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BSG 05.04.2012 - B 10 LW 5/11 B
BSG 05.04.2012 - B 10 LW 5/11 B - Nichtzulassungsbeschwerde - Bezeichnung des Verfahrensmangels - Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz
Normen
§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 103 SGG
Vorinstanz
vorgehend SG Düsseldorf, 4. August 2009, Az: S 11 LW 3/06, Urteil
vorgehend Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 29. Juni 2011, Az: L 8 LW 5/09, Urteil
Tenor
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Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 29. Juni 2011 aufgehoben.
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Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
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I. Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Altersrente nach dem Gesetz über die Alterssicherung der Landwirte (ALG) ab einem früheren Zeitpunkt.
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Der am 8.1.1933 geborene Kläger war seit 1.1.1993 als landwirtschaftlicher Unternehmer bei der Beklagten versichert und zahlte Pflichtbeiträge. Diese gewährte dem Kläger Altersrente nach dem ALG ab dem 1.11.2004 (Bescheid vom 5.4.2005). Im nachfolgenden Rechtsstreit erklärte sich die Beklagte am 29.6.2011 vor dem Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG) bereit, dem Kläger bereits ab dem 1.9.2004 Altersrente zu gewähren. Der Kläger nahm dieses Teilanerkenntnis an und begehrte darüber hinaus eine Rentenzahlung ab dem 1.2.1998. Er habe bereits am 26.1.1998 postalisch einen formlosen "Kurzantrag" auf Rente gestellt und im Übrigen sein Rentenbegehren in verschiedenen Telefonaten mit Mitarbeitern der Beklagten zum Ausdruck gebracht.
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Mit Urteil vom 29.6.2011 hat das LSG einen Rentenanspruch des Klägers für die Zeit vor dem 1.9.2004 im Wesentlichen mit folgender Begründung verneint: Es sei nicht nachgewiesen, dass der Kläger vor September 2004 einen Rentenantrag gestellt habe. Eine frühere Antragstellung lasse sich insbesondere nicht den Akten der Beklagten entnehmen. Der Senat habe sich nicht zu einer weiteren Beweisaufnahme gedrängt gesehen. Soweit der Kläger vortrage, er habe Anfang 1998 einen formlosen "Kurzantrag" an die Beklagte abgesandt, führe dies nicht zu einer früheren Antragstellung. Denn der Antrag werde erst mit Zugang bei der Beklagten wirksam. Hierfür habe der Kläger keinen Beweis angetreten. Der Senat habe auch zum Inhalt angeblicher Telefonate mit Mitarbeitern der Beklagten im Januar 1998 keinen Beweis erheben müssen. Unterstelle man die konkretisierenden Angaben des Klägers, die dieser in der mündlichen Verhandlung gemacht habe, als wahr, so habe der Kläger darin keine mündliche Antragstellung beschrieben. Vielmehr sei es dem Kläger danach bei diesen Gesprächen allein darum gegangen, die Möglichkeit eingeräumt zu bekommen, weiter wartezeitrelevante Pflichtbeiträge zahlen zu können.
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Gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des LSG hat der Kläger beim Bundessozialgericht (BSG) Beschwerde eingelegt, die er mit dem Vorliegen eines Verfahrensmangels (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) begründet: Das LSG habe ua die Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) verletzt, weil es seinen Beweisanträgen ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt sei (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG). Er habe mit seinen Schriftsätzen vom 22.2.2011, 2.5.2011 und 29.6.2011 beantragt, über seine Behauptung, er habe bereits im Januar 1998 einen Rentenantrag gestellt, Beweis zu erheben, und zwar für einen schriftlichen Antrag vom 26.1.1998 durch Vernehmung seiner Tochter als Zeugin. Darüber hinaus habe er vorgetragen, er habe im Januar 1998 mehrere Telefonate mit Mitarbeitern der Beklagten geführt, in denen ihm erklärt worden sei, der Rentenantrag könne wegen fehlender Beiträge nicht wirksam bearbeitet werden. Diese Telefonate habe er von seinem Büro aus geführt, das er gemeinsam mit seiner Tochter unterhalten habe. Auch insoweit sei die Tochter als Zeugin angeboten worden. Zwar habe er in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG nicht erneut Beweisanträge gestellt, jedoch ausdrücklich zu Protokoll erklärt, dass der gesamte bisherige Vortrag weiterhin Gegenstand des Verfahrens bleibe. Mehr könne von einem nicht rechtskundig Vertretenen - wie ihm - nicht verlangt werden. Auch im Hinblick auf sein Alter gehe es nicht an, dass ihn das LSG auf seine wenigen protokollierten Worte in der mündlichen Verhandlung "festgenagelt" habe.
