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BVerfG 24.03.2022 - 1 BvR 375/21
BVerfG 24.03.2022 - 1 BvR 375/21 - Nichtannahmebeschluss: Verfassungsbeschwerde wegen unterbliebener Anhörung im wettbewerbsrechtlichen eV-Verfahren erfolglos - Unzulässigkeit mangels Feststellungsinteresses bzw mangels Darlegung einer Wiederholungsgefahr
Normen
Art 3 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, § 23 Abs 1 S 2 BVerfGG, § 92 BVerfGG, § 19 Abs 2 Nr 1 GWB, § 33 GWB, § 935 ZPO, § 937 Abs 2 ZPO, § 945 ZPO
Vorinstanz
vorgehend BVerfG, 16. März 2021, Az: 1 BvR 375/21, Ablehnung einstweilige Anordnung
vorgehend LG München I, 14. Januar 2021, Az: 37 O 32/21, Beschluss
Tenor
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Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe
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I.
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Die Beschwerdeführerin wendet sich unter Berufung auf ihr Recht auf prozessuale Waffengleichheit gegen eine einstweilige Verfügung, die ohne ihre Anhörung im gerichtlichen Verfahren erlassen wurde.
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1. Die Antragstellerin des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: Antragstellerin), die einen Online-Marktplatz betreibt, war Verkaufspartnerin der Beschwerdeführerin. Im Dezember 2020 deaktivierte die Beschwerdeführerin das Verkäuferkonto der Antragstellerin wegen des Vorwurfs manipulierter Kundenrezensionen. Hiergegen setzte sich die Antragstellerin in zwei Schreiben an die Beschwerdeführerin und − als diese erfolglos blieben − mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung vor dem Landgericht zur Wehr. Die Antragstellerin legte der Beschwerdeführerin zur Last, sie vor der Sperrung nicht ausreichend über die Tatsachen, die Anlass für die Sperrung gegeben haben sollten, informiert und ihr damit keine ausreichende Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben zu haben.
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2. In der Begründung ihres Verfügungsantrags an das Gericht ging die Antragstellerin sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht über den Inhalt der vorprozessualen Korrespondenz der Parteien hinaus. Mit Beschluss vom 14. Januar 2021 erließ das Landgericht ohne mündliche Verhandlung oder anderweitiger Gelegenheit der Beschwerdeführerin zur Stellungnahme die beantragte einstweilige Verfügung. Die Antragstellerin habe einen Anspruch auf Unterlassung der Deaktivierung ihres Verkäuferkontos ohne vorherige ausreichende Information und Anhörung zu den Gründen aus § 33 Abs. 1 in Verbindung mit § 19 Abs. 2 Nr. 1 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB). Eine Anhörung der Beschwerdeführerin vor Erlass der einstweiligen Verfügung sei nicht veranlasst gewesen, da die Beschwerdeführerin vorprozessual durch die Antragstellerin über den Streitgegenstand informiert und abgemahnt worden sei.
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3. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Das Landgericht habe bewusst von einer Anhörung der Beschwerdeführerin abgesehen. Es habe das Recht der Beschwerdeführerin auf prozessuale Waffengleichheit vorsätzlich und grob in mehrfacher Weise verkannt, indem es nicht nur die Beschwerdeführerin nicht angehört, sondern auch einen Rechtssatz aufgestellt habe, wonach die Beschwerdeführerin vorprozessual ihre Manipulationsindizien offenlegen müsse.
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Das Bayerische Staatsministerium der Justiz und die Antragstellerin hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Akten des Ausgangsverfahrens lagen der Kammer vor.
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II.
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Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen. Die Voraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG für eine zwingende Annahme liegen nicht vor. Der Sache kommt weder grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu, noch ist ihre Annahme zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt. Es fehlt an der ausreichenden Darlegung eines Feststellungsinteresses.
