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BVerfG 19.05.2015 - 2 BvR 1170/14
BVerfG 19.05.2015 - 2 BvR 1170/14 - Nichtannahmebeschluss: Keine Verletzung von Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten durch Anwendung der Stichtagsregelung des § 35 ZPOEG auf ein Umgangsrechtsverfahren, das zwar Dauerwirkung entfaltet, aber vor dem 31.12.2006 formell rechtskräftig abgeschlossen wurde - zur Berücksichtigung der MRK und der RSpr des EGMR bei der Auslegung der Grundrechte und der Verfassungsprinzipien des GG
Normen
Art 1 Abs 1 GG, Art 2 Abs 1 GG, Art 3 Abs 1 GG, Art 6 Abs 1 GG, Art 6 Abs 2 GG, § 1685 Abs 2 BGB, § 48 Abs 2 FamFG, Art 8 Abs 1 MRK, Art 46 MRK, § 580 Nr 8 ZPO vom 22.12.2006, § 35 ZPOEG
Vorinstanz
vorgehend BGH, 19. März 2014, Az: XII ZB 511/13, Beschluss
Gründe
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Die Verfassungsbeschwerde betrifft im Kern die Frage, ob es von Verfassungs wegen geboten ist, die Stichtagsregelung des § 35 EGZPO im Fall einer Kindschaftssache mit Dauerwirkung, die das Umgangsrecht betrifft, aufgrund einer teleologischen Reduktion nicht anzuwenden. Gemäß § 580 Nr. 8 ZPO findet die Restitutionsklage statt, wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten oder ihrer Protokolle festgestellt hat und das Urteil auf dieser Verletzung beruht. Nach § 35 EGZPO ist der Restitutionsgrund des § 580 Nr. 8 ZPO auf Verfahren, die vor dem 31. Dezember 2006 rechtskräftig abgeschlossen worden sind, jedoch nicht anzuwenden.
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I.
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1. Der Beschwerdeführer und die mit einem Dritten in Großbritannien verheiratete Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens unterhielten eine außereheliche Beziehung. Im Juni 2003 wurde die Antragsgegnerin schwanger. Daraufhin teilte die Antragsgegnerin dem Beschwerdeführer mit, dass sie die Ehe mit ihrem seit geraumer Zeit in Großbritannien lebenden Ehemann fortsetzen und zu diesem ziehen werde, und dass dort auch das noch ungeborene Kind aufwachsen solle. Im Dezember 2003 zog sie nach England zu ihrem Ehemann. Im März 2004 wurde das Kind geboren.
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2. Mit der Behauptung, er sei der biologische Vater des Kindes, begehrte der Beschwerdeführer von der Antragsgegnerin und ihrem Ehemann (im Folgenden: Antragsgegner) von Anfang an Umgang mit dem Kind und machte im August 2004 in Deutschland ein Umgangsrechtsverfahren anhängig. Nachdem die Beteiligten keine Einwände gegen die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte erhoben hatten, wies das Amtsgericht Fulda den Antrag auf Regelung des Umgangs mit dem Kind zurück. Die Beschwerde des Beschwerdeführers wies das Oberlandesgericht Frankfurt am Main unter Hinweis auf die damalige Gesetzeslage zurück (vgl. OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 9. Februar 2006 - 2 UF 386/05 -, juris). Das Bundesverfassungsgericht nahm die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 20. September 2006 - 1 BvR 1337/06 -, FamRZ 2006, S. 1661). Auf die Individualbeschwerde des Beschwerdeführers stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fest, dass Art. 8 EMRK verletzt sei (vgl. EGMR, Schneider v. Deutschland, Urteil vom 15. September 2011, Nr. 17080/07, NJW 2012, S. 2781). Die deutschen Gerichte hätten in keiner Weise geprüft, ob der Umgang zwischen dem Kind und dem Beschwerdeführer unter den besonderen Umständen des Falles dem Kindeswohl dienen würde. Sie hätten auch nicht geprüft, ob es unter den besonderen Umständen des Falles dem Kindeswohl dienlich wäre, dem Antrag des Beschwerdeführers, zumindest Auskünfte über die persönliche Entwicklung des Kindes zu erhalten, stattzugeben, und ob in dieser Hinsicht das Interesse des Beschwerdeführers dem der rechtlichen Eltern vorgehen müsse (vgl. EGMR, a.a.O., NJW 2012, S. 2781 2786 § 104>).
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3. Daraufhin stellte der Beschwerdeführer bei dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main einen Restitutionsantrag und begehrte die Wiederaufnahme des abgeschlossenen Verfahrens; zugleich verfolgte er seine Umgangs- und Auskunftsansprüche weiter. Das Oberlandesgericht gab dem Restitutionsantrag mit einem Zwischenbeschluss statt und nahm das Verfahren wieder auf (vgl. OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 22. August 2013 - 2 UF 23/12 -, FamRZ 2014, S. 682).
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Zur Begründung führte das Oberlandesgericht aus, der Restitutionsantrag sei statthaft, weil der Beschwerdeführer das Vorliegen eines Restitutionsgrundes (§ 580 Nr. 8 ZPO) schlüssig behauptet habe. Zwar sei § 580 Nr. 8 ZPO gemäß § 35 EGZPO auf Verfahren, die vor dem 31. Dezember 2006 rechtskräftig abgeschlossen worden seien, seinem Wortlaut nach nicht anzuwenden; das Gesetz stelle insoweit - jedenfalls im unmittelbaren Anwendungsbereich der Zivilprozessordnung - auf den Zeitpunkt ab, zu dem die Entscheidung im Ausgangsverfahren formelle Rechtskraft erlangt habe. Auch die systematische und historische Auslegung führten zu der Annahme, dass der Stichtag 31. Dezember 2006 auf das inländische Ausgangsverfahren zu beziehen sei.
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Diese Auslegung entspreche jedoch in Kindschaftssachen nicht Sinn und Zweck des Gesetzes, die darin bestünden, mit der Ergänzung des § 580 ZPO im Interesse derjenigen Partei, deren Rechte aus der Europäischen Menschenrechtskonvention nach den Feststellungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verletzt worden seien, einerseits einen spezifischen Wiederaufnahmegrund vorzusehen, andererseits aber auch das grundsätzlich schutzwürdige Interesse derjenigen Partei im Auge zu behalten, die als Gegner im Ausgangsverfahren in die Rechtskraft der nationalen Entscheidung vertraue (BTDrucks 16/3038, S. 39 f.). Denn Beschlüsse in Kindschaftssachen mit Dauerwirkung erwüchsen - anders als Urteile nach der Zivilprozessordnung (§ 322 ZPO), aber auch abweichend von sonstigen Familiensachen, die dem Anwendungsbereich des § 48 Abs. 2 FamFG unterfielen, wie beispielsweise Abstammungssachen (§ 184 Abs. 1 FamFG) - nicht in materielle Rechtskraft, sondern seien unter den Voraussetzungen der § 166 Abs. 1 FamFG, § 1696 BGB jederzeit abänderbar. Daher sei in Kindschaftssachen für den Einwand der Rechtskraft grundsätzlich kein Raum. Vielmehr habe die Fürsorge gegenüber dem Minderjährigen stets Vorrang vor der Endgültigkeit der einmal getroffenen Entscheidung (vgl. § 1697a BGB). Aus diesem Grunde erscheine im vorliegenden Fall lediglich der durch die Entscheidung vom 9. Februar 2006 in seinen Rechten verletzte Beschwerdeführer schutzbedürftig. Dieser könne mangels internationaler Zuständigkeit der deutschen Gerichte ohne Wiederaufnahme des Ausgangsverfahrens im Inland kein neues erstinstanzliches Abänderungsverfahren anstrengen, während die Antragsgegner durch diese Entscheidung nach dem System des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit ohnehin keine schutzwürdige Rechtsposition erlangt hätten; Änderungen der Rechtsprechung und der Gesetzeslage seien nämlich Abänderungsgründe im Sinne des § 1696 BGB. Ausgehend von der in der Gesetzesbegründung niedergelegten gesetzgeberischen Absicht liege für diese Sachlage demnach eine planwidrige Regelungslücke vor, die eine teleologische Reduktion des § 35 EGZPO erfordere.
