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BVerfG 30.08.2013 - 2 BvR 2752/11
BVerfG 30.08.2013 - 2 BvR 2752/11 - Ablehnung des Erlasses einer einstweiligen Anordnung: Vollstreckung einer auf Art 23 EGV 1/2003 gestützten Geldbuße, die wegen Verstößen gegen Kartellverbote des ehemaligen EGKS-Vertrags verhängt worden war - Antrag ggf bereits unzulässig, da keine Umsetzungs- oder Vollstreckungsmaßnahmen durch deutsche Staatsorgane erforderlich - Risiko schwerwiegender außen- und integrationspolitischer Folgen für die Bundesrepublik bei Ergehen der eA - demgegenüber keine Existenzgefährdung für Beschwerdeführerin aufgrund Geldbuße
Normen
Art 23 Abs 1 S 3 GG, § 32 Abs 1 BVerfGG, Art 305 Abs 1 EG, Art 65 § 1 EGKSVtr, Art 23 Abs 2 Buchst a EGV 1/2003
Vorinstanz
vorgehend EuGH, 29. März 2011, Az: C-352/09 P, Urteil
vorgehend EuG, 1. Juli 2009, Az: T.24/07, Entscheidung
nachgehend BVerfG, 19. Juli 2016, Az: 2 BvR 2752/11, Nichtannahmebeschluss
Gründe
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I.
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1. Die Beschwerdeführerin, die vormals als T. N. GmbH und davor als T. St. AG firmierte, bekam von der T. Sta. AG im Jahre 1995 einen Geschäftsbereich im Zusammenhang mit der Erzeugung bestimmter Stahlprodukte übertragen. In diesem Geschäftsbereich hatten seit 1993 bis zum Jahr 1998 zunächst die T. Sta. AG und nachfolgend die Beschwerdeführerin gegen im ehemaligen EGKS-Vertrag vorgesehene Kartellverbote verstoßen. Mit einem Schreiben vom 23. Juli 1997 hatte die Beschwerdeführerin die Verantwortung für die von der T. Sta. AG begangenen Kartellverstöße übernommen.
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Mit Entscheidung vom 20. Dezember 2006 hat die Europäische Kommission gegen die Beschwerdeführerin wegen Zuwiderhandlungen gegen Kartellverbote, sowohl seitens der T. Sta. AG bis zum 31. Dezember 1994 als auch durch die Beschwerdeführerin selbst ab dem 1. Januar 1995, eine Geldbuße in Höhe von 3,168 Mio. Euro verhängt. Die T. Sta. AG selbst hat kein Bußgeld auferlegt bekommen. Die Bußgeldentscheidung hat die Kommission auf Art. 23 VO (EG) Nr. 1/2003 gestützt und in der Begründung näher ausgeführt, dass das Auslaufen des EGKS-Vertrags zum 23. Juli 2002 der Verhängung des Bußgeldes nicht entgegenstehe. EGKS-Vertrag und EG-Vertrag seien Teil einer einheitlichen Rechtsordnung gewesen, weshalb der Kommission auch nach dem Wegfall des EGKS-Vertrags die darin vorgesehenen Zuständigkeiten erhalten geblieben seien.
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Die Beschwerdeführerin hat hierauf Nichtigkeitsklage vor dem Gericht erster Instanz erhoben, das die Entscheidung der Kommission im Urteil vom 1. Juli 2009 bestätigt hat. Der EGKS-Vertrag sei, wie auch Art. 305 Abs. 1 EG zeige, nur als lex specialis zum EG-Vertrag zu verstehen gewesen, so dass die VO (EG) Nr. 1/2003 dahingehend auszulegen sei, dass die Kommission weiterhin für die Ahndung von Kartellen zuständig sei, die sachlich und zeitlich in den Geltungsbereich des EGKS-Vertrags fielen.
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Mit Urteil vom 29. März 2011 hat der Europäische Gerichtshof das von der Beschwerdeführerin hiergegen eingelegte Rechtsmittel zurückgewiesen. Der Kommission komme nach dem Grundsatz, wonach bei Änderungen in der Gesetzgebung die Kontinuität von Rechtsstrukturen gewährleistet bleibe, soweit kein entgegenstehender Wille erkennbar werde, der nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs auch für das Primärrecht gelte, unverändert die Zuständigkeit für die Ahndung von Kartellverstößen zu. Anhaltspunkte dafür, dass der Unionsgesetzgeber mit dem Auslaufen des EGKS-Vertrags Kartelle habe sanktionsfrei stellen wollen, gebe es nicht.
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Zur vorläufigen Abwehr der Vollstreckung der verhängten Geldbuße hat die Beschwerdeführerin bereits im Jahr 2007 eine selbstschuldnerische Bankbürgschaft hinterlegt.
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2. Mit ihrer am 29. April 2011 beim Bundesverfassungsgericht eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung von Art. 103 Abs. 2, Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG sowie der Art. 19 Abs. 4, Art. 103 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 3 GG. Sie ist der Auffassung, dass der Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht gegen Akte der Europäischen Union vorliegend eröffnet sei, weil sowohl die Bußgeldentscheidung der Kommission wie auch die sie bestätigenden Gerichtsentscheidungen Ausdruck eines defizitären Grundrechtsschutzes innerhalb der Europäischen Union im Sinne der Solange II-Rechtsprechung seien. Das Gesetzlichkeitsprinzip nach Art. 103 Abs. 2 GG sei vorliegend ebenso wenig eingehalten worden wie der Schuldgrundsatz. Auch sei das Verfahren der Nichtigkeitsklage sowohl unter dem Blickwinkel des Gebots effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) wie auch hinsichtlich des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) mangelhaft, weil nicht die Kommission die Richtigkeit der angegriffenen Entscheidung darlegen müsse, sondern der Kläger die Unrichtigkeit der Vorwürfe.
