hier: Unzulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde gegen eine Kostenentscheidung im Verwaltungsprozess nach Erledigung - Verletzung des Willkürverbots durch fachgerichtliche Einschätzung der Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung (Zuweisung eines Schulplatzes) nicht dargelegt

    Normen

    Artikel 2, Artikel 3, Artikel 7

    Vorinstanz

    vorgehend Sächsisches Oberverwaltungsgericht, 23. August 2024, Az: 2 B 71/24, Beschluss
    vorgehend Sächsisches Oberverwaltungsgericht, 22. Juli 2024, Az: 2 B 71/24, Kostenfestsetzungsbeschluss

    Tenor

    Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

    Gründe

    I.

    1

    Die Beschwerdeführerin wendet sich mit der Verfassungsbeschwerde gegen die Kostenentscheidung in einem verwaltungsgerichtlichen Einstellungsbeschluss sowie gegen die Zurückweisung ihrer Anhörungsrüge. Sie ist peruanische Staatsangehörige und lebt mit ihren beiden zwölf und dreizehn Jahre alten Kindern seit dem (…) 2024 in (…). Sie kam im Wege des Familiennachzugs nach Deutschland, nachdem sie im (...) 2023 einen spanischen Staatsangehörigen geheiratet hat, der schon seit neun Jahren in (…) lebt.

    2

    Im Ausgangsverfahren begehrte sie für ihre beiden Kinder die Aufnahme in eine Vorbereitungsklasse einer Schule für Kinder mit geringen oder keinen Deutschkenntnissen. Auf telefonische Nachfrage erhielt sie die Auskunft, ein Schulplatz könne frühestens mit Beginn des nächsten Schuljahres zugeteilt werden.

    3

    1. Daraufhin beantragte sie beim Verwaltungsgericht (…), ihren Kindern im Wege der einstweiligen Anordnung einen möglichst nahe an ihrem Wohnort gelegenen Schulplatz zuzuweisen. Dies hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 6. Mai 2024 abgelehnt. Es fehle an einem Anordnungsanspruch. Zwar bestehe nach Art. 102 Abs. 1 SächsVerf in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 7 Abs. 1 GG ein Anspruch der beiden Kinder auf Zuweisung eines Schulplatzes. Der Zeitraum bis zu einer Zuteilung könne jedoch insbesondere aus Gründen fehlender Kapazität verlängert werden. Nach derzeitigem Kenntnisstand sei davon auszugehen, dass die Kinder nach der sächsischen Konzeption zur Integration von Migranten wegen ungenügender Deutschkenntnisse zunächst eine Vorbereitungsklasse besuchen müssten, bis eine Beschulung in einer regulären Klasse möglich sei. Bei dieser Konzeption gehe es darum, die betroffenen Kinder in Etappen an eine ihren Fähigkeiten und Neigungen in vollem Umfang entsprechende Bildung heranzuführen. Es sei auch nicht ersichtlich, dass in Wohnortnähe eine geeignete Schule besonderer pädagogischer Prägung etwa mit den Partnersprachen Deutsch und Spanisch zur Verfügung stehe, bei der Belastungen der Lehrer und Mitschüler infolge der unzureichenden Sprachkenntnisse vermeidbar wären.

    4

    2. Hiergegen hat die Beschwerdeführerin Beschwerde zum Sächsischen Oberverwaltungsgericht eingelegt. Schließlich hat sie den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt, da ihre beiden Kinder mittlerweile für das am 5. August 2024 begonnene Schuljahr einen Schulplatz an einer Schule in freier Trägerschaft erlangen konnten. Das Sächsische Oberverwaltungsgericht hat das Beschwerdeverfahren eingestellt und den Beteiligten die Kosten beider Rechtszüge je zur Hälfte auferlegt. Dies entspreche billigem Ermessen, weil es offen sei, ob die Beschwerdeführerin mit ihrem Begehren Erfolg gehabt hätte. Zwar habe sie sich auf den Beschluss des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19. November 2021 - 1 BvR 971/21 u.a. - (BVerfGE 159, 355) berufen, wonach aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 GG ein Recht auf schulische Bildung folgt. Es sei jedoch offen, ob der Freistaat Sachsen die erforderlichen Bildungsleistungen wegen aktuell unüberwindlicher personeller, sächlicher oder organisatorischer Zwänge tatsächlich nicht habe erbringen können.