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Deutschland sei gemäß Art. 46 Abs. 1 EMRK völkerrechtlich verpflichtet, das endgültige Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu befolgen. Was unter "befolgen" zu verstehen sei, sei höchstrichterlich geklärt. Die Bindungswirkung einer Entscheidung des Gerichtshofs erstrecke sich auf alle staatlichen Organe und verpflichte diese grundsätzlich, im Rahmen ihrer Zuständigkeit und ohne Verstoß gegen die Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) einen fortdauernden Konventionsverstoß zu beenden sowie einen konventionsgemäßen Zustand herzustellen. Solange im Rahmen geltender methodischer Standards Auslegungs- und Abwägungsspielräume eröffnet seien, treffe das deutsche Gericht die Pflicht, der konventionsgemäßen Auslegung den Vorrang zu geben (vgl. OLG Frankfurt am Main, a.a.O., FamRZ 2014, S. 682 683 f.>).
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4. Auf die vom Oberlandesgericht zugelassene Rechtsbeschwerde der Antragsgegner hob der Bundesgerichtshof den Beschluss des Oberlandesgerichts auf und wies den Antrag des Beschwerdeführers auf Wiederaufnahme des Umgangsrechtsverfahrens zurück (vgl. BGH, Beschluss vom 19. März 2014 - XII ZB 511/13 -, FamRZ 2014, S. 927).
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a) Zur Begründung führte der Bundesgerichtshof aus, im Ansatz zutreffend habe das Oberlandesgericht darauf abgestellt, dass § 35 EGZPO nach seiner auf den Wortlaut, die systematische Stellung und den Willen des Gesetzgebers bezogenen Auslegung die Wiederaufnahme eines bereits vor Ablauf des Jahres 2006 formell rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens ausschließe.
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aa) Gemäß § 580 Nr. 8 ZPO in der seit dem 31. Dezember 2006 geltenden Fassung finde die Restitutionsklage statt, wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention oder ihrer Protokolle festgestellt habe und das Urteil auf dieser Verletzung beruhe. Nach § 35 EGZPO sei § 580 Nr. 8 ZPO auf Verfahren, die vor dem 31. Dezember 2006 rechtskräftig abgeschlossen worden seien, nicht anzuwenden. Gemäß § 48 Abs. 2 FamFG gelte § 580 Nr. 8 ZPO in Verbindung mit § 35 EGZPO ebenso für Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit, mithin auch für Umgangsrechtsverfahren (vgl. BTDrucks 16/3038, S. 39). Auch wenn Umgangsrechtsentscheidungen wegen der jederzeitigen Abänderbarkeit nicht in materieller Rechtskraft erwüchsen, seien sie gleichwohl der formellen Rechtskraft fähig.
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bb) Die in § 35 EGZPO enthaltene Stichtagsregelung stelle nach ihrem Wortlaut auf den Zeitpunkt ab, zu dem das Verfahren rechtskräftig abgeschlossen sei. Mangels entgegenstehender Hinweise sei davon auszugehen, dass der Begriff der Rechtskraft im Einführungsgesetz zur Zivilprozessordnung einheitlich gebraucht werde, weshalb § 19 EGZPO gelte. Ordentliche Rechtsmittel im Sinne dieser Norm stellten weder die Verfassungsbeschwerde noch die Individualbeschwerde im Sinne des Art. 34 EMRK dar. Durch diese besonderen Rechtsbehelfe zum Schutz der Grundrechte und individueller Menschenrechte werde die Rechtskraft der angegriffenen Entscheidung nicht gehemmt, der rechtskräftige Abschluss des Verfahrens also nicht verzögert. Die Rechtskraft der angefochtenen Entscheidung sei vielmehr Zulässigkeitsvoraussetzung der Verfassungsbeschwerde und der Individualbeschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Das Verfahren vor dem Gerichtshof stelle sich zudem nicht als Fortsetzung des innerstaatlichen Verfahrens dar; die Individualbeschwerde richte sich nicht gegen die im Zivilprozess obsiegende Partei, sondern gegen die Bundesrepublik Deutschland. Schließlich verwende die Europäische Menschenrechtskonvention nicht den Begriff der Rechtskraft, sondern spreche von der endgültigen Entscheidung, wenn es um den Abschluss des Verfahrens vor dem Gerichtshof gehe.
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cc) Für die Anknüpfung an die formelle Rechtskraft des Ausgangsrechtsstreits sprächen überdies systematische Erwägungen. Der Begriff Verfahren werde sowohl in der Überschrift des 4. Buchs der Zivilprozessordnung als auch in der Grundnorm des § 578 Abs. 1 ZPO verwandt, nach der die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Endurteil geschlossenen Verfahrens durch Nichtigkeitsklage oder durch Restitutionsklage erfolgen könne. Beide Klagen seien auf die Überwindung der Rechtskraft des Ausgangsverfahrens gerichtet.
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dd) Zu Recht habe das Oberlandesgericht insoweit auch auf den Willen des Gesetzgebers verwiesen. In der Gesetzesbegründung zu § 35 EGZPO heiße es unter Hinweis auf § 578 Abs. 1 ZPO ausdrücklich, die Übergangsregelung stelle sicher, dass eine Anwendung des neuen Restitutionsgrundes nach § 580 Nr. 8 ZPO erst für diejenigen Entscheidungen in Betracht komme, die nach dem Inkrafttreten der Gesetzesänderung rechtskräftig abgeschlossen würden. Ohne diese Regelung bestünde die Gefahr einer unzulässigen rückwirkenden Anwendung der Neuregelung. Ein Gesetz, das rückwirkend einen neuen Restitutionsgrund normiere, greife in einen abgeschlossenen Sachverhalt ein. Eine solche echte Rückwirkung sei aber grundsätzlich unzulässig (BTDrucks 16/3038, S. 36). Mit dem Verweis auf § 578 ZPO habe der Gesetzgeber mithin erkennbar den Willen zum Ausdruck gebracht, mit der Stichtagsregelung an die Rechtskraft des Ausgangsrechtsstreits und nicht an die Beendigung des Beschwerdeverfahrens vor dem Gerichtshof anzuknüpfen.
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b) Entgegen der Auffassung des Oberlandesgerichts stehe dem vorstehend gefundenen Auslegungsergebnis Sinn und Zweck der Norm auch für Kindschaftssachen nicht entgegen, so dass es einer teleologischen Reduktion des § 35 EGZPO nicht bedürfe. Weder die Europäische Menschenrechtskonvention und die hierzu ergangene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte noch die Besonderheiten des vorliegenden Umgangsrechtsverfahrens als eines Kindschaftsverfahrens mit Dauerwirkung geböten es, den Restitutionsgrund des § 580 Nr. 8 ZPO auch auf Verfahren anzuwenden, die im Zeitpunkt seiner Einführung bereits formell rechtskräftig abgeschlossen gewesen seien.
