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BSG 27.09.2011 - B 4 AS 42/11 B
BSG 27.09.2011 - B 4 AS 42/11 B - (Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Zurückverweisung nach § 160a Abs 5 SGG - Verfahrensfehler - Verletzung rechtlichen Gehörs durch Zugrundelegung von Erkenntnissen aus Aktenvermerken ohne vorherigen richterlichen Hinweis - Überraschungsentscheidung - kein absoluter Revisionsgrund - Wegfall des Arbeitslosengeld II)
Normen
§ 160a Abs 5 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 62 SGG, § 202 SGG, § 547 ZPO, § 31 Abs 1 S 1 Nr 1 Buchst b SGB 2 vom 10.10.2007, § 31 Abs 3 S 2 SGB 2 vom 10.10.2007, Art 103 Abs 1 GG
Vorinstanz
vorgehend SG Regensburg, 18. September 2008, Az: S 8 AS 701/08, Gerichtsbescheid
vorgehend Bayerisches Landessozialgericht, 18. November 2010, Az: L 7 AS 445/08, Urteil
Tenor
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Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 18. November 2010 aufgehoben.
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Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
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I. Streitig ist die Absenkung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts an den Kläger im Zeitraum vom 1.7. bis 30.9.2008 um die volle Regelleistung.
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Der im streitigen Zeitraum noch unter 25-jährige Kläger (geb 1984) bezieht seit dem 1.1.2005 fast ununterbrochen Alg II. Durch Bescheid vom 13.2.2008 bewilligte der Beklagte Alg II für den Zeitraum vom 1.3. bis 31.8.2008, geändert aufgrund der Anpassung der Höhe der Regelleistung durch Bescheid vom 18.5.2008 (Erhöhung auf 351 Euro ab 1.7.2008).
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In einer Eingliederungsvereinbarung vom 26.3.2008 verpflichtete sich der Kläger, mindestens fünf Bewerbungen pro Monat in den nächsten sechs Monaten zu erstellen. Weiter heißt es in der Eingliederungsvereinbarung: "Nachweise über Ihre Bewerbungen sind bei Ihrem zuständigen Vermittler/Fallmanager bei jeder Vorsprache oder auf Aufforderung vorzulegen." Ferner sind Art und Umfang des Nachweises der Eigenbemühungen in der Eingliederungsvereinbarung bestimmt. Die Rechtsfolgenbelehrung gibt im Wesentlichen den Gesetzestext wieder.
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In einem Vermerk vom 26.3.2008 ist festgehalten, dass der Kläger keine Unterlagen zur Dokumentation der Eigenbemühungen habe vorlegen können. Er sei aufgefordert worden, die Unterlagen bis zum 31.3.2008 nachzureichen. Laut Aktenvermerk vom 25.4.2008 hatte der Kläger auch an diesem Tag bei dem Meldetermin keine Unterlagen hinsichtlich der Eigenbemühungen dabei. Es sei ihm aufgegeben worden, diese bis zum 29.4.2008 nachzureichen. Nunmehr werde keine Nachfrist mehr eingeräumt. Bei einer weiteren Vorsprache ohne entsprechende Nachweise müsse der Kläger mit einer Sanktion rechnen. Bei einem Kontakt am 27.5.2008 fehlten laut Aktenvermerk wiederum Unterlagen des Klägers im Hinblick auf die Dokumentation der Eigenbemühungen. Auf den Eintritt einer Sanktion sei er hingewiesen worden.
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Durch Bescheid vom 5.6.2008 verfügte der Beklagte die Absenkung des Alg II für den Zeitraum vom 1.7. bis 30.9.2008 um die Regelleistung in Höhe von 347 Euro und Beschränkung der existenzsichernden Leistungen auf die Übernahme der angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung. Zugleich wurde der Bewilligungsbescheid vom 13.2.2008 aufgehoben. Zur Begründung wird ausgeführt, der Kläger habe trotz Belehrung über die Rechtsfolgen in der Eingliederungsvereinbarung seine dort festgelegten Pflichten nicht umfassend erfüllt, da er seine Eigenbemühungen nicht hinreichend nachgewiesen habe. Eine Verkürzung des Absenkungszeitraumes komme nach Abwägung aller Umstände des Einzelfalls nicht in Betracht, da er wiederholt auf das Erfordernis der Vorlage der Eigenbemühungen hingewiesen worden sei. Auf Antrag könnten in angemessenem Umfang ergänzende Sach- oder geldwerte Leistungen gewährt werden. Den Widerspruch des Klägers hiergegen wies der Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 16.7.2008 zurück.
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Die Klage hiergegen hat das SG Regensburg durch Gerichtsbescheid vom 18.9.2008 abgewiesen. Das Bayerische LSG hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 18.11.2010). Zur Begründung hat das LSG ausgeführt, die Voraussetzungen für die Aufhebung der Bewilligungsbescheide nach § 40 SGB II iVm § 330 Abs 2 SGB III und § 48 SGB X seien aufgrund einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse durch das zu sanktionierende und damit eine Absenkung rechtfertigende Verhalten des Klägers gegeben. Die Entscheidung des Beklagten, von einer Verkürzung der Absenkungszeit abzusehen, sei nicht zu beanstanden. Der Kläger sei auch hinreichend über die Rechtsfolgen belehrt worden. Zwar dürfte der allgemeine Hinweis auf die Folgen bei der Verletzung von Grundpflichten in der Eingliederungsvereinbarung unter Beachtung der Rechtsprechung des BSG nicht ausreichend sein. Der Kläger sei jedoch nach der Überzeugung des Senats - auf Grundlage der Vermerke aus der Verwaltungsakte - in den Vorsprachen am 25.4. und 27.5.2008 auf die Rechtsfolgen der Absenkung in Höhe von 347 Euro bei fortdauernder Nichtdokumentation der Eigenbemühungen hinreichend aufgeklärt worden.
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Gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Bayerischen LSG hat der Kläger Beschwerde zum BSG eingelegt. Er macht ua Verfahrensfehler (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) geltend. Das LSG habe die Vermerke über die Gespräche vom 25.4. und 27.5.2008 nicht ins Verfahren eingeführt. Dadurch sei er in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt worden; es liege eine Überraschungsentscheidung vor. Denn das LSG habe auch in der mündlichen Verhandlung nicht auf die Rechtsfolgenbelehrungen in den Vermerken Bezug genommen.
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II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers hat im Sinne der Aufhebung des Urteils und der Zurückverweisung der Sache an das LSG Erfolg (§ 160a Abs 5 SGG).
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Wie der Kläger formgerecht (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 SGG) und zutreffend gerügt hat, ist das Urteil des LSG verfahrensfehlerhaft zustande gekommen (vgl § 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Das Urteil darf nicht auf tatsächliche oder rechtliche Gesichtspunkte gestützt werden, die bisher nicht erörtert worden sind, wenn dadurch der Rechtsstreit eine unerwartete Wendung nimmt (BVerfG Beschluss vom 12.6.2003 - 1 BvR 2285/02). Darin liegt eine Verletzung rechtlichen Gehörs, denn wenn es auch keine allgemeine Aufklärungspflicht des Gerichts über die Rechtslage gibt, so liegt jedoch dann ein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör und das Gebot eines fairen Verfahrens vor, wenn ein Gericht ohne vorherigen Hinweis auf rechtliche und tatsächliche Gesichtspunkte abstellt, mit denen auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (vgl BVerfG Beschluss vom 29.5.1991 - 1 BvR 1383/90 - BVerfGE 84, 188). So liegt der Fall hier im Hinblick auf die in den Aktenvermerken über die Vorsprachen des Klägers am 25.4. und 27.5.2008 enthaltenen Rechtsfolgenbelehrungen, auf die das LSG in seiner Entscheidung tragend abstellt.
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Zwar hatte der Kläger Kenntnis von den Aktenvermerken, denn der Klägervertreter hat kurz vor dem Termin Akteneinsicht auch in die Beklagtenakte genommen. Gleichwohl ist der Kläger hier in seinem rechtlichen Gehör dadurch verletzt worden, dass das LSG seine Rechtsauffassung in der mündlichen Verhandlung nicht dargelegt hat, soweit es von einer hinreichenden Rechtsfolgenbelehrung in den mündlichen Vorsprachen, gestützt auf die Erkenntnisse aus den Vermerken, ausgeht. Die von dem LSG in Bezug genommenen Vermerke und die dort benannten Rechtsfolgenbelehrungen sind nach Aktenlage weder Gegenstand der Erörterungen, noch der rechtlichen Bewertungen im Gerichtsverfahren gewesen. Im Gerichtsbescheid des SG sind sie weder im Tatbestand, noch in den Entscheidungsgründen erwähnt. Im Gegensatz zum Vortrag des Beklagten in der Beschwerdeerwiderung werden die in den Vermerken benannten Rechtsfolgenbelehrungen im Widerspruchsbescheid vom 16.7.2008 ebenfalls nicht erwähnt. Zwar reicht es nicht aus, dass ein bestimmter Gesichtspunkt im unmittelbar vorangehenden Verfahren nicht angesprochen worden ist. Vielmehr kommt es darauf an, ob der Beteiligte auch aufgrund sonstiger nahe liegender Erkenntnisquellen nicht auf den Gedanken kommen konnte, dass es darauf ankommen würde (BSG Beschluss vom 11.10.2006 - B 9a VJ 4/06 B). So liegt der Fall hier.
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Auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter brauchte selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht damit zu rechnen, dass die Absenkungsentscheidung mit den Rechtsfolgenbelehrungen aus den Vermerken der Gespräche vom 25.4. und 27.5.2008 begründet werden könnte. Diese sind - soweit ersichtlich - zu keinem Zeitpunkt Gegenstand der rechtlichen und tatsächlichen Auseinandersetzung gewesen. In einer solchen Situation gebietet der Grundsatz des fairen Verfahrens einen Hinweis des Gerichts auf die Umstände, die es als entscheidungserheblich zugrunde legen will.
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Auf dieser Verletzung des rechtlichen Gehörs kann die Entscheidung des LSG auch beruhen. Die Verletzung des rechtlichen Gehörs ist im sozialgerichtlichen Verfahren nicht als absoluter Revisionsgrund geregelt (vgl § 202 SGG iVm § 547 ZPO), sodass der Vortrag erforderlich ist, dass die nach dem Gehörsverstoß ergangene Gerichtsentscheidung insgesamt von dem Verfahrensfehler beeinflusst worden ist (vgl BSG Beschluss vom 26.6.2007 - B 2 U 55/07 B - SozR 4-1750 § 227 Nr 1; BSG Urteil vom 10.8.1995 - 11 RAr 51/95 - SozR 3-1750 § 227 Nr 1). Das ist vorliegend der Fall. Der Kläger hat geltend gemacht, dass er sich in Kenntnis der Erwägungen des LSG darauf berufen hätte, dass die Rechtsfolgenbelehrungen am 25.4. und 27.5.2008 nicht ordnungsgemäß gewesen seien, ggf wäre beantragt worden, den Verfasser der Vermerke hierzu zu vernehmen. Mit dem Ergebnis dieser Beweisaufnahme hätte sich das LSG alsdann ebenso wie mit dem Vortrag des Klägers zu dem Ablauf der Vorsprachen auseinandersetzen und diese in seine Beweiswürdigung einbeziehen müssen.
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Da die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen, steht es im Ermessen des erkennenden Senats, nach § 160a Abs 5 SGG zu verfahren. Im Rahmen dieser Ermessensausübung ist der Senat nicht daran gebunden, dass der Kläger nur die Zulassung der Revision und nicht oder ggf hilfsweise die Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie die Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz beantragt hat. Der Senat verweist den Rechtsstreit maßgeblich aus prozessökonomischen Gründen an das LSG zurück. Ein durch Zulassung eröffnetes Revisionsverfahren könnte zu keinem anderen Ergebnis führen.
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