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1. Zwar unterlag das Landgericht im Ausgangsverfahren einem error in procedendo. Die Voraussetzungen, nach denen ausnahmsweise von einer Anhörung des Antragsgegners vor Erlass der einstweiligen Verfügung abgesehen werden darf (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 30. September 2018 - 1 BvR 1783/17 -, Rn. 22 ff.), lagen nicht vor.
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2. Die Beschwerdeführerin hat jedoch kein hinreichend gewichtiges Feststellungsinteresse dargelegt.
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a) Nicht jede Verletzung prozessualer Rechte kann unter Berufung auf das Recht auf prozessuale Waffengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG im Wege einer auf Feststellung gerichteten Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden. Vielmehr bedarf es eines hinreichend gewichtigen Feststellungsinteresses (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 30. September 2018 - 1 BvR 1783/17 -, Rn. 11 und Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 1. Dezember 2021 - 1 BvR 2708/19 -, Rn. 20 m.w.N.). Die bloße Geltendmachung eines error in procedendo reicht hierfür nicht aus (vgl. BVerfGE 138, 64 87 Rn. 71> m.w.N. - zu Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG). Anzunehmen ist ein Feststellungsinteresse jedoch insbesondere dann, wenn eine Wiederholung der angegriffenen Maßnahme zu befürchten ist (vgl. BVerfGE 91, 125 133>), also eine hinreichend konkrete Gefahr besteht, dass unter im Wesentlichen unveränderten rechtlichen und tatsächlichen Umständen eine gleichartige Entscheidung ergehen würde. Dafür bedarf es näherer Darlegungen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 8. Okto-ber 2019 - 1 BvR 1078/19 u.a. -, Rn. 3). Ein auf Wiederholungsgefahr gestütztes Feststellungsinteresse setzt voraus, dass die Zivilgerichte die aus dem Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit folgenden Anforderungen grundsätzlich verkennen und ihre Praxis hieran unter Missachtung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe nicht ausrichten (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 1. Dezember 2021 - 1 BvR 2708/19 -, Rn. 21 m.w.N.).
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b) Demnach hat die Beschwerdeführerin eine Wiederholungsgefahr nicht hinreichend dargelegt.
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aa) Sie hat nichts vorgetragen, was darauf schließen ließe, dass die mit kartell- und lauterkeitsrechtlichen Sachverhalten befassten Kammern des Landgerichts die aus dem Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit folgenden Anforderungen an die Handhabung des Prozessrechts im einstweiligen Verfügungsverfahren grundsätzlich verkennten und in ständiger Praxis ohne vorherige Anhörung der Antragsgegnerin entschieden.
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bb) Darüber hinaus ist auch der Vortrag der Beschwerdeführerin, wonach sich andere Gerichte auf die Rechtssätze des angegriffenen Beschlusses stützen könnten, nicht geeignet, eine Wiederholungsgefahr zu begründen. Soweit sich die Beschwerdeführerin auf die materiell-rechtliche Begründung für den Erlass der einstweiligen Verfügung bezieht, berührt diese nicht die Handhabung des Prozessrechts. Soweit die Beschwerdeführerin darüber hinaus befürchtet, andere Gerichte könnten in der Handhabung des Prozessrechts der Praxis des Landgerichts in dem Ausgangsverfahren folgen, begründet auch diese Befürchtung kein hinreichend gewichtiges Feststellungsinteresse. Seit der Entscheidung der 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 30. September 2018 - 1 BvR 1783/17 - wurde das Recht auf prozessuale Waffengleichheit als verfassungsrechtlicher Grundsatz in ständiger Rechtsprechung zunächst für das Äußerungsrecht, später auch für das Lauterkeitsrecht geklärt (vgl. zum Äußerungsrecht nur BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 1. Dezember 2021 - 1 BvR 2708/19 -, Rn. 17 ff. m.w.N. und zum Lauterkeitsrecht BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 27. Juli 2020 - 1 BvR 1379/20 -, Rn. 6 und vom 22. Januar 2021 - 1 BvR 2793/20 -, Rn. 12 ff.). Angesichts dieser Klärung der Rechtslage kann aber davon ausgegangen werden, dass das Recht auf prozessuale Waffengleichheit in einstweiligen Verfügungsverfahren vor den Zivilgerichten grundsätzlich Beachtung findet. Ein gewichtiges Interesse der Beschwerdeführerin an einer Feststellung einer Verletzung des Rechts auf prozessuale Waffengleichheit in einem weiteren Einzelfall ist daher nicht ersichtlich.
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c) Zudem fehlt es an der Darlegung eines schweren, grundrechtlich erheblichen Nachteils, der durch die Schadensersatzpflicht nach § 945 ZPO nicht aufgefangen werden könnte.
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aa) Dem Schutz des Antragsgegners im einstweiligen Verfügungsverfahren wird - systemimmanent - durch die Schadensersatzpflicht gemäß § 945 ZPO Rechnung getragen: Kommt es infolge der Vollziehung einer von Anfang an ungerechtfertigt erlassenen einstweiligen Verfügung zu Schäden beim Antragsgegner, sind diese vom Antragsteller verschuldensunabhängig zu ersetzen. Ein hinreichend gewichtiges Feststellungsinteresse, das ein Einschreiten des Bundesverfassungsgerichts trotz der fehlenden Erschöpfung des fachgerichtlichen Rechtswegs ausnahmsweise erforderlich macht, setzt daher grundsätzlich voraus, dass durch die Vollstreckung aus der einstweiligen Verfügung ein schwerer, grundrechtlich erheblicher Nachteil droht, der nicht durch die Schadensersatzpflicht nach § 945 ZPO kompensiert werden kann (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 27. Juli 2020 - 1 BvR 1379/20 -, Rn. 25; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 22. Januar 2021 - 1 BvR 2793/20 -, Rn. 18).
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Das ist in den Fällen einer untersagten Presseveröffentlichung regelmäßig aufgrund der von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 GG geschützten Freiheit der Presseberichterstattung der Fall. Denn bei einem Zuwarten bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache kann eine Veröffentlichung der durch die einstweilige Verfügung untersagten Berichterstattung in aller Regel nicht mehr oder jedenfalls nicht mehr in der ursprünglich intendierten Art und Weise erfolgen.
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Dagegen wird in kartell- und lauterkeitsrechtlichen Fällen eine Kompensation nach § 945 ZPO regelmäßig in Betracht kommen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 22. Januar 2021 - 1 BvR 2793/20 -, Rn. 19). Es bedarf daher in diesen Fällen eines substantiierten Vortrags dazu, dass aus der Vollstreckung der einstweiligen Verfügung bis zum Abschluss des fachgerichtlichen Hauptsacheverfahrens über die fortgesetzte Belastung durch einen einseitig erstrittenen Belastungstitel hinaus irreparable Schäden drohen.
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bb) Dem genügt der Vortrag der Beschwerdeführerin nicht.
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Die Beschwerdeführerin hat nichts dazu vorgetragen, dass ihr durch die Reaktivierung des Verkäuferkontos der Antragstellerin bis zur Entscheidung in der Hauptsache ein irreparabler Schaden entstünde. Allein das Insolvenzrisiko der Antragstellerin, das sie in jedem Fall zu tragen hat, reicht hierfür nicht aus.
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Auch soweit sich die Beschwerdeführerin darauf beruft, dass ihr durch eine präjudizielle Wirkung der Begründung des angegriffenen Beschlusses ein Schaden entstehen könnte, reicht dies zur Begründung eines hinreichend gewichtigen Feststellungsinteresses für ein Eingreifen des Bundesverfassungsgerichts aufgrund der Handhabung des Prozessrechts im einstweiligen Verfügungsverfahren nicht aus. Denn es handelt sich hierbei nicht um eine Folge der Vollstreckung der unter Verletzung der prozessualen Waffengleichheit erlassenen einstweiligen Verfügung.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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