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aa) Der Gesetzgeber sei schon im Ausgangspunkt weder durch die Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention noch durch die hierzu ergangene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Einführung des Restitutionsgrundes des § 580 Nr. 8 ZPO verpflichtet (BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. August 2013 - 2 BvR 1380/08 -, NJW 2013, S. 3714 3715>; BTDrucks 16/3038, S. 39). Dem deutschen Gesetzgeber sei es daher nicht verwehrt gewesen, den Restitutionsgrund des § 580 Nr. 8 ZPO nur für solche Verfahren zu eröffnen, die nach Inkrafttreten der gesetzlichen Regelung, also nach dem 31. Dezember 2006, rechtskräftig abgeschlossen würden.
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Auch wenn sich die Vertragsparteien der Europäischen Menschenrechtskonvention nach Art. 46 Abs. 1 EMRK verpflichtet hätten, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei seien, das endgültige Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu befolgen, ändere dies nichts daran, dass die Beseitigung einer Konventionsverletzung grundsätzlich den Vertragsparteien überlassen bleibe, die dieser Pflicht im Rahmen des nach der innerstaatlichen Rechtsordnung Möglichen nachzukommen hätten. Demgemäß hätten die Gerichte ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, das einen von ihnen bereits entschiedenen Fall betreffe, nur insoweit zu berücksichtigen, als sie in verfahrensrechtlich zulässiger Weise erneut über den Gegenstand entscheiden und dem Urteil ohne Gesetzesverstoß Rechnung tragen könnten.
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bb) Zu Recht wende die Rechtsbeschwerde zudem ein, dass auch die Besonderheiten des hier gegenständlichen Umgangsrechtsverfahrens als Kindschaftssache mit Dauerwirkung keine von den vorstehenden Grundsätzen abweichende Beurteilung erforderten. In Umgangsrechts- ebenso wie in Sorgerechtsverfahren sei für den Einwand der rechtskräftig entschiedenen Sache zwar kein Raum. § 1696 Abs. 1 BGB enthalte eine materiell-rechtliche Änderungsbefugnis, die nicht nur der Anpassung der getroffenen Regelung an eine Änderung der für die Entscheidung maßgeblichen tatsächlichen Verhältnisse diene, sondern auch eine Berücksichtigung solcher Tatsachen erlaube, die bei der Entscheidungsfindung zwar schon vorgelegen hätten, dem Gericht aber nicht bekannt gewesen seien.
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Der vom Oberlandesgericht hieraus gezogene Schluss, wonach der in einer Kindschaftssache obsiegende Beteiligte wegen der möglichen Abänderbarkeit der Entscheidung mangels eines entsprechenden Vertrauens in die materielle Rechtskraft nicht schutzbedürftig, der Beschwerdeführer wegen des mittlerweile eingetretenen Verlustes der internationalen Zuständigkeit hingegen besonders schutzbedürftig sei, gehe jedoch fehl. Die Erwägung zeige vielmehr, dass der vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte obsiegende Beteiligte in solchen Fällen einer Wiederaufnahme des Verfahrens im Sinne des § 580 ZPO in Verbindung mit § 48 Abs. 2 FamFG gar nicht bedürfe, um eine menschenrechtskonforme Entscheidung für die Zukunft zu erreichen.
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(1) Zwar vermöge der Beschwerdeführer vor den deutschen Gerichten aufgrund der besonderen Umstände des vorliegenden Einzelfalls keine Änderung der Ausgangsentscheidung zu erlangen. Der Grund hierfür liege indes nicht im materiellen Recht, sondern allein im Verfahrensrecht (wird anhand der Verordnung <EG> Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung <EG> Nr. 1347/2000, ABl. Nr. L 338 vom 23. Dezember 2003, S. 1 <im Folgenden: Brüssel IIa-VO> näher ausgeführt).
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(2) Die fehlende Zuständigkeit deutscher Gerichte mache den Beschwerdeführer entgegen der Auffassung des Oberlandesgerichts jedoch nicht besonders schutzwürdig, zumindest nicht in einem Maße, das eine Auslegung des § 35 EGZPO entgegen dem klaren Wortlaut, seiner systematischen Stellung und dem Willen des Gesetzgebers rechtfertigen könnte. Die Zuständigkeitsvorschriften der Brüssel IIa-Verordnung, wonach für die Zuständigkeit der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes maßgeblich sei, dienten vor allem der Wahrung des Kindeswohls. Dem Kind solle nicht zugemutet werden, in ein anderes Land zu reisen, um an einer - regelmäßig erforderlichen - gerichtlichen Anhörung teilzunehmen. Auch im Übrigen erscheine es sachgerecht, alle weiteren Ermittlungen - wie etwa die Einholung eines Sachverständigengutachtens - am Aufenthaltsort des Kindes durchzuführen.
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cc) Schließlich werde der Beschwerdeführer durch die Verweisung auf die nunmehr zuständigen Gerichte des Vereinigten Königreichs auch nicht rechtlos gestellt. Es bleibe ihm unbenommen, dort einen Umgangsrechtsantrag zu stellen. Zwar unterliege das englische Recht hinsichtlich des Umgangsrechts des biologischen Vaters ähnlichen Beschränkungen wie das deutsche. Da aber auch das Vereinigte Königreich Vertragsstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention sei, werde das angerufene Gericht bei seiner Entscheidung Art. 8 EMRK in der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gefundenen Auslegung gemäß Art. 46 EMRK ebenso zu berücksichtigen haben wie ein deutsches Gericht.
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II.
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1. Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 und Art. 3 Abs. 1 GG durch den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 19. März 2014.
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a) Der Bundesgerichtshof verkenne unter offensichtlichem Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 GG, dass eine Verpflichtung Deutschlands zur Wiederaufnahme des Ausgangsverfahrens nur dann nicht bestehe, wenn eine diesbezügliche Auslegung des Verfahrensrechts nach den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung und Verfassungsinterpretation nicht mehr vertretbar erscheine.
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aa) Der Bundesgerichtshof prüfe nicht das Bestehen einer verfassungsrechtlichen Verpflichtung zu einer entsprechenden Auslegung des Verfahrensrechts, sondern lediglich, ob die Europäische Menschenrechtskonvention und die dazu ergangene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte eine Wiederaufnahme geböten, was er im Ergebnis verneine. Ungeachtet dessen verkenne er, dass gerade für die vorliegende Fallkonstellation der andauernden Konventionsverletzung auch nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte eine völkerrechtliche Verpflichtung Deutschlands zur Beendigung dieses Verstoßes, insbesondere durch eine Wiederaufnahme des Verfahrens, bestehe. Soweit der Bundesgerichtshof auf das Bundesverfassungsgericht (BVerfG, NJW 2013, S. 3714 3715>) verweise, verkenne er, dass die angeführte Entscheidung ausschließlich die Frage der Wiederaufnahme eines Prozesses hinsichtlich eines rechtskräftigen Urteils nach der Zivilprozessordnung betroffen habe, nicht aber die Frage der Wiederaufnahmeverpflichtung bei einem dauerhaften Konventionsverstoß. Der Bundesgerichtshof verkenne im Zusammenhang mit der Frage der konventionsrechtlichen Verpflichtung auch die zugrunde zu legenden verfassungsrechtlichen Maßstäbe. Nach BVerfGE 74, 358 (370) könne eine verfassungs- beziehungsweise konventionskonforme Auslegung des deutschen Rechts im Hinblick auf die Umsetzung einer Konventionsverpflichtung nur dann verneint werden, wenn der Gesetzgeber klar bekundet habe, dass er von den völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands abweichen oder die Verletzung solcher Verpflichtungen ermöglichen wolle. Das habe der Bundesgerichtshof aber ersichtlich nicht angenommen. Die grundlegende Verkennung der verfassungsrechtlichen Verpflichtung zur Umsetzung der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte durch Deutschland ergebe sich auch aus der Annahme, dass es einer Wiederaufnahme des Verfahrens gar nicht bedürfe, um eine menschenrechtskonforme Entscheidung für die Zukunft zu erreichen, und es ausreiche, dass eine menschenrechtskonforme Entscheidung auch im Ausland erlangt werden könne.
