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BVerfG 09.02.2021 - 2 BvQ 8/21
BVerfG 09.02.2021 - 2 BvQ 8/21 - Erfolgreicher Eilantrag: Untersagung einer Abschiebung nach Afghanistan - unzureichende fachgerichtliche Aufklärung von Abschiebungshindernissen mit Blick auf COVID-19-Pandemie - Folgenabwägung
Normen
Art 2 Abs 2 S 1 GG, Art 19 Abs 4 S 1 GG, § 32 Abs 1 BVerfGG, § 60 Abs 5 AufenthG 2004, § 60 Abs 7 S 1 AufenthG 2004, § 86 Abs 1 VwGO
Vorinstanz
nachgehend BVerfG, 6. Mai 2021, Az: 2 BvQ 8/21, Gegenstandswertfestsetzung im verfassungsgerichtlichen Verfahren
Tenor
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Die Abschiebung des Antragstellers wird bis zur Entscheidung über die noch zu erhebende Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, untersagt.
Gründe
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1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist.
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Bei der Prüfung dieser Voraussetzungen ist ein strenger Maßstab anzulegen. Dabei haben die Gründe, welche der Beschwerdeführer für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Hoheitsakte anführt, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen abwägen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 76, 253 255>).
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2. Die noch zu erhebende Verfassungsbeschwerde erscheint zum derzeitigen Zeitpunkt weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet.
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Es spricht Überwiegendes dafür, dass der Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts den Anforderungen aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG an die Sachverhaltsaufklärung nicht genügt.
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Das Gebot effektiven Rechtsschutzes verlangt nicht nur, dass jeder potentiell rechtsverletzende Akt der Exekutive in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht der richterlichen Prüfung unterstellt ist; vielmehr müssen die Gerichte den betroffenen Rechten auch tatsächliche Wirksamkeit verschaffen (vgl. BVerfGE 35, 263 274>; 84, 34 49>; stRspr). Das Maß dessen, was wirkungsvoller Rechtsschutz ist, bestimmt sich entscheidend auch nach dem sachlichen Gehalt des als verletzt behaupteten Rechts (vgl. BVerfGE 60, 253 297>), hier des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit.
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Auch die verfahrensrechtlichen Anforderungen an die Sachverhaltsaufklärung haben dem hohen Wert der betroffenen Rechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG Rechnung zu tragen (vgl. BVerfGE 117, 71 106 f.>). Der Sachverhaltsaufklärungspflicht gemäß § 86 Abs. 1 VwGO kann daher bei der Überprüfung der Situation für Rückkehrer in den Zielstaat der Abschiebung verfassungsrechtliches Gewicht zukommen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Juli 2017 - 2 BvR 1606/17 -, Rn. 22).
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Angesichts dessen müssen sich Behörden und Gerichte bei der Beantwortung der Frage, ob ein Antragsteller in ein Land abgeschoben werden darf, in dem wegen einer stetigen Verschlechterung der dortigen Situation die Gefahr besteht, dass die Schwelle des § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG überschritten sein könnte, laufend über die tatsächlichen Entwicklungen unterrichten und dürfen nur auf der Grundlage aktueller Erkenntnisse entscheiden (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 21. April 2016 - 2 BvR 273/16 -, Rn. 11; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. März 2017 - 2 BvR 681/17 -, Rn. 11). Aus der Pflicht zur "tagesaktuellen" Erfassung der entscheidungsrelevanten Tatsachengrundlage folgt jedoch für das Verwaltungsgericht keine verfassungsrechtlich begründete Pflicht, sich mit jeder von den Verfahrensbeteiligten angeführten Erkenntnisquelle ausdrücklich zu befassen. Maßgeblich ist, dass das Gericht inhaltlich auf die relevanten und die von den Verfahrensbeteiligten vorgetragenen Gesichtspunkte eingeht (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. März 2017 - 2 BvR 681/17 -, Rn. 12).
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Hier bestehen erhebliche Zweifel, ob das Verwaltungsgericht dieser Verpflichtung im angefochtenen Beschluss entsprochen hat. Denn es beschäftigt sich nicht damit, wie sich die COVID-19-Pandemie auf das afghanische Gesundheitssystem auswirkt, auf das es den Antragsteller bezüglich seiner Drogen- und Substitutionstherapie verweist. Die Entscheidung enthält darüber hinaus keinerlei Ausführungen zu den wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie in Afghanistan; die aktuelle Situation wird lediglich indirekt durch einen Hinweis auf die Möglichkeit von "Corona-Beihilfen" angesprochen. Das Verwaltungsgericht setzt sich jedoch nicht damit auseinander, ob es dem Antragsteller unter den aktuellen wirtschaftlichen und gesundheitlichen Bedingungen in Afghanistan selbst nach erfolgreicher Durchführung einer Drogen- und Substitutionstherapie überhaupt möglich sein wird, sich dauerhaft durch eigene Arbeit ein Existenzminimum zu erwirtschaften. Soweit das Verwaltungsgericht den Antragsteller für den Fall der fehlenden Erwerbsfähigkeit auf sein familiäres Netzwerk in Afghanistan verweist, fehlt es ebenfalls an Ausführungen zu den wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die afghanische Bevölkerung. Das Verwaltungsgericht hat es versäumt, sich mit den aktuellen - vom Antragsteller in das Verfahren eingebrachten - Erkenntnissen zur aktuellen Lebenssituation in Afghanistan zu befassen. Der Beschluss lässt eine Auseinandersetzung mit dem möglicherweise bereits erfolgten Zusammenbruch der wirtschaftlichen Grundlage für arbeitsfähige Rückkehrer ohne realisierbare Anbindung an Familie oder andere Netzwerke - informeller Arbeitsmarkt für Ungelernte und Angelernte - nicht ansatzweise erkennen.
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Darüber hinaus hat das Verwaltungsgericht sich nicht damit auseinandergesetzt, ob es dem Antragsteller praktisch überhaupt möglich sein wird, nach seiner Ankunft in Kabul auf sein familiäres Netzwerk zuzugreifen. Da für den Antragsteller im Bundesgebiet zuletzt eine Betreuung unter anderem für die Bereiche Vermögens- und Gesundheitssorge eingerichtet war, liegt es nahe, dass er für eine geordnete Lebensführung einer persönlichen Unterstützung durch Familienangehörige bedarf. In diesem Zusammenhang wäre zu klären gewesen, wo er eine solche erhalten kann und ob es ihm möglich sein wird, diesen Ort gefahrlos zu erreichen.
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3. Die danach gebotene Abwägung führt zum Erlass der einstweiligen Anordnung. Denn durch den Vollzug der Abschiebung kann dem drogenabhängigen, unter Betreuung stehenden Antragsteller ein schwerer Nachteil entstehen, ohne dass ein späteres Obsiegen im Verfassungsbeschwerdeverfahren diese Rechtsbeeinträchtigung kompensieren könnte. Demgegenüber könnte der Antragsteller, sollte sich die geplante Abschiebung als rechtmäßig erweisen, ohne weiteres zu einem späteren Termin abgeschoben werden; sein Aufenthalt in Deutschland würde sich lediglich bis zu einem solchen späteren Termin verlängern.
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