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II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist zulässig und begründet. Das angefochtene Urteil des LSG vom 29.6.2011 ist unter Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 103 SGG) ergangen (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG).
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1. Die Beschwerdebegründung genügt den Darlegungsanforderungen des § 160a Abs 2 S 3 SGG. Der Kläger hat hinreichend deutlich gemacht, warum sich das LSG zu der von ihm beantragten Beweiserhebung hätte gedrängt fühlen müssen (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG). Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Kläger im Berufungsverfahren nicht von einem berufsmäßigen Bevollmächtigten vertreten war (vgl dazu BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 1 RdNr 5, Nr 13 RdNr 11, jeweils mwN).
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2. Der vom Kläger gerügte Verfahrensmangel liegt vor. Das LSG hat seine in § 103 SGG normierte Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts dadurch verletzt, dass es allein aufgrund der als wahr unterstellten Einlassung des Klägers in der mündlichen Verhandlung eine Beweiserhebung über Zeitpunkt und Inhalt der behaupteten Telefonate des Klägers mit Mitarbeitern der Beklagten abgelehnt hat, ohne sich mit dem in der mündlichen Verhandlung durch den Verweis auf den gesamten bisherigen Vortrag ausdrücklich aufrechterhaltenen schriftsätzlichen Vorbringen und dem diesbezüglichen Beweisangebot (insbesondere Vernehmung der Tochter als Zeugin) auseinanderzusetzen. Damit hat es ohne hinreichende Begründung einen berücksichtigungsfähigen Beweisantrag übergangen (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG).
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Die Wendung "ohne hinreichende Begründung" in § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist materiell im Sinne von "ohne hinreichenden Grund" zu verstehen (BSG SozR 1500 § 160 Nr 5). Es kommt insoweit darauf an, ob das Gericht - auf der Grundlage seiner materiell-rechtlichen Auffassung - objektiv gehalten gewesen ist, den Sachverhalt zu den vom Beweisantrag erfassten Punkten weiter aufzuklären, ob es sich also zur beantragten Beweiserhebung hätte gedrängt fühlen müssen (stRspr seit BSG SozR 1500 § 160 Nr 5). Das Gericht muss mithin von allen Ermittlungsmöglichkeiten, die vernünftigerweise zur Verfügung stehen, Gebrauch machen. Einen Beweisantrag darf es nur ablehnen, wenn es auf die ungeklärte Tatsache nicht ankommt, wenn diese Tatsache als wahr unterstellt werden kann, wenn das Beweismittel völlig ungeeignet oder unerreichbar ist, wenn die behauptete Tatsache oder ihr Fehlen bereits erwiesen oder wenn die Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit überflüssig ist (vgl BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 12 RdNr 10).
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Legt man diese Maßstäbe zugrunde, so ist es - für sich genommen - rechtlich nicht zu beanstanden, dass das LSG über die im Schriftsatz vom 22.2.2011 enthaltene Behauptung des Klägers, seine Tochter habe am 26.1.1998 einen Kurzantrag nach Diktat geschrieben und zur Post gebracht, keinen Beweis durch deren Vernehmung als Zeugin erhoben hat; denn ausgehend von der materiell-rechtlichen Auffassung des LSG, für die Antragstellung sei der Zugang entscheidend, ist ein Nachweis der Absendung nicht ausreichend.
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Das LSG hätte sich jedoch, auch nachdem es den Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 29.6.2011 persönlich angehört hatte, gedrängt fühlen müssen, über den Zeitpunkt und den Inhalt der Telefonate des Klägers mit Mitarbeitern der Beklagten Beweis zu erheben, zumindest durch Vernehmung der ausdrücklich als Zeugin benannten Tochter.