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bb) Der Bundesgerichtshof setze sich in keiner Weise mit der vom Oberlandesgericht im Beschluss vom 22. August 2013 eingehend begründeten teleologischen Reduktion des § 35 EGZPO auseinander, die nach zutreffender Darstellung des Oberlandesgerichts zu den anerkannten Auslegungsgrundsätzen zähle. Danach liege eine planwidrige Regelungslücke vor, die eine teleologische Reduktion des § 35 EGZPO rechtfertige, weil der Zweck der Vorschrift, das Vertrauen in die Rechtskraft eines gerichtlichen Urteils absolut zu schützen, in Kindschaftssachen ersichtlich nicht einschlägig sei, da solche Beschlüsse nicht in Rechtskraft erwüchsen. Hiernach sei allein der Beschwerdeführer schutzbedürftig, der ohne Wiederaufnahme des Ausgangsverfahrens mangels internationaler Zuständigkeit kein neues erstinstanzliches Abänderungsurteil anstrengen könne, während die rechtlichen Eltern mangels gebotenen Vertrauensschutzes keine schutzwürdige Position erlangt hätten. Diese Umstände habe der Gesetzgeber ersichtlich übersehen und nicht erwogen. Der Gesetzgeber habe eine Konventionsverpflichtung anerkannt, laufende Konventionsverletzungen zu beenden und eine Wiederholung zu unterlassen. Umsetzungsprobleme habe er lediglich im Hinblick auf den Schutz der materiellen Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen gesehen, wenn die Konventionsverletzung einen abgeschlossenen Sachverhalt betreffe beziehungsweise nicht allein durch zukünftige Änderungen abgestellt werden könne. Nur für diese Fallgestaltung, die von der vorliegenden abweiche, habe er ausweislich der Gesetzesmaterialien eine Wiederaufnahme für Altfälle versagt.
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cc) Es sei unzumutbar, den Beschwerdeführer auf ein neues Verfahren im Vereinigten Königreich zu verweisen, dessen Recht ähnlichen Beschränkungen wie das frühere deutsche unterliege, zumal das Verfahren beim Oberlandesgericht sich bereits im fortgesetzten Stadium befunden habe. Darüber hinaus habe der Bundesgerichtshof verkannt, dass die englischen Gerichte, anders als die deutschen, nicht gemäß Art. 46 EMRK an die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gebunden seien. Außerdem hätten sich die Eltern auf das Ausgangs- und das Wiederaufnahmeverfahren eingelassen. Sie seien offensichtlich nicht der Auffassung, dass das Verfahren in Deutschland für das Kind nachteilig sei.
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b) Die Anwendung von § 35 EGZPO auf Altfälle verstoße gegen Art. 3 Abs. 1 GG, weil es keine tragfähigen Gründe für eine Ungleichbehandlung von Alt- und Neufällen gebe. Es sei zu berücksichtigen, dass das Verfahren durch Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 20. September 2006 innerstaatlich erst kurz vor Inkrafttreten der Neuregelung abgeschlossen worden sei. Auf die Dauer des Verfahrens habe der Beschwerdeführer keinen Einfluss gehabt.
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c) Des Weiteren habe der Bundesgerichtshof gegen die zitierten Grundrechte verstoßen, da § 580 Nr. 7 Buchstabe b ZPO in der Weise analog anzuwenden gewesen sei, dass die Rechtskraft eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in dem streitgegenständlichen Verfahren betreffend denselben Beschwerdeführer einen Wiederaufnahmegrund darstelle; das werde auch in der Literatur so angenommen. Der Wegfall der Wiederaufnahmemöglichkeit für Altfälle gemäß § 580 Nr. 7 Buchstabe b ZPO (analog) nach Inkrafttreten der Neuregelung des § 580 Nr. 8 ZPO in Verbindung mit § 35 EGZPO verstoße gegen die Grundrechte des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG wegen Verletzung des Rückwirkungsverbots.
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2. Die Antragsgegner machen geltend, der Beschwerdeführer könne sich nicht auf Art. 6 Abs. 1 GG berufen, solange dessen biologische Vaterschaft nicht anerkannt oder zugestanden sei, woran es bislang fehle. Eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts des Beschwerdeführers nach Art. 2 Abs. 1 GG liege ebenfalls nicht vor, weil das Kind seit der Geburt ohne Unterbrechung in England lebe und es deshalb Sache des Beschwerdeführers gewesen wäre, eine psychosoziale Beziehung zu dem Kind in England aufzubauen. Für die Forderung, eine Umgangsbeziehung mit dem Kind zu entwickeln, seien ausschließlich die englischen Gerichte zuständig. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte habe die von Anfang an bestehende Zuständigkeit der englischen Gerichte nach Art. 8 Brüssel IIa-VO sowie § 35 EGZPO übersehen, die eine Wiederaufnahme des Verfahrens in Deutschland ausschlössen. Die vom Beschwerdeführer herangezogene Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte habe nicht zu einer Aushebelung der grundlegenden Zuständigkeitsvorschriften der Brüssel IIa-VO führen sollen. Die Dauer des bisherigen Verfahrens müsse sich der Beschwerdeführer selbst vorhalten lassen, weil er seit Geltung der Brüssel IIa-VO gehalten gewesen sei, die Hilfe der englischen Gerichte in Anspruch zu nehmen. Das sei seit der Geburt des Kindes in England auch möglich gewesen.
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III.
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Mit Schriftsatz vom 18. Juni 2014 stellte der Beschwerdeführer den Antrag, im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes anzuordnen, dass die Wirksamkeit des Beschlusses des Bundesgerichtshofs vom 19. März 2014 einstweilen ausgesetzt und die Wirksamkeit des Beschlusses des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main einstweilen wiederhergestellt werde. Mit Beschluss vom 26. Juni 2014 lehnte die 1. Kammer des Zweiten Senats den Antrag ab. Der Antrag sei unzulässig, weil eine einstweilige Anordnung dieses Inhalts die Entscheidung in der Hauptsache vorwegnähme (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Juni 2014 - 2 BvR 1170/14 -, juris).
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Die Bundesregierung hatte Gelegenheit zur Stellungnahme, hat aber hiervon abgesehen. Dem Bundesverfassungsgericht haben die Akten des Ausgangsverfahrens vorgelegen.
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IV.
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Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, da die Annahmevoraussetzungen nicht vorliegen (§ 93a Abs. 2 BVerfGG). Ihr kommt keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu (§ 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG), da die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen, insbesondere die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention bei der Auslegung des einfachen Rechts, bereits geklärt sind (vgl. BVerfGE 74, 358 370>; 111, 307 323 ff.>; 128, 326 367 ff.>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. August 2013 - 2 BvR 1380/08 -, juris, Rn. 27 ff.). Ihre Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG), weil sie unbegründet ist und daher keine Aussicht auf Erfolg hat (vgl. BVerfGE 90, 22 25 f.>; 108, 129 136>; stRspr).
