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BSG 24.03.2015 - B 8 SO 9/14 R
BSG 24.03.2015 - B 8 SO 9/14 R
Vorinstanz
vorgehend SG Köln, 12. Dezember 2012, Az: S 21 SO 294/12, Urteil
vorgehend Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 16. Januar 2014, Az: L 9 SO 40/13, Urteil
Tenor
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Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 16. Januar 2014 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
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Im Streit sind (noch) höhere Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) für die Zeit vom 1.1. bis 31.12.2011.
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Der 1982 geborene behinderte Kläger (Grad der Behinderung von 70) leidet an einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie. Er lebt gemeinsam mit seinem Vater in einer Wohnung. Die Beklagte zahlte dem Kläger ab September 2010 Grundsicherungsleistungen unter Berücksichtigung eines Regelsatzes in Höhe von 80 % des Eckregelsatzes eines Haushaltsvorstands, und ab Inkrafttreten des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (RBEG/SGB II/SGB XII-ÄndG vom 24.3.2011 - BGBl I 453) für die Zeit ab 1.1.2011 unter Berücksichtigung eines Regelsatzes nach der Regelbedarfsstufe 3 (291 Euro).
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Die Anträge vom 29.12.2011 auf "Überprüfung der leistungsrechtlichen Entscheidungen" für das Jahr 2011, insbesondere im Hinblick auf die Höhe des Regelsatzes, und "vorenthaltene Leistungen nachzuzahlen", lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 17.1.2012; Widerspruchsbescheid unter Beteiligung sozial erfahrener Dritter vom 15.6.2012). Für das Jahr 2010 hingegen half die Beklagte dem Widerspruch ab und zahlte die Differenz zum (Eck-) Regelsatz eines Haushaltsvorstands nach (Bescheid vom 8.3.2012). Die Klage, gerichtet auf höhere Leistungen ab 1.1.2011 blieb in beiden Instanzen ohne Erfolg (Urteil des Sozialgerichts Köln vom 12.12.2012; Urteil des Landessozialgerichts <LSG> Nordrhein-Westfalen vom 16.1.2014). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, weder habe die Beklagte das Recht unrichtig angewandt noch sei sie von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen. Sie habe vielmehr ab 1.1.2011 zu Recht lediglich Leistungen nach der Regelbedarfsstufe 3 in Höhe von 291 Euro gewährt, weil der Kläger im Haushalt seines Vaters lebe und damit keinen eigenen Haushalt führe. Die Höhe der Regelbedarfssätze sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Dass Leistungsberechtigte nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) ab Vollendung des 25. Lebensjahres Anspruch auf den vollen Regelsatz hätten, beruhe auf Systemunterschieden zwischen dem SGB II und dem SGB XII.
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Mit seiner Revision rügt der Kläger, die Regelbedarfsstufe 3 sei verfassungswidrig. Sie verstoße insbesondere gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, weil der Regelbedarfsbemessung insoweit keine spezielle Sonderauswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2008 zugrunde liege. Zudem sei der allgemeine Gleichheitssatz (Art 3 Abs 1 Grundgesetz <GG>) dadurch verletzt, dass über-25-jährige Leistungsbezieher nach dem SGB II den vollen Regelsatz erhielten, nicht aber über-25-jährige Leistungsbezieher von Grundsicherungsleistungen in einer im Übrigen vergleichbaren Lebenssituation. Darin liege zugleich ein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot behinderter Menschen iS des Art 3 Abs 3 Satz 2 GG.
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Der Kläger beantragt,
die Urteile des LSG und des SG sowie den Bescheid vom 17.1.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.6.2012 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die für das Jahr 2011 ergangenen Bewilligungsentscheidungen abzuändern und ihm für die Zeit vom 1.1. bis 31.12.2011 höhere Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zu zahlen.
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Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
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Sie hält die angefochtenen Entscheidungen für zutreffend.
Entscheidungsgründe
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Die Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung des Urteils und der Zurückverweisung der Sache an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz <SGG>).
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Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 17.1.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.6.2012 (§ 95 SGG), in der Sache begrenzt auf die Zeit vom 1.1. bis 31.12.2011. Anders als das LSG meint ist die Klage jedoch nicht auf die Prüfung der Zuordnung des Klägers zur Regelbedarfsstufe 1 oder 3 beschränkt. Denn der umfassende Antrag des Klägers vom 29.12.2011 ist auf Überprüfung "der leistungsrechtlichen Entscheidungen nach Maßgabe des § 44 SGB X" unter jedem denkbaren Gesichtspunkt und die Zahlung "vorenthaltener Leistungen" gerichtet. Deshalb ist nach dem Meistbegünstigungsgrundsatz davon auszugehen, dass es dem Kläger um höhere Leistungen, gleich aus welchem Rechtsgrund geht. Ob dem Kläger - unabhängig von der Frage der zutreffenden Regelbedarfsstufe - höhere Leistungen zustehen, konnte der Senat jedoch schon deshalb nicht abschließend prüfen, weil es bereits an jeglichen Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) zur Leistungshöhe im noch streitbefangenen Zeitraum fehlt.