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Der Kläger hat schriftsätzlich einen diesbezüglichen berücksichtigungsfähigen Beweisantrag gestellt: In den Schriftsätzen vom 7.10.2010 und vom 22.2.2011 hat der Kläger vorgetragen, dass nach Vorlage des formlosen Rentenantrags umfangreiche mündliche Beratungen erfolgt seien, in denen ihm erklärt worden sei, dass er wegen fehlender Pflichtbeitragszeiten noch keinen Anspruch auf Altersrente habe. Auf Aufforderung des LSG hat er im Schriftsatz vom 23.3.2011 Beweis durch Vernehmung seiner Tochter über die von ihm behauptete Tatsache angeboten, dass er, als er das 65. Lebensjahr erreicht hatte, diverse Male mit der Beklagten Telefonate wegen seiner Altersrente geführt habe. Mit Schriftsatz vom 2.5.2011 hat er seinen Vortrag dahingehend konkretisiert, dass er im Januar 1998 in mehreren Telefonaten mit der Beklagten auf sein Antragschreiben verwiesen habe und ihm die bearbeitende Person erklärt habe, den Rentenantrag könne sie derzeit noch nicht wirksam bearbeiten. Dieser könne erst Wirksamkeit erlangen, wenn fehlende Beiträge erbracht würden.
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Diesen berücksichtigungsfähigen Beweisantrag hat der im Berufungsverfahren noch nicht anwaltlich vertretene Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 29.6.2011 zumindest sinngemäß aufrechterhalten (zu den geringeren Anforderungen bei im Berufungsverfahren nicht berufsmäßig vertretenen Beteiligten: BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 1 RdNr 5; BSG Beschluss vom 2.6.2003 - B 2 U 80/03 B - RdNr 4; BSG Beschluss vom 1.3.2006 - B 2 U 403/05 B - RdNr 5; BSG Beschluss vom 9.3.2011 - B 7 AL 6/11 B - RdNr 4). Im Rahmen seiner persönlichen Anhörung hat der Kläger ausgeführt, dass er bei der Beklagten angerufen und gesagt habe, dass er jetzt 65 sei und Rente bekäme. Ihm sei daraufhin erklärt worden, so einfach sei dies nicht, weil er die 180 Monate nicht beisammen habe. Er habe diese Telefonate von seinem Büro ausgeführt, das er seinerzeit gemeinsam mit seiner Tochter unterhalten habe. Nach dieser Einlassung und der Annahme des Teilanerkenntnisses hat der Kläger vor dem LSG ausdrücklich zu Protokoll erklärt: "Ich lege weiter Wert darauf, dass der gesamte bisherige Berufungsvortrag weiterhin Gegenstand des Verfahrens bleibt."
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Angesichts der Auslegungsbedürftigkeit der im Rahmen der persönlichen Anhörung abgegebenen Erklärung und wegen des Festhaltens des Klägers an seinem gesamten bisherigen Vortrag durfte das LSG dessen Berufungsvorbringen nicht dahin werten, er behaupte nicht mehr, Gegenstand der damaligen Telefonate mit Bediensteten der Beklagten sei auch sein schriftlicher Rentenantrag von Januar 1998 gewesen. Dementsprechend reichte es nicht aus, allein die in der mündlichen Berufungsverhandlung protokollierten Angaben des Klägers als wahr zu unterstellen, um die von diesem beantragte Beweiserhebung als entbehrlich anzusehen. Vielmehr war es geboten, die vom Kläger geforderten weiteren Ermittlungen durchzuführen.
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Auf der unterlassenen Beweiserhebung kann das angefochtene Urteil iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG auch beruhen, denn es ist nicht auszuschließen, dass bei Durchführung der beantragten Zeugenvernehmung der Rechtsstreit einer anderen, für den Kläger günstigeren Lösung hätte zugeführt werden können.
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Da die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen, macht der Senat im Hinblick auf die gesamten Umstände des vorliegenden Falles von der ihm durch § 160a Abs 5 SGG eingeräumten Möglichkeit Gebrauch, das Berufungsurteil unmittelbar aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
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Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu befinden haben.
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