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BSG 27.10.2020 - B 3 KR 18/20 B
BSG 27.10.2020 - B 3 KR 18/20 B - (Krankenversicherung - Vorliegen einer schweren Erkrankung iS von § 2 Abs 1a SGB 5hier: drohende Erblindung)
Normen
Vorinstanz
vorgehend SG Stuttgart, 18. Juni 2019, Az: S 9 KR 1689/18, Urteil
vorgehend Landessozialgericht Baden-Württemberg, 18. Februar 2020, Az: L 11 KR 2478/19, Urteil
Tenor
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Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 18. Februar 2020 wird als unzulässig verworfen.
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Die Beklagte hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.
Gründe
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I. Das LSG hat mit Urteil vom 18.2.2020 den Anspruch der Klägerin auf Kostenerstattung für ihre Behandlung mit der Transkornealen Elektrostimulationstherapie (TES) und dem OkuStim®-System nebst Kostenübernahme für die zukünftige Therapie bestätigt: Die bei der Beklagten krankenversicherte Klägerin leide ua an einer erblich bedingten Netzhauterkrankung (Retinitis pigmentosa beidseits). Die Erkrankung führe in den meisten Fällen zur Erblindung. Der Einsatz der TES ziele darauf ab, durch elektrische Reize der Netzhaut mittels einer Hornhautelektrode den Untergang der Sinneszellen zu verlangsamen und die Sehleistung der Betroffenen länger zu erhalten. Bei dem OkuStim®-System handele es sich um ein CE-gekennzeichnetes Medizinprodukt der Risikoklasse IIa. Der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) habe am 20.7.2017 hierzu die "Richtlinie zur Erprobung der Transkornealen Elektrostimulation bei Retinopathia Pigmentosa" erlassen (BAnz AT 06.10.2017 B3). Der Sachleistungsanspruch der Klägerin beruhe auf § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V iVm § 2 Abs 1a SGB V. Das Hilfsmittel sei untrennbarer Bestandteil einer neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethode zur Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung iS von § 33 Abs 1 Satz 1 Var 1 SGB V. Eine Behandlung im Rahmen der vom GBA beschlossenen Erprobungsrichtlinie für OkuStim® sei nicht möglich, da die Erkrankung der Klägerin bereits sehr weit fortgeschritten sei. Es liege daher ein Ausnahmefall vor, der keiner Empfehlung des GBA bedürfe. Die Klägerin könne sich auf die strengen Voraussetzungen der Schwere einer Erkrankung iS von § 2 Abs 1a SGB V berufen, zu der auch der nicht kompensierbare Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion zähle. Die Klägerin gelte bereits als blind im Sinne des Gesetzes. Der weit fortgeschrittene Krankheitsverlauf stelle eine notstandsähnliche Situation mit einem gewissen Zeitdruck dar, denn jede weitere Verschlechterung führe angesichts des sehr geringen vorhandenen Restsehvermögens zu einem irreparablen Schaden.
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Die Beklagte hat Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG eingelegt. Sie beruft sich auf eine Rechtsprechungsabweichung iS von § 160 Abs 2 Nr 2 SGG.
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II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig, weil die Beklagte das Vorliegen einer Divergenz - den gesetzlichen Anforderungen entsprechend - nicht hinreichend aufgezeigt hat (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Die Verwerfung der unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 2 und 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.
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Divergenz liegt vor, wenn die tragenden abstrakten Rechtssätze, die zwei Entscheidungen zugrunde gelegt worden sind, nicht übereinstimmen. Sie kommt nur dann in Betracht, wenn das LSG einen tragenden abstrakten Rechtssatz in Abweichung von einem vorhandenen abstrakten Rechtssatz des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG aufgestellt hat. Eine Abweichung liegt folglich nicht schon dann vor, wenn das Urteil des LSG nicht den Kriterien entspricht, die das BSG aufgestellt hat, sondern erst, wenn das LSG diesen Kriterien widersprochen, also andere rechtliche Maßstäbe entwickelt hat. Nicht die Unrichtigkeit der Entscheidung im Einzelfall, sondern die Nichtübereinstimmung im Grundsätzlichen begründet die Zulassung der Revision wegen Abweichung. Darüber hinaus verlangt der Zulassungsgrund der Divergenz, dass das angefochtene Urteil auf der Abweichung beruht (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG). Bezogen auf die Darlegungspflicht bedeutet dies: Die Beschwerdebegründung muss erkennen lassen, welcher abstrakte Rechtssatz in der in Bezug genommenen Entscheidung enthalten ist und welcher im Urteil des LSG enthaltene Rechtssatz dazu im Widerspruch steht. Ferner muss aufgezeigt werden, dass auch das BSG die oberstgerichtliche Rechtsprechung im Revisionsverfahren seiner Entscheidung zugrunde zu legen haben wird (stRspr, vgl zum Ganzen: BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 13 RdNr 17; BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 10 RdNr 4; BSG SozR 1500 § 160a Nr 67 S 89 ff; BSG SozR 1500 § 160a Nr 14 S 22).