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Am 26. August 2013 hat die Beschwerdeführerin den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Mit dieser will sie erreichen, dass die angegriffenen Entscheidungen in der Bundesrepublik Deutschland für nicht vollstreckbar erklärt werden. Zur Begründung hat sie neben einem Schreiben der Europäischen Kommission, wonach eine weitere Stundung der Vollstreckung der verhängten Geldbuße bzw. der Inanspruchnahme der selbstschuldnerischen Bankbürgschaft durch die Kommission nicht in Betracht komme, ausgeführt, dass Einwendungen gegen die Geldbuße nach einer Inanspruchnahme des Bürgen kaum mehr durchsetzbar seien.
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II.
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Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg.
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1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG gegeben sind, ist wegen der weittragenden Folgen einer einstweiligen Anordnung regelmäßig ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 55, 1 3>; 82, 310 312>; 94, 166 216 f.>; 104, 23 27>; 106, 51 58>). Dieser wird noch weiter verschärft, wenn eine Maßnahme mit völkerrechtlichen oder außenpolitischen Auswirkungen in Rede steht (vgl. BVerfGE 35, 193 196 f.>; 83, 162 171 f.>; 88, 173 179>; 89, 38 43>; 108, 34 41>; 118, 111 122>; 125, 385 393>; 126, 158 167>; 129, 284 298>; BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 12. September 2012 - 2 BvE 6/12 u.a. -, NJW 2012, S. 3145 3146, Rn. 190>). Nach dem Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes (vgl. BVerfGE 123, 267 354>; 126, 286 303>; 129, 124 172>) muss dies erst Recht bei Rechtsakten von Unionsorganen gelten.
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Bei der Entscheidung über die einstweilige Anordnung haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahmen vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die in der Hauptsache begehrte Feststellung oder der in der Hauptsache gestellte Antrag erwiese sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 89, 38 44>; 103, 41 42>; 118, 111 122>; stRspr). Erweist sich der Ausgang des Hauptsacheverfahrens als offen, so hat das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich lediglich im Rahmen einer Folgenabwägung die Nachteile abzuwägen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber in der Hauptsache Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, ihr der Erfolg in der Hauptsache aber zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 105, 365 371>; 106, 351 355>; 108, 238 246>; 125, 385 393>; 126, 158 168>; 129, 284 298>; BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 12. September 2012 - 2 BvE 6/12 u.a. -, NJW 2012, S. 3145 3146, Rn. 191>; stRspr).
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2. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung könnte im vorliegenden Fall schon deshalb zurückzuweisen sein, weil die Verfassungsbeschwerde von vornherein unzulässig ist. Sie richtet sich gegen Rechtsakte der Europäischen Union, die angesichts der Hinterlegung der Stellung der selbstschuldnerischen Bankbürgschaft durch die Beschwerdeführerin keiner weiteren Umsetzung oder Vollstreckung durch deutsche Staatsorgane mehr bedürfen. Da namentlich nicht das Risiko einer Vollstreckung durch einen deutschen Gerichtsvollzieher besteht, dürfte es an einem geeigneten Adressaten für eine einstweilige Anordnung fehlen. Das muss an dieser Stelle jedoch nicht vertieft werden, weil die nach § 32 BVerfGG gebotene Folgenabwägung zu Lasten der Beschwerdeführerin ausfällt.
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a) Erginge die beantragte einstweilige Anordnung, stellte sich die Verfassungsbeschwerde später aber als unzulässig oder zumindest unbegründet heraus, wäre dies mit erheblichen Nachteilen für die Bundesrepublik Deutschland verbunden. Mit dem Erlass der einstweiligen Anordnung hätte ein deutsches Staatsorgan, das Bundesverfassungsgericht, die Anwendung eines Rechtsaktes der Europäischen Kommission, der vom Gericht erster Instanz und vom Europäischen Gerichtshof bestätigt worden ist, im Geltungsbereich des Grundgesetzes untersagt. Außen- und integrationspolitisch könnte es mit beträchtlichen Nachteilen für die Bundesrepublik Deutschland verbunden sein, wenn Entscheidungen von Organen der Europäischen Union vorübergehend außer Vollzug gesetzt werden könnten, obgleich sie in Rechtsgebieten ergangen sind, für welche die Bundesrepublik Deutschland ihre Hoheitsrechte in den Grenzen des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG in verfassungskonformer Weise an die Europäische Union übertragen hat. Dies könnte die Bundesrepublik Deutschland nicht nur einem Vertragsverletzungsverfahren aussetzen, sondern auch einen negativen Bezugsfall für andere Mitgliedstaaten schaffen.
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Die Beschwerdeführerin kann mit der erstrebten einstweiligen Anordnung dagegen nicht verhindern, dass die Kommission den Bürgen aus der hinterlegten Bankbürgschaft in Anspruch nimmt; das Rechtsverhältnis zwischen der Beschwerdeführerin und dem Bürgen ist hingegen nicht Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits.
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b) Unterbliebe der Erlass einer einstweiligen Anordