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BVerfG 22.03.2023 - 2 BvF 1/21
BVerfG 22.03.2023 - 2 BvF 1/21 - Ablehnung eines Antrags, das Ruhens des abstrakten Normenkontrollverfahrens bzgl der Wahlrechtsreform 2020 (Art 1 Nr 3 bis 5 BWahlGÄndG 25 vom 14.11.2020; Neuregelung des Sitzzuteilungsverfahren für die Wahl des Deutschen Bundestages nach § 6 Abs 5 und 6 BWahlG) anzuordnen - Fortführung des Verfahrens im öffentlichen Interesse geboten
Normen
Art 20 Abs 1 GG, Art 20 Abs 2 GG, Art 20 Abs 3 GG, Art 21 Abs 1 GG, Art 38 Abs 1 S 1 GG, §§ 76ff BVerfGG, § 6 Abs 5 BWahlG, § 6 Abs 6 BWahlG, Art 1 Nr 3 BWahlGÄndG 25, Art 1 Nr 4 BWahlGÄndG 25, Art 1 Nr 5 BWahlGÄndG 25
Vorinstanz
vorgehend BVerfG, 20. Juli 2021, Az: 2 BvF 1/21, Ablehnung einstweilige Anordnung
Tenor
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Der Antrag auf Anordnung des Ruhens des Verfahrens wird abgelehnt.
Gründe
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A.
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Der Antrag betrifft ein Verfahren der abstrakten Normenkontrolle.
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I.
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1. Die Antragstellerinnen und Antragsteller, 216 Mitglieder des 19. Deutschen Bundestages aus den Fraktionen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, DIE LINKE und FDP, haben sich mit Schriftsatz vom 1. Februar 2021 im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 13 Nr. 6, §§ 76 ff. BVerfGG gegen Art. 1 Nr. 3 bis 5 des Fünfundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 14. November 2020 (25. BWahlGÄndG, BGBl I S. 2395) gewandt. Mit diesem Gesetz ist im Wesentlichen das Sitzzuteilungsverfahren für die Wahl des Deutschen Bundestages nach § 6 Abs. 5 und 6 BWahlG neu geregelt worden. Der Zweite Senat hat Termin zur mündlichen Verhandlung anberaumt auf den 18. April 2023.
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2. Am 24. Januar 2023 legten die Fraktionen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes und des Fünfundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes (BTDrucks 20/5370) vor, mit dem das Sitzzuteilungsverfahren für die Wahl des Deutschen Bundestages abermals neu geregelt werden soll. Der Gesetzentwurf wurde in der 92. Sitzung des 20. Deutschen Bundestages am 17. März 2023 in zweiter und dritter Lesung beraten und in der Fassung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Inneres und Heimat (BTDrucks 20/6015) mit 399 Ja-Stimmen gegen 261 Nein-Stimmen und bei 23 Enthaltungen beschlossen (vgl. BT-Protokoll 20/92 <neu>, S. 11015 - 11043, 11050 - 11053). Die Befassung des Bundesrates sowie die Ausfertigung und Verkündung des Gesetzes stehen noch aus.
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II.
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Mit Schriftsatz vom 13. März 2023 haben die Antragstellerinnen und Antragsteller beantragt, das Ruhen des Verfahrens anzuordnen. Zur Begründung haben sie ausgeführt, der Bundesgesetzgeber bereite die Änderung derjenigen Normen des Bundeswahlgesetzes vor, die Gegenstand des vorliegenden Normenkontrollverfahrens seien. Die abschließende Beratung im Deutschen Bundestag sei für die 11. Kalenderwoche 2023 vorgesehen, die Befassung des Bundesrates für den 12. Mai 2023. Durch die geplante Änderung würden die angegriffenen Bestimmungen des Fünfundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes gegenstandslos. Vor diesem Hintergrund hätten die Antragstellerinnen und Antragsteller zurzeit kein Interesse daran, das Normenkontrollverfahren weiter zu verfolgen. Dem stehe die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht entgegen. Ein öffentliches Interesse an der Fortführung des Verfahrens von Amts wegen bestehe nicht, da im Fall der geplanten Rechtsänderung von den verfahrensgegenständlichen Normen für die Zukunft keine Rechtswirkungen mehr ausgingen.
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III.
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Dem Bundestag, dem Bundesrat, der Bundesregierung, den Bundesministerien des Innern und für Heimat sowie der Justiz und den Landesregierungen ist gemäß § 77 Nr. 1 BVerfGG Gelegenheit zur Äußerung gegeben worden. Der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung haben erklärt, den Antrag auf Anordnung des Ruhens des Verfahrens zu befürworten.
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B.
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Der Antrag auf Anordnung des Ruhens des Verfahrens ist abzulehnen, weil an der Fortführung des Verfahrens ein öffentliches Interesse besteht.
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I.