    5

    Die hiergegen erhobene Anhörungsrüge hat das Sächsische Oberverwaltungsgericht zurückgewiesen.

    II.

    6

    Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung ihrer verfassungsmäßigen Rechte aus Art. 3 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 1 GG durch die Kostenentscheidung des Oberverwaltungsgerichts. Die Einschätzung des Gerichts, die Erfolgsaussichten des Antrags der Beschwerdeführerin auf vorläufige Verpflichtung des Freistaats Sachsen zur unverzüglichen Zuweisung eines wohnortnahen Schulplatzes seien bis zum Zeitpunkt der Erledigung des einstweiligen Anordnungsverfahrens offen gewesen, beruhe auf einer krassen, das Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG verletzenden Missdeutung des vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Rechts auf schulische Bildung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 GG. Danach bestehe ein Anspruch der Schülerinnen und Schüler auf Einhaltung des für ihre Persönlichkeitsentwicklung unverzichtbaren Mindeststandards von Bildungsleistungen an staatlichen Schulen. Werde - wie hier - über einen längeren Zeitraum überhaupt keine Beschulung angeboten, sei der Mindeststandard schulischer Bildung evident unterschritten. Die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, einem Anspruch auf unverzügliche Zuweisung eines Schulplatzes könnten möglicherweise personelle, sächliche oder organisatorische Zwänge entgegenstehen, sei mit Blick auf die ausdrücklichen gegenteiligen Aussagen des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr vertretbar. Die Nichtbeachtung des dahingehenden Vorbringens der Beschwerdeführerin durch das Oberverwaltungsgericht sowohl im Beschluss über die Einstellung des Beschwerdeverfahrens als auch im Anhörungsrügebeschluss stelle zugleich eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör dar.

    III.

    7

    Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen (§ 93a Abs. 2 BVerfGG), weil sie unzulässig ist. Sie legt nicht den gesetzlichen Darlegungsanforderungen (§ 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG) entsprechend dar, dass die der Kostenentscheidung des Oberverwaltungsgerichts zugrunde liegende Annahme, es sei offen, ob die von der Beschwerdeführerin begehrte Zuweisung eines Schulplatzes vom Freistaat Sachsen wegen aktuell unüberwindlicher personeller, sächlicher oder organisatorischer Zwänge tatsächlich nicht habe geleistet werden können, mit Blick auf das Recht der Kinder der Beschwerdeführerin aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 GG das Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG verletzt.

    8

    1. a) Willkürlich ist ein Richterspruch dann, wenn er unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass er auf sachfremden Erwägungen beruht. Willkür liegt erst vor, wenn die Rechtslage in krasser Weise verkannt wird (vgl. BVerfGE 89, 1 13 f.>; stRspr).

    9

    b) Aus dem Recht auf schulische Bildung nach Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 GG folgt ein Anspruch der Schülerinnen und Schüler auf Einhaltung eines nach allgemeiner Auffassung für ihre chancengleiche Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit unverzichtbaren Mindeststandards von Bildungsangeboten an staatlichen Schulen (vgl. BVerfGE 159, 355 386 f. Rn. 57>). Der Mindeststandard ist jedenfalls dann unterschritten, wenn den Schülern über einen längeren Zeitraum überhaupt kein Unterricht angeboten wird (vgl. BVerfGE 159, 355 428 f. Rn. 171, 430 Rn. 174>; vgl. auch BVerfGE 167, 239 269 Rn. 76> zur Ausbildungs- und Berufsfähigkeit). Dem Anspruch der Schülerinnen und Schüler auf Einhaltung des Mindeststandards schulischer Bildung können zwar ausnahmsweise überwiegende Gründe des Schutzes von Verfassungsrechtsgütern entgegenstehen; der Staat kann dem Anspruch jedoch weder die ihm nach Art. 7 Abs. 1 GG eröffnete Freiheit bei der Gestaltung von Schule entgegenhalten noch sich darauf berufen, knappe öffentliche Mittel für andere Staatsaufgaben einsetzen zu wollen (vgl. BVerfGE 159, 355 386 f. Rn. 57, 430 Rn. 174>). Der Anspruch auf Wahrung des Mindeststandards schulischer Bildung besteht nicht, soweit er wegen aktuell unüberwindlicher personeller, sächlicher oder organisatorischer Zwänge tatsächlich nicht erfüllt werden kann; der Staat ist indes verpflichtet, die möglichen Vorkehrungen zur Wahrung des Mindeststandards zu treffen (vgl. BVerfGE 159, 355 386 Rn. 56, 428 Rn.169, 430 f. Rn. 174>).