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Die Beklagte rügt, dass das LSG von folgenden Ausführungen im Urteil des BSG vom 14.12.2006 (B 1 KR 12/06 R - SozR 4-2500 § 31 Nr 8 RdNr 20) abgewichen sei:
"Gerechtfertigt ist eine verfassungskonforme Auslegung der einschlägigen gesetzlichen Regelungen daher nur, wenn eine notstandsähnliche Situation im Sinne einer in einem gewissen Zeitdruck zum Ausdruck kommenden Problematik vorliegt, wie sie für einen zur Lebenserhaltung bestehenden akuten Behandlungsbedarf typisch ist. Das bedeutet, dass nach den konkreten Umständen des Falles bereits drohen muss, dass sich der voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklichen wird. Ähnliches kann für den ggf. gleichzustellenden, nicht kompensierbaren Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion gelten."
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Demgegenüber habe das LSG (S 13 der Entscheidungsgründe) ausgeführt:
"dass eine notstandsähnliche Situation mit einem gewissen Zeitdruck vorliege, da angesichts des nur noch sehr geringen Restsehvermögens jede weitere Verschlechterung zu einem irreparablen Schaden führe. Der Annahme einer notstandsähnlichen Situation stehe nicht entgegen, dass der Zeitpunkt der vollständigen Erblindung im Sinne einer fehlenden Lichtwahrnehmung nicht genau prognostiziert werden könne."
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Hierzu führt die Beklagte weiter aus, dass eine drohende Erblindung zwar grundsätzlich als wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung in Betracht komme, während hochgradige Sehstörungen nach der Rechtsprechung des BSG nicht gleichzustellen seien (Hinweis auf BSGE 106, 81 = SozR 4-1500 § 109 Nr 3, RdNr 31). Die drohende Erblindung in 20 bis 30 Jahren wegen Stoffwechselstörung sei zB nicht als notstandsähnliche extremste Situation gewertet worden (Hinweis auf BSG Beschluss vom 26.9.2006 - B 1 KR 16/06 B).
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Das LSG habe hier das höchstrichterlich geprägte Zeitmoment nicht hinreichend berücksichtigt, weil es bereits die Wahrscheinlichkeit des Fortschritts einer schwerwiegenden Erkrankung habe genügen lassen, um die Voraussetzungen von § 2 Abs 1a SGB V zu bejahen. Diese Bewertung stimme nicht mit den rechtlichen Maßstäben des BSG überein. Das LSG hätte daher den Leistungsanspruch nach § 2 Abs 1a Satz 1 SGB V ablehnen müssen.
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Mit diesem Vortrag hat die Beklagte eine Divergenz nicht hinreichend bezeichnet.
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Das BSG hat die verfassungsrechtlichen Vorgaben aus dem sog Nikolaus-Beschluss des BVerfG vom 6.12.2005 (BVerfGE 115, 25, 49 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5 RdNr 33) zum Anspruch auf Krankenbehandlung in Fällen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung in der Folgezeit näher konkretisiert und hat dabei in die grundrechtsorientierte Auslegung auch Erkrankungen einbezogen, die mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung wertungsmäßig vergleichbar sind, wie etwa der nicht kompensierbare Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion (vgl zuletzt BSG Urteil vom 19.3.2020 - B 1 KR 22/18 R - juris RdNr 20). Eine drohende Erblindung kommt als eine solche Erkrankung in Betracht (vgl BSGE 106, 81 = SozR 4-1500 § 109 Nr 3, RdNr 31; BSGE 96, 153 = SozR 4-2500 § 27 Nr 7, RdNr 31); hochgradige Sehstörungen reichen demgegenüber noch nicht aus (vgl BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 16 RdNr 13 ff zur starken Kurzsichtigkeit kombiniert mit Astigmatismus bei Kontaktlinsen- und Brillenunverträglichkeit).
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Das LSG hat die og maßgebliche Rechtsprechung des BSG seiner Entscheidung zugrunde gelegt, insbesondere auch zu den rechtlichen Anforderungen an eine notstandsähnliche Situation. Es hat sich daher im Ausgangspunkt nicht mit dem vom BSG vorgegebenen Maßstab in Widerspruch gesetzt. Das Vorliegen der Schwere einer Erkrankung iS von § 2 Abs 1a SGB V erfordert in zeitlicher Hinsicht eine notstandsähnliche Situation im Sinne einer in einem gewissen Zeitdruck zum Ausdruck kommenden Problematik, wie sie für einen zur Lebenserhaltung bestehenden akuten Behandlungsbedarf typisch ist. Das bedeutet, dass nach den konkreten Umständen des Falles bereits drohen muss, dass sich der voraussichtlich nicht kompensierbare Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklichen wird (stRspr, vgl BSG SozR 4-2500 § 31 Nr 8 RdNr 20; BSGE 100, 103 = SozR 4-2500 § 31 Nr 9, RdNr 32; BSG SozR 4-2500 § 2 Nr 12 LS und RdNr 21), sodass Versicherte nach allen verfügbaren medizinischen Hilfen greifen müssen (vgl nur BVerfG <Kammer> Beschluss vom 11.4.2017 - 1 BvR 452/17 - SozR 4-2500 § 137c Nr 8 = NJW 2017, 2096 = NZS 2017, 582, RdNr 25).
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Entgegen den Darlegungen der Beklagten hat das LSG hier nicht bereits die bloße Wahrscheinlichkeit des bloßen Fortschritts einer schwerwiegenden Erkrankung genügen lassen. Es hat vielmehr das höchstrichterlich geprägte Zeitmoment herangezogen und hat einen hinreichend konkreten Prognosezeitraum angenommen. Unter Bezugnahme auf die Einschätzung der Fachärztin S. vom 1.10.2019, die zur Schwere des Krankheitsverlaufs durch das LSG zuletzt befragt worden ist, hat es eine weitere irreparable Verschlechterung des Sehvermögens "innerhalb der nächsten Monate" für sehr wahrscheinlich gehalten. Es ist im Rahmen des im angestrebten Revisionsverfahren maßgebenden Prüfungsmaßstabs (vgl § 163 SGG) sowie im Hinblick auf die für das Beschwerdeverfahren geltenden Einschränkungen (vgl § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 iVm § 128 Abs 1 Satz 1 SGG) nicht zu beanstanden, dass das LSG die notstandsähnliche Situation hier auf den irreparablen Schaden des Verlusts der geringen Restsehfähigkeit bezogen hat. Die TES wird gezielt zur Verlangsamung des irreparablen Verlusts der Sehfähigkeit eingesetzt. Das LSG hat insoweit für den weiteren Gang der Prüfung bindend festgestellt, dass auch ein noch so geringes Restsehvermögen für die Klägerin von überragender Bedeutung sei. Nach den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen Feststellungen hat das LSG die Situation in seiner Subsumtion auf den Fall der Klägerin daher als notstandsähnlich beurteilt: Einerseits habe bei ihr die hohe Wahrscheinlichkeit einer weiteren irreparablen Verschlechterung des nur noch sehr geringen Restsehvermögens innerhalb eines konkreten Prognosezeitraumes bestanden und andererseits habe ein gewisser Zeitdruck vorgelegen, weil Aussicht auf Verzögerung des fortschreitenden Verlaufs der Erkrankung und damit auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf bestanden habe.
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Wenn die Beklagte sinngemäß zugleich geltend macht, dass das LSG unzutreffend von einer notstandsähnlichen Situation ausgegangen sei, so stellt dieser Vortrag lediglich eine im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde von vornherein unzulässige Rüge der richterlichen Beweiswürdigung dar (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 iVm § 128 Abs 1 Satz 1 SGG), die der Beschwerde nicht zum Erfolg verhelfen kann. Im Übrigen ist es für eine Divergenzrüge nicht ausreichend, wenn nur die im Einzelfall als fehlerhaft gerügte Anwendung eines höchstrichterlichen Rechtssatzes durch das Berufungsgericht geltend gemacht wird (sog bloße Subsumtionsrüge, stRspr, vgl nur BSG Beschlüsse vom 9.4.2008 - B 6 KA 18/07 B - juris RdNr 17 und vom 17.6.2009 - B 6 KA 6/09 B - juris RdNr 16).
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Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
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Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung von § 193 SGG.
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