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Gegenstand des abstrakten Normenkontrollverfahrens sind weder der konkrete Antrag noch die Anregungen und Rechtsbehauptungen des Antragstellers, sondern allein die von subjektiven Rechten und Rechtsauffassungen unabhängige Frage, ob ein zur Prüfung gestellter Rechtssatz gültig oder ungültig ist. Das objektive Verfahren der abstrakten Normenkontrolle schützt keine Rechtsstellung des Antragstellers, sondern ausschließlich die Verfassung (vgl. BVerfGE 1, 208 219 f.>; 1, 396 414>; 2, 307 311>; 20, 56 86, 95>; 52, 63 80>; 68, 346 350 f.>). Bedeutung und Funktion der Antragstellung erschöpfen sich darin, den Anstoß zur gerichtlichen Kontrolle im objektiven Verfahren zu geben (vgl. BVerfGE 1, 208 219>; 68, 346 351>). Ist das Verfahren durch den Antrag in Gang gesetzt, kommt es für dessen weiteren Verlauf nicht mehr auf die Anträge und Anregungen des Antragstellers, sondern ausschließlich auf Gesichtspunkte des öffentlichen Interesses an (vgl. BVerfGE 1, 396 414>; 8, 183 184>; 68, 346 351>; 110, 33 46>).
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Der Offizialcharakter der abstrakten Normenkontrolle führt dazu, dass die Rücknahme eines zulässigen Antrags auf Durchführung eines Normenkontrollverfahrens nicht notwendigerweise zur Einstellung des Verfahrens führt. Das Verfahren ist nur einzustellen, wenn keine Gründe für seine Fortführung im öffentlichen Interesse vorliegen (vgl. BVerfGE 1, 396 414>; 8, 183 184>; 25, 308 309>; 77, 345 345>; 87, 152 153>).
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Diese Grundsätze gelten für das Ruhen des Verfahrens entsprechend. In der Folge muss das Verfahren trotz eines Antrags, es ruhen zu lassen, von Amts wegen fortgeführt werden, wenn dies im öffentlichen Interesse geboten ist (vgl. BVerfGE 89, 327 328>).
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II.
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Davon ausgehend steht der Anordnung des Ruhens des Verfahrens entgegen, dass ein öffentliches Interesse an seiner Fortführung besteht.
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1. Dies folgt zunächst daraus, dass der 20. Deutsche Bundestag auf Grundlage der verfahrensgegenständlichen Normen gewählt bleibt. Wahlrechtsnormen entfalten jedenfalls so lange Rechtswirkung, wie das auf ihrer Grundlage gewählte Parlament Bestand hat (vgl. BVerfGE 151, 152 162 Rn. 27> - Wahlrechtsausschluss Europawahl - Eilantrag). Legitimations- und Integrationsfunktion der Wahl begründen ein erhebliches Interesse an der Feststellung, ob die Abgeordneten des Deutschen Bundestages auf verfassungsmäßiger Grundlage gewählt worden sind.
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2. Hinzu kommt, dass der Deutsche Bundestag in seiner 66. Sitzung am 10. November 2022 entsprechend der Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses vom 7. November 2022 (BTDrucks 20/4000) beschlossen hat, die Wahl zum 20. Deutschen Bundestag am 26. September 2021 im Land Berlin teilweise zu wiederholen (vgl. BT-Plenarprotokoll 20/66, S. 7656). Dieser Beschluss ist Gegenstand mehrerer Wahlprüfungsbeschwerden vor dem Bundesverfassungsgericht nach Art. 41 Abs. 2 GG, § 13 Nr. 3, § 48 BVerfGG. Gemäß § 44 Abs. 2 Satz 1 BWahlG findet die Wiederholungswahl nach denselben Vorschriften wie die Hauptwahl statt. Ihre tatsächlichen und rechtlichen Bedingungen sollen so weit wie möglich denjenigen entsprechen, die bereits für die Hauptwahl galten (vgl. Boehl, in: Schreiber, BWahlG, 11. Aufl. 2021, § 44 Rn. 7). In der Folge hätte eine Wiederholung der Wahl des 20. Deutschen Bundestages grundsätzlich nach den Normen des Fünfundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes stattzufinden. Auch insoweit besteht daher ein erhebliches öffentliches Interesse an der Feststellung, ob diese Normen verfassungskonform sind.
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3. Etwas anderes folgt nicht daraus, dass beim Bundesverfassungsgericht weitere Verfahren anhängig sind, die die Frage der Verfassungsmäßigkeit der vorliegend verfahrensgegenständlichen Normen des Fünfundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes betreffen. Zwar können in einem solchen Fall Gründe des öffentlichen Interesses für die Fortführung einer abstrakten Normenkontrolle fehlen (vgl. BVerfGE 76, 99 99>). Dies ist vorliegend jedoch schon mit Blick auf das fortgeschrittene Stadium des Verfahrens nicht der Fall. Insbesondere angesichts der bereits anberaumten mündlichen Verhandlung bietet dieses die Gelegenheit zur zeitnahen Behandlung und Entscheidung der verfassungsrechtlichen Fragen, an deren Klärung das dargelegte öffentliche Interesse besteht.
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