    10

    2. Die Beschwerdeführerin zeigt nicht auf, dass das Oberverwaltungsgericht diese Aussagen bei seiner für die Kostenentscheidung maßgeblichen Einschätzung der Erfolgsaussichten des einstweiligen Anordnungsverfahrens in krasser Weise missdeutet hat.

    11

    Das Gericht hat weder ein Unterschreiten des Mindeststandards im Falle der Kinder der Beschwerdeführerin bezweifelt noch das Bestehen eines Anspruchs auf unverzügliche Zuweisung eines Schulplatzes deshalb offengelassen, weil der Freistaat Sachsen das Fehlen ausreichender Vorbereitungsklassen für Schüler mit unzureichenden Deutschkenntnissen möglicherweise mit einer anderweitigen Verwendung der dafür notwendigen Mittel rechtfertigen könne. Vielmehr hat es als nicht geklärt angesehen, ob Vorbereitungsklassen wegen aktuell unüberwindlicher personeller, sächlicher oder organisatorischer Zwänge nicht in ausreichender Anzahl zur Verfügung gestellt werden konnten. Diese Annahme steht als solche entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin in Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Zwar besteht kein Vorbehalt des Möglichen in finanzieller Hinsicht (vgl. dazu BVerfGE 33, 303 333 ff.>); die Wahrung des Mindeststandards schulischer Bildung kann jedoch nicht verlangt werden, soweit dies dem Staat aus zwingenden personellen, sächlichen oder organisatorischen Gründen tatsächlich nicht möglich ist (vgl. BVerfGE 159, 355 386 Rn. 56, 430 f. Rn. 174>). Auch wenn es nicht Aufgabe eines Schülers ist darzulegen, dass Kapazitäten zur Beschulung tatsächlich vorhanden seien, ist nicht substantiiert geltend gemacht, dass die Annahme des Oberverwaltungsgerichts eine solche tatsächliche Unmöglichkeit sei hier aber offen, die Grenze zur Willkür überschritten habe. Die Verfassungsbeschwerde setzt sich insoweit insbesondere nicht mit der Frage auseinander, welche Bedeutung den mit der sächsischen Konzeption zur schulischen Integration der Kinder mit unzureichenden Deutschkenntnissen verfolgten Zielen für die Ausschöpfung der vorhandenen Kapazitäten zukommt. Auch hatte der Freistaat Sachsen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren unter anderem vorgetragen, dass in erheblichem Maße Anstrengungen unternommen würden, um eingewanderten Kindern eine Beschulung zu ermöglichen, dass die Anzahl der im Laufe eines Kalenderjahres einwandernden beziehungsweise geflüchteten Kinder aber nicht prognostizierbar sei und zudem der Bedarf an konkreten Schulplätzen auch erst dann ermittelt werden könne, wenn diese die Erstaufnahmeeinrichtung verließen und eine ausländerrechtliche Zuweisung in eine bestimmte Gemeinde erhielten. Dass angesichts dessen die Annahme fehlender personeller und organisatorischer Möglichkeiten und damit ein offener Ausgang des Verfahrens eine willkürliche Annahme sei, legt die Verfassungsbeschwerde nicht dar.

    12

    3. Von einer weiteren Begründung der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

    13

    Diese Entscheidung ist unanfechtbar.


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