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Die fachgerichtliche Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts kann grundsätzlich nur daraufhin geprüft werden, ob sie willkürlich ist oder auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von Bedeutung und Tragweite eines Grundrechts beruht oder mit anderen verfassungsrechtlichen Vorschriften unvereinbar ist (vgl. BVerfGE 1, 418 420>; 18, 441 450>; 94, 315 328>; 111, 307 328>; 128, 193 209>; stRspr). Für die verfassungsgerichtliche Nachprüfung der Auslegung und Anwendung völkerrechtlicher Verträge, die durch Gesetz in innerstaatliches Recht überführt worden sind, gelten im Allgemeinen dieselben Grundsätze, die auch sonst die Befugnis des Bundesverfassungsgerichts, Entscheidungen der Fachgerichte zu überprüfen, begrenzen. Im Rahmen seiner Zuständigkeit ist das Bundesverfassungsgericht allerdings dazu berufen, Verletzungen des Völkerrechts, die in der fehlerhaften Anwendung oder Nichtbeachtung völkerrechtlicher Verpflichtungen durch deutsche Gerichte liegen und eine völkerrechtliche Verantwortlichkeit Deutschlands begründen können, nach Möglichkeit zu verhindern und zu beseitigen (vgl. BVerfGE 58, 1 34>; 59, 63 89>; 109, 13 23>; 111, 307 328>; BVerfGK 13, 506 513>). Es steht damit mittelbar im Dienst der Durchsetzung des Völkerrechts und vermindert dadurch das Risiko der Nichtbefolgung internationalen Rechts. Aus diesem Grund kann es geboten sein, die Anwendung und Auslegung völkerrechtlicher Verträge durch die Fachgerichte abweichend von den allgemeinen Maßstäben zu überprüfen (vgl. BVerfGE 111, 307 328>). Dies gilt in besonderem Maße für die völkerrechtlichen Verpflichtungen aus der Europäischen Menschenrechtskonvention, weil das Grundgesetz mit Art. 1 Abs. 2 GG dem Kernbestand an internationalen Menschenrechten einen besonderen Schutz zuweist (vgl. BVerfGE 111, 307 328 f.>). Im Übrigen hängt die Intensität der verfassungsgerichtlichen Prüfung davon ab, in welchem Maße von der Entscheidung Grundrechte beeinträchtigt werden (vgl. BVerfGE 42, 143 147 ff.>; 83, 130 145>; BVerfGK 17, 407 412>; stRspr).
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Die Auslegung und Anwendung der § 35 EGZPO, § 48 Abs. 2 FamFG und § 580 Nr. 8 ZPO durch den Bundesgerichtshof ist nicht willkürlich (1.) und beruht auch nicht auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von Bedeutung und Tragweite von Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG (2.). Die vom Bundesgerichtshof vorgenommene Auslegung verkennt weder den Einfluss der Europäischen Menschenrechtskonvention und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte noch gerät sie mit Blick auf die Bindungswirkung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gemäß Art. 46 EMRK mit den Wertungen der Europäischen Menschenrechtskonvention in Konflikt (3.).
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1. Die Auslegung und Anwendung der § 35 EGZPO, § 48 Abs. 2 FamFG und § 580 Nr. 8 ZPO durch den Bundesgerichtshof ist nicht willkürlich. Insbesondere ist die Auffassung des Bundesgerichtshofs nicht willkürlich, dass § 35 EGZPO auf die formelle Rechtskraft abstelle und Sinn und Zweck der Norm ihrer Anwendung auf Kindschaftssachen nicht entgegenstünden, so dass es keiner teleologischen Reduktion des § 35 EGZPO bedürfe. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers hat sich der Bundesgerichtshof ausdrücklich und ausführlich mit der vom Oberlandesgericht Frankfurt am Main vorgenommenen teleologischen Reduktion des § 35 EGZPO auseinandergesetzt. Der Bundesgerichtshof folgt dabei den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung (grammatikalische, systematische und historische Auslegung) und hat seine Auffassung sorgfältig begründet. Auslegungsfehler sind nicht ersichtlich. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers ist auch die Annahme nicht zu beanstanden, dass von § 35 EGZPO nach dem Willen des Gesetzgebers nur Gerichtsentscheidungen erfasst würden, die der materiellen Rechtskraft fähig seien. Zwar erwachsen Sorgerechtsentscheidungen nicht in materielle Rechtskraft (vgl. BVerfGK 5, 161 167>). Doch lässt sich aus der Begründung zum Entwurf der Bundesregierung für ein 2. Justizmodernisierungsgesetz, wonach sich Schwierigkeiten mit der Behebung eines Konventionsverstoßes dann ergäben, wenn die Konventionsverletzung einen abgeschlossenen Sachverhalt betreffe beziehungsweise nicht allein durch zukünftige Änderungen abgestellt werden könne (vgl. BTDrucks 16/3038, S. 39), nicht ableiten, dass der Gesetzgeber Entscheidungen, die nicht in materielle Rechtskraft erwachsen, von § 35 EGZPO nicht erfasst wissen wollte. Die zitierte Passage bezieht sich nicht auf § 35 EGZPO, sondern auf § 580 ZPO (vgl. BTDrucks 16/3038, S. 38). In ihr legt die Bundesregierung lediglich allgemein dar, in welchen Fällen es einer Ergänzung des § 580 ZPO bedurfte, um Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte umzusetzen; sie setzt sich hingegen nicht damit auseinander, inwieweit der zeitliche Geltungsbereich des § 580 Nr. 8 ZPO im Hinblick auf eine unzulässige Rückwirkung einzuschränken ist. Sie verdeutlicht, im Gegenteil, dass es für die Fälle, in denen Konventionsverletzungen durch zukünftige Änderungen abgestellt werden können (weil etwa Entscheidungen nicht in materielle Rechtskraft erwachsen), der Einführung des Restitutionsgrundes des § 580 Nr. 8 ZPO von vornherein nicht bedurfte.
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2. Die Auslegung und Anwendung der § 35 EGZPO, § 48 Abs. 2 FamFG und § 580 Nr. 8 ZPO durch den Bundesgerichtshof beruht auch nicht auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von Bedeutung und Tragweite von Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG.
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a) Der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 19. März 2014 stellt einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG dar. Ein dem leiblichen Vater zukommender Schutz des Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG scheidet aus, weil die Vaterschaft des Beschwerdeführers nicht feststeht (aa). Da jedoch die Möglichkeit leiblicher Vaterschaft besteht, kommt ihm zumindest der Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zugute (bb).
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aa) Der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 19. März 2014 stellt keinen Eingriff in den Schutzbereich von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG dar (vgl. auch EGMR, Urteil vom 15. September 2011, Schneider v. Deutschland, Nr. 17080/07, NJW 2012, S. 2781). Zwar ist der Wunsch des leiblichen Vaters nach Umgang mit dem Kind verfassungsrechtlich grundsätzlich anzuerkennen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 19. November 2014 - 1 BvR 2843/14 -, NJW 2015, S. 542 542> Rn. 10) und auch vom Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG umfasst. Steht allerdings nicht fest, ob ein Beschwerdeführer der leibliche Vater des Kindes ist, scheidet sowohl nach der hergebrachten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als auch nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ein Eingriff in Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG beziehungsweise Art. 8 Abs. 1 EMRK aus. Im vorliegenden Fall behauptet der Beschwerdeführer zwar, der biologische Vater des Kindes zu sein und stützt sich hierzu auf den Beweisbeschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 13. September 2012, das aufgrund des Akteninhalts, der insoweit weitgehend unstreitigen Umstände sowie nach persönlicher Anhörung der Beteiligten im Wege des Freibeweises (vgl. § 30 FamFG) zu der Überzeugung gelangt ist, dass das Kind der leibliche Sohn des Beschwerdeführers sei. Doch wird die leibliche Vaterschaft von den Antragsgegnern nach wie vor bestritten. Auch wurde die biologische Vaterschaft des Beschwerdeführers bislang nicht durch eine genetische Abstammungsuntersuchung nachgewiesen.
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bb) Der Beschwerdeführer kann sich jedoch auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG berufen. Dieses ergänzt die im Grundgesetz normierten Freiheitsrechte und gewährleistet die engere persönliche Lebenssphäre und die Erhaltung ihrer Grundbedingungen (vgl. BVerfGE 54, 148 153>; 72, 155 170>; 79, 256 268>; 96, 171 181>; 114, 339 346>; 119, 1 23 f.>). Es sichert jedem Einzelnen einen autonomen Bereich privater Lebensgestaltung, in dem er seine Individualität entwickeln und wahren kann (vgl. BVerfGE 35, 202 220>; 79, 256 268>; 90, 263 270>; 117, 202 225>). Die Möglichkeit, sich als Individuum sozial in eine Beziehung zu anderen zu setzen, wird deshalb vom Schutz des Persönlichkeitsrechts mitumfasst (vgl. BVerfGE 108, 82 105>; 117, 202 225 f.>) und verbürgt einem präsumtiven leiblichen Vater zumindest das Recht, die Voraussetzungen klären zu lassen, die zur Herstellung einer sozial-familiären Beziehung erfüllt sein müssen. Dies folgt auch aus Art. 8 Abs. 1 EMRK, wonach der Begriff des Privatlebens wichtige Aspekte der persönlichen Identität von Menschen erfasst und dementsprechend enge Beziehungen, bei denen es sich nicht um Familienleben handelt, grundsätzlich unter den Begriff des Privatlebens fallen (vgl. EGMR, a.a.O., NJW 2012, S. 2781 2785 f.> Rn. 82, 90 m.w.N.). Ist der Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG nicht eröffnet, besteht Raum für eine Anwendung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 24, 119 151>; 42, 234 236>; 57, 170 178>).
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b) Der Eingriff in die Grundrechte des Beschwerdeführers durch den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 19. März 2014 erweist sich jedoch als gerechtfertigt. Die Auslegung der Stichtagsregelung des § 35 EGZPO, wonach auf Verfahren, die vor dem 31. Dezember 2006 rechtskräftig abgeschlossen worden sind, § 580 Nr. 8 ZPO nicht anzuwenden ist, begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. BAGE 144, 59 66 ff. Rn. 26 ff.>; LAG Düsseldorf, Urteil der 7. Kammer vom 4. Mai 2011 - 7 Sa 1427/10 -, EuGRZ 2011, S. 417 420>). Die Stichtagsregelung des § 35 EGZPO verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG (aa) oder das aus Art. 20 Abs. 3 GG abzuleitende Rückwirkungsverbot (bb). Darüber hinaus trägt die Auffassung des Bundesgerichtshofs, die Besonderheiten des Umgangsrechtsverfahrens als Kindschaftssache mit Dauerwirkung rechtfertigten keine abweichende Beurteilung, der Bedeutung und der Tragweite von Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG hinreichend Rechnung (cc).
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aa) Stichtagsregelungen sind grundsätzlich zulässig. Insbesondere ist es dem Gesetzgeber nicht durch Art. 3 Abs. 1 GG verwehrt, zur Regelung bestimmter Lebenssachverhalte Stichtage einzuführen, auch wenn jeder Stichtag unvermeidlich gewisse Härten mit sich bringt. Voraussetzung ist allerdings, dass sich die Einführung des Stichtags und die Wahl des Zeitpunkts am gegebenen Sachverhalt orientieren und damit sachlich vertretbar sind (vgl. BVerfGE 101, 239 270>; 117, 272 301>; stRspr). Anhaltspunkte dafür, dass die Wahl des konkreten Datums in § 35 EGZPO sachwidrig wäre, liegen nicht vor. Die mit der Einführung von Stichtagen verbundenen Friktionen und Härten im Einzelfall sind hinzunehmen.
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bb) Für einen Verstoß von § 35 EGZPO gegen das aus Art. 20 Abs. 3 GG abzuleitende Rückwirkungsverbot ist nichts ersichtlich. Soweit der Beschwerdeführer davon ausgeht, die Stichtagsregelung des § 35 EGZPO in Verbindung mit § 580 Nr. 8 ZPO stelle deswegen eine unzulässige echte Rückwirkung dar, weil die Wiederaufnahmemöglichkeit für Altfälle gemäß § 580 Nr. 7 Buchstabe b ZPO (analog) nach Inkrafttreten des § 580 Nr. 8 ZPO weggefallen sei, verkennt er, dass im Jahr 2006 eine analoge Anwendung des § 580 Nr. 7 Buchstabe b ZPO nach herrschender Auffassung im Schrifttum und in der Rechtsprechung abgelehnt wurde. Eine solche Analogie wurde im Schrifttum zwar vereinzelt befürwortet; in der Rechtsprechung und dem überwiegenden Teil der Literatur konnte sich diese Ansicht aber nicht durchsetzen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. August 2013 - 2 BvR 1380/08 -, juris, Rn. 35 f. m.w.N.). Insofern bestand schon keine Grundlage für ein Vertrauen in die Verlässlichkeit der Rechtsordnung, das durch eine vermeintlich rückwirkende Regelung hätte enttäuscht werden können (vgl. BVerfGE 97, 67 78 ff.>; 105, 17 36 ff.>).
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cc) Die Auffassung des Bundesgerichtshofs, die Besonderheiten des Umgangsrechtsverfahrens als Kindschaftssache mit Dauerwirkung rechtfertigten keine abweichende Beurteilung, trägt der Bedeutung und der Tragweite von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG beziehungsweise von Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG hinreichend Rechnung. Soweit er sich gegen die Auffassung des Beschwerdegerichts wendet, wonach der in einer Kindschaftssache obsiegende Beteiligte wegen der möglichen Abänderbarkeit der Entscheidung mangels eines entsprechenden Vertrauens in die materielle Rechtskraft nicht schutzbedürftig sei, der Beschwerdeführer wegen des mittlerweile eingetretenen Verlustes der internationalen Zuständigkeit hingegen in besonderer Weise, beruft er sich nicht nur auf den klaren Wortlaut von § 35 EGZPO, seine systematische Stellung und den Willen des Gesetzgebers, sondern auch auf die vor allem der Wahrung des Kindeswohls dienenden Zuständigkeitsvorschriften der Brüssel IIa-VO. Dass für die Zuständigkeit danach der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes maßgeblich sei, diene dazu, alle weiteren Ermittlungen am Aufenthaltsort des Kindes, also im Vereinigten Königreich, durchzuführen. Dies trägt dem durch Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG beziehungsweise Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Kindeswohl Rechnung und wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass sich die rechtlichen Eltern auf das Ausgangs- und das Wiederaufnahmeverfahren vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main eingelassen haben. Denn aus der Einlassung folgt nicht, dass ein Umgangsrechtsverfahren vor deutschen Gerichten auch im Interesse des Kindes läge.