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Das LSG wird zunächst die richtige Klageart zu bestimmen haben; diese hängt davon ab, in welcher Form Grundsicherungsleistungen für das Jahr 2011 bewilligt worden sind - Feststellungen des LSG fehlen dazu. Gegen bestandskräftige Bewilligungsbescheide wäre eine kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage zu erheben (§ 54 Abs 1 und 4, § 56 SGG). Soweit die Bewilligung für einzelne Zeiträume ggf nur konkludent (§ 33 Abs 2 SGB X) - etwa durch Überweisung von Geld - erfolgt sein sollte, wäre der Antrag ggf auch als Widerspruch gegen noch nicht bestandskräftige Bewilligungen zu verstehen, soweit mangels Rechtsbehelfsbelehrung die Widerspruchsfrist von einem Jahr (§ 84 Abs 2 Satz 3 SGG iVm § 66 SGG) noch nicht verstrichen war. In diesem Fall wäre die Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 und 4 SGG) die richtige Klageart. In der Sache handelt es sich in jedem Fall um eine Klage auf höhere Leistungen dem Grunde nach.
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An welcher verwaltungsverfahrensrechtlichen Norm sich der geltend gemachte Anspruch bei bestandskräftigen Verwaltungsakten misst, § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) oder § 48 SGB X, lässt sich ebenfalls nicht abschließend beurteilen. Letztlich konnte dies aber schon deshalb offen bleiben, weil das LSG ohnedies noch Feststellungen in der Sache nachzuholen hat. Denn ob mit den zum 1.1.2011 in Kraft getretenen Gesetzesänderungen in den rechtlichen Verhältnissen, die bei Erlass eines (begünstigenden) Verwaltungsaktes vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung der Verhältnisse eingetreten ist, wie dies § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X voraussetzt, oder ob eine Entscheidung iS des § 44 SGB X von Anfang an rechtswidrig erfolgte, kann nicht abschließend entschieden werden, weil auch die erforderlichen Feststellungen des LSG zum Anspruchsgrund und zur (richtigen) Anspruchshöhe fehlen.
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Gemäß § 19 Abs 2 SGB XII iVm § 41 Abs 1 und 3 SGB XII (jeweils in der Normfassung des RBEG/SGB II/SGB XII-ÄndG) erhalten Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt im Inland, die das 18. Lebensjahr vollendet haben und dauerhaft voll erwerbsgemindert sind, auf Antrag Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, wenn sie ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht aus Einkommen und Vermögen nach den §§ 82 bis 84 und 90 SGB XII bestreiten können. Es wird bereits nicht hinreichend deutlich, worauf das LSG den (rechtlichen) Schluss stützt, der Kläger sei auf Dauer voll erwerbsgemindert.
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Die Höhe der Ansprüche auf Grundsicherungsleistungen richtet sich nach § 42 Nr 1 SGB XII (in der Normfassung des RBEG/SGB II/SGB XII-ÄndG); eine Verminderung des Regelbedarfs ab 1.1.2011 aus Anlass der Neuregelung konnte sich hier unabhängig von der Übergangsregelung in § 137 SGB XII vor dem 1.4.2011 nicht zu Lasten des Klägers auswirken, weil er bis dahin ohnehin nicht 100% des Eckregelsatzes erhalten hatte. Nach § 42 Nr 1 SGB XII umfassen die Grundsicherungsleistungen ua die Regelbedarfe; ergänzend ist § 27a Abs 3 und Abs 4 Satz 1 und 2 SGB XII (ebenfalls in der Normfassung des RBEG/SGB II/SGB XII-ÄndG) anzuwenden. Zur Deckung des Regelbedarfs sind danach monatliche Regelsätze zu gewähren, die sich nach den Regelbedarfsstufen der Anlage zu § 28 SGB XII ergeben (§ 27a Abs 3 Satz 1 SGB XII).