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Die Erwägung, die rechtlichen Eltern seien wegen der möglichen Abänderbarkeit der Entscheidung mangels eines entsprechenden Vertrauens in die materielle Rechtskraft nicht schutzbedürftig, verfängt nicht. Vielmehr zeigt sich daran, dass in solchen Fällen der vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte obsiegende Beteiligte einer Wiederaufnahme des Verfahrens im Sinne des § 580 ZPO in Verbindung mit § 48 Abs. 2 FamFG gar nicht bedarf, um eine menschenrechtskonforme Entscheidung für die Zukunft zu erreichen.
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Vor diesem Hintergrund vermag auch die Annahme, eine teleologische Reduktion des § 35 EGZPO sei deshalb verfassungsrechtlich geboten, weil die Interessen des Beschwerdeführers sonst dadurch unverhältnismäßig zurückgesetzt würden, nicht überzeugen. Dass er mangels internationaler Zuständigkeit kein neues erstinstanzliches Abänderungsurteil in Deutschland erreichen kann, sondern einen Umgangsantrag im Vereinigten Königreich stellen muss, ist keine Folge der Stichtagsregelung. Dass das Umgangsrechtsverfahren erst kurz vor Inkrafttreten des § 580 Nr. 8 ZPO formell rechtskräftig abgeschlossen worden ist und der Beschwerdeführer auf dessen Dauer keinen Einfluss gehabt hat, ändert daran nichts. Wie ausgeführt, war der Gesetzgeber zum einen gar nicht verpflichtet, den Wiederaufnahmegrund des § 580 Nr. 8 ZPO einzuführen; zum anderen bewirkt die Stichtagsregelung keine unzulässige Rückwirkung, weil die Wiederaufnahmemöglichkeit für Altfälle gemäß § 580 Nr. 7 Buchstabe b ZPO analog weggefallen wäre. Dem Beschwerdeführer wird lediglich eine Verbesserung vorenthalten. Dagegen ist verfassungsrechtlich nichts zu erinnern.
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3. Die vom Bundesgerichtshof vorgenommene Auslegung verkennt auch nicht den Einfluss der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Diese sind bei der Auslegung der Grundrechte und Verfassungsprinzipien des Grundgesetzes zwar als Auslegungshilfen heranzuziehen (a). Die Möglichkeiten einer konventionsfreundlichen Auslegung enden jedoch dort, wo diese nach den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung und Verfassungsinterpretation nicht mehr vertretbar erscheint (b). Art und Weise der Bindungswirkung hängen damit vom Zuständigkeitsbereich der staatlichen Organe ab und von dem Spielraum, den vorrangig anwendbares Recht lässt (c). Zu den anerkannten Auslegungsgrundsätzen gehört auch die teleologische Reduktion. Im Einzelfall kann es daher auch geboten sein, Vorschriften des einfachen Rechts teleologisch zu reduzieren, um der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Rechnung zu tragen (d). Der angegriffene Beschluss wird diesen Anforderungen uneingeschränkt gerecht (e).
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a) Die Europäische Menschenrechtskonvention und ihre Zusatzprotokolle - soweit sie für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten sind - stehen innerhalb der deutschen Rechtsordnung im Rang eines Bundesgesetzes (vgl. BVerfGE 74, 358 370>; 82, 106 120>; 111, 307 316 f.>; 128, 326 367>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. August 2013 - 2 BvR 1380/08 -, juris, Rn. 27). Gleichwohl besitzen die Gewährleistungen der Konvention verfassungsrechtliche Bedeutung, indem sie die Auslegung der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes beeinflussen. Der Konventionstext und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dienen auf der Ebene des Verfassungsrechts als Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes, sofern dies nicht zu einer - von der Konvention selbst nicht gewollten (vgl. Art. 53 EMRK) - Einschränkung oder Minderung des Grundrechtsschutzes nach dem Grundgesetz führt (vgl. BVerfGE 74, 358 370>; 83, 119 128>; 111, 307 317>; 120, 180 200 f.>; 128, 326 367 f.>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. August 2013 - 2 BvR 1380/08 -, juris, Rn. 27). Auf der Ebene des einfachen Rechts trifft die Fachgerichte die Verpflichtung, die Gewährleistungen der Konvention zu berücksichtigen und in den betroffenen Teilbereich der nationalen Rechtsordnung einzupassen (vgl. BVerfGE 74, 358 370>; 111, 307 323, 326 f.>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. August 2013 - 2 BvR 1380/08 -, juris, Rn. 27). Die Pflicht zur Berücksichtigung der Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte erfordert zumindest, dass die entsprechenden Texte und Judikate zur Kenntnis genommen werden und in den Willensbildungsprozess des zu einer Entscheidung berufenen Gerichts einfließen. Gegebenenfalls muss das Gericht nachvollziehbar begründen, warum es der völkerrechtlichen Rechtsauffassung nicht folgt (vgl. BVerfGE 111, 307 324, 329>).
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b) Die Möglichkeiten einer konventionsfreundlichen Auslegung enden jedoch dort, wo diese nach den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung und Verfassungsinterpretation nicht mehr vertretbar erscheint (vgl. BVerfGE 111, 307 323, 329>; 128, 326 371>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. August 2013 - 2 BvR 1380/08 -, juris, Rn. 30), etwa wenn die Beachtung der Entscheidung des Gerichtshofs gegen eindeutig entgegenstehendes Gesetzesrecht verstößt. Auch auf der Ebene des Bundesrechts genießt die Konvention nicht automatisch Vorrang vor anderem Bundesrecht (vgl. BVerfGE 111, 307 329>).
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Im Übrigen ist auch im Rahmen der konventionsfreundlichen Auslegung des Grundgesetzes - ebenso wie bei der Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auf der Ebene des einfachen Rechts - die Rechtsprechung des Gerichtshofs möglichst schonend in das vorhandene, dogmatisch ausdifferenzierte nationale Rechtssystem einzupassen (vgl. BVerfGE 111, 307 327>; 128, 326 371>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. August 2013 - 2 BvR 1380/08 -, juris, Rn. 30), weshalb sich eine unreflektierte Adaption völkerrechtlicher Begriffe verbietet. Bei der insoweit erforderlichen wertenden Rezeption durch die nationalen Gerichte kann auch dem Umstand Rechnung getragen werden, dass das Individualbeschwerdeverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, insbesondere bei zivilrechtlichen Ausgangsverfahren, die beteiligten Rechtspositionen und Interessen nur unzureichend abbildet (vgl. BVerfGE 111, 307 324, 328>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. August 2013 - 2 BvR 1380/08 -, juris, Rn. 30).
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c) Da die Bindungswirkung einer Entscheidung des Gerichtshofs die staatlichen Organe lediglich verpflichtet, im Rahmen ihrer Zuständigkeit und ohne Verstoß gegen die Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) einen fortdauernden Konventionsverstoß zu beenden und einen konventionsgemäßen Zustand herzustellen, hängt die Art und Weise der Bindungswirkung von dem Zuständigkeitsbereich der staatlichen Organe ab und von dem Spielraum, den vorrangig anwendbares Recht lässt. Gerichte sind zur Berücksichtigung eines Urteils, das einen von ihnen bereits entschiedenen Fall betrifft, jedenfalls dann verpflichtet, wenn sie in verfahrensrechtlich zulässiger Weise erneut über den Gegenstand entscheiden und dem Urteil ohne materiellen Gesetzesverstoß Rechnung tragen können (vgl. BVerfGE 111, 307 316>; BVerfGK 5, 161 165>). Letztendlich ist ausschlaggebend, ob ein Gericht im Rahmen des geltenden Verfahrensrechts die Möglichkeit zu einer weiteren Entscheidung hat, bei der es das einschlägige Urteil des Gerichtshofs berücksichtigen kann (vgl. BVerfGE 111, 307 327>).
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d) Art. 20 Abs. 3 GG verpflichtet die Gerichte, nach Gesetz und Recht zu entscheiden. Eine bestimmte Auslegungsmethode schreibt die Verfassung nicht vor. Zu den anerkannten Auslegungsgrundsätzen gehört auch die teleologische Reduktion (vgl. BVerfGE 35, 263 279 f.>; 88, 145 167>; 97, 186 196>), also die einschränkende Auslegung des Gesetzeswortlauts aufgrund des Sinn und Zwecks einer Regelung (vgl. BVerfGE 97, 186 196>). Angesichts des beschleunigten Wandels der gesellschaftlichen Verhältnisse und der begrenzten Reaktionsmöglichkeiten des Gesetzgebers sowie der offenen Formulierung zahlreicher Normen gehört die Anpassung des geltenden Rechts an veränderte Verhältnisse zu den Aufgaben der Dritten Gewalt (vgl. BVerfGE 49, 304 318>; 82, 6 12>; 96, 375 394>; 122, 248 267>; 128, 193 210>). Dementsprechend kann es geboten sein, Vorschriften des einfachen Rechts teleologisch zu reduzieren, um den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention Rechnung zu tragen. Der Aufgabe und Befugnis zur schöpferischen Rechtsfindung und Rechtsfortbildung sind mit Rücksicht auf die Gesetzesbindung der Rechtsprechung jedoch Grenzen gesetzt (vgl. BVerfGE 34, 269 288>; 49, 304 318>; 57, 220 248>; 74, 129 152>; 128, 193 210>). Der Richter darf sich nicht dem vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck des Gesetzes entziehen. Er muss die gesetzgeberische Grundentscheidung respektieren und den Willen des Gesetzgebers unter gewandelten Bedingungen möglichst zuverlässig zur Geltung bringen. Er hat hierbei den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung zu folgen (vgl. BVerfGE 84, 212 226>; 96, 375 395>; 128, 193 210>). Eine Interpretation, die als richterliche Rechtsfortbildung den klaren Wortlaut des Gesetzes hintanstellt, keinen Widerhall im Gesetz findet und vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich oder - bei Vorliegen einer erkennbar planwidrigen Gesetzeslücke - stillschweigend gebilligt wird, greift unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ein (vgl. BVerfGE 118, 212 243>; 128, 193 210>). Eine Rechtsfortbildung praeter legem bedarf außerdem sorgfältiger Begründung (vgl. BVerfGE 82, 6 11 ff.>; 88, 145 167>). Umgekehrt bedarf es, wenn ein Gericht von einer Rechtsfortbildung abgesehen hat, gewichtiger Gründe für die Annahme, dass es dadurch die ihm nach Art. 20 Abs. 3 GG zugewiesene Aufgabe verkannt haben sollte.
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e) Der Bundesgerichtshof hat die Pflicht zur konventionsfreundlichen Auslegung nicht verkannt. Wie dargelegt, gibt es gegen die Auslegung der § 35 EGZPO, § 48 Abs. 2 FamFG und § 580 Nr. 8 ZPO aus grundrechtlichem Blickwinkel nichts zu erinnern (vgl. 2.). Zudem war der Gesetzgeber, wie die 1. Kammer des Zweiten Senats im Beschluss vom 18. August 2013 festgestellt hat, weder durch die Europäische Menschenrechtskonvention noch durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Einführung eines Restitutionsgrundes verpflichtet (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. August 2013 - 2 BvR 1380/08 -, NJW 2013, S. 3714 3715 f. Rn. 38, 40 ff.>; vorher bereits BVerfGE 111, 307 325>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 11. Oktober 1985 - 2 BvR 336/85 -, NJW 1986, S. 1425). Fordert die Europäische Menschenrechtskonvention eine Restitution aber nicht, könnte der Gesetzgeber auf sie also auch vollständig verzichten, dann kann es ihm nicht verwehrt sein, den Restitutionsgrund des § 580 Nr. 8 ZPO nur für solche Verfahren zu eröffnen, die nach dem 31. Dezember 2006 rechtskräftig abgeschlossen worden sind (vgl. auch BVerfGE 10, 340 354>). Dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Rechtsprechung vereinzelt konkrete Maßnahmen zur Beendigung eines Konventionsverstoßes angeordnet hat, die über eine Entschädigung nach Art. 41 EMRK hinausgingen (vgl. nur EGMR, Papamichalopoulos und andere v. Griechenland, Urteil vom 31. Oktober 1995, Nr. 14556/89, Tenor Nr. 2; EGMR <GK>, Assanidze v. Georgien, Urteil vom 8. April 2004, Nr. 71503/01, Tenor Nr. 14 Buchstabe a; EGMR, Lungoci v. Rumänien, Urteil vom 26. Januar 2006, Nr. 62710/00, Tenor Nr. 3 Buchstabe a), ändert hieran nichts. Diese Entscheidungen betrafen besonders gelagerte Einzelfälle, in denen die zur Beseitigung der Konventionsverletzung erforderliche Abhilfe auf der Hand lag. Im vorliegenden Fall hat der Gerichtshof in seinem Urteil vom 15. September 2011 jedoch davon abgesehen, eine vergleichbare Maßnahme anzuordnen (EGMR, Schneider v. Deutschland, Urteil vom 15. September 2011, Nr. 17080/07).
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Auch die Annahme, dass es einer Wiederaufnahme des Verfahrens nicht bedürfe, weil es dem Beschwerdeführer unbenommen bleibe, einen Umgangsrechtsantrag in England zu stellen und das angerufene Gericht bei seiner Entscheidung Art. 8 EMRK in der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gefundenen Auslegung gemäß Art. 46 EMRK ebenso zu berücksichtigen habe wie ein deutsches Gericht, gerät mit den Wertungen der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht in Konflikt. Zwar ist die materielle Rechtskraft im Individualbeschwerdeverfahren nach Art. 34 EMRK durch die personellen, sachlichen und zeitlichen Grenzen des Streitgegenstands begrenzt. Die Europäische Menschenrechtskonvention verfügt insoweit nicht über eine § 31 Abs. 1 BVerfGG vergleichbare Vorschrift, sondern spricht in Art. 46 Abs. 1 EMRK nur eine Bindung der beteiligten Vertragspartei an das endgültige Urteil in Bezug auf einen bestimmten Streitgegenstand aus (res iudicata; vgl. BVerfGE 111, 307 320>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 11. Oktober 1985 - 2 BvR 336/85 -, NJW 1986, S. 1425 1427>). Dessen ungeachtet kommt der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte jedoch eine faktische Orientierungs- und Leitfunktion für die Auslegung der Konvention auch über den konkret entschiedenen Einzelfall hinaus zu (vgl. BVerfGE 128, 326 368>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. August 2013 - 2 BvR 1380/08 -, juris, Rn. 28). Insofern geben seine Urteile auch den nicht beteiligten Staaten Anlass, ihre Rechtsordnung zu überprüfen und sich bei einer möglicherweise erforderlichen Änderung an der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu orientieren (vgl. BVerfGE 111, 307 320>). Das trägt nicht nur dazu bei, die Grenzen richterlicher Rechtsbildung konventionsrechtlich abzusichern, sondern auch die Zumutbarkeit des Eingriffs für den Beschwerdeführer zu erleichtern.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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