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Gemäß der Anlage zu § 28 SGB XII erhält seit dem 1.1.2011 Leistungen nach der Regelbedarfsstufe 1 in Höhe von 364 Euro eine erwachsene leistungsberechtigte Person, die als alleinstehende oder alleinerziehende Person einen eigenen Haushalt führt; dies gilt auch dann, wenn in diesem Haushalt eine oder mehrere weitere erwachsene Personen leben, die der Regelbedarfsstufe 3 zuzuordnen sind. Leistungen der Regelbedarfsstufe 2 in Höhe von 328 Euro (mithin 90 vH der Regelbedarfsstufe 1) werden demgegenüber gewährt für jeweils zwei erwachsene Leistungsberechtigte, die als Ehegatten, Lebenspartner oder in eheähnlicher oder lebenspartnerschaftsähnlicher Gemeinschaft einen gemeinsamen Haushalt führen. Die Regelbedarfsstufe 3, die Leistungen in Höhe von 291 Euro (80 vH der Regelbedarfsstufe 1) vorsieht, gilt für eine erwachsene leistungsberechtigte Person, die weder einen eigenen Haushalt führt noch als Ehegatte, Lebenspartner oder in eheähnlicher oder lebenspartnerschaftsähnlicher Gemeinschaft einen gemeinsamen Haushalt führt. Für Kinder und Jugendliche sind - abhängig von ihrem Alter - die weiteren Regelbedarfsstufen 4 bis 6 gebildet.
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Wie der Senat in seiner Entscheidung vom 24.3.2015 (B 8 SO 5/14 R) in Fortführung seiner Entscheidungen vom 23.7.2014 (B 8 SO 14/13 R und B 8 SO 31/12 R) dazu im Einzelnen dargelegt hat, wird in § 39 Satz 1 1. Halbsatz SGB XII nF (ab 1.1.2011) vermutet, dass Personen bei Zusammenleben in einer Wohnung gemeinsam einen Haushalt führen, der auf diese Weise für jede Person zu einem "eigenen" wird. Diese gesetzliche Vermutung ist, wie der Senat betont hat, nicht bereits widerlegt, wenn eine Person gegenüber einer anderen in geringerem Umfang zur Haushaltsführung beiträgt; die Regelbedarfsstufe 3 kommt vielmehr erst dann zur Anwendung, wenn keinerlei eigenständige oder eine nur gänzlich unwesentliche Beteiligung an der Haushaltsführung vorliegt. In die Prüfung, ob die gesetzliche Vermutung der eigenständigen Haushaltsführung widerlegt ist, hat das Gericht erst einzutreten, wenn qualifizierter Vortrag des beklagten Sozialhilfeträgers zu den Auswirkungen der Behinderung auf die Fähigkeit zur Beteiligung an der Haushaltsführung Anlass gibt, wie der Senat ebenfalls ausführlich in seiner Entscheidung vom 24.3.2015 (B 8 SO 5/14 R) dargelegt hat und worauf zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen wird.
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Entgegen der Ansicht des LSG ist unter einer eigenständigen Haushaltsführung allerdings nicht eine eigeninitiative Beteiligung gemeint. Deshalb kann das für die Zuordnung zu einer Regelbedarfsstufe maßgebliche Kriterium der "Eigenständigkeit" der Haushaltsführung nur über die Fähigkeiten eines behinderten Menschen definiert und beurteilt werden. Sie ist nicht bereits dann zu verneinen, wenn sich die betreffende Person nicht eigeninitiativ, dh ohne Anleitung und/oder Überwachung an der Haushaltsführung beteiligen kann. Auf die Bereitschaft oder (intellektuelle) Fähigkeiten der Eltern kommt es dabei ebenso wenig an wie darauf, ob der behinderte Mensch sich tatsächlich beteiligt.
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Vor diesem Hintergrund sind die Ausführungen des LSG nicht geeignet, die Vermutung des § 39 SGB XII zu widerlegen. Sie basieren vielmehr auf der vom Senat nicht geteilten Ansicht, es müsse eine eigeninitiative Beteiligung im Sinne einer autonomen Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit des behinderten Menschen vorliegen und Eigenständigkeit könne nur bejaht werden, wenn der behinderte Mensch ohne Anleitung und ohne extrinsische Motivation (qualitativ und quantitativ) in etwa gleichwertig mit dem nichtbehinderten Menschen Tätigkeiten im Haushalt tatsächlich verrichtet. Wenn das LSG zudem ausführt, der Vater des Klägers sei der Hauptmieter der Wohnung und trage die "Generalunkosten" des Haushalts, ist dies rechtlich ohne Bedeutung, wie der Senat bereits in seiner Entscheidung vom 23.7.2014 (B 8 SO 14/13 R) ausführlich dargelegt hat. Zu den eigentlichen Voraussetzungen hat das LSG keine Feststellungen getroffen.
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Das LSG wird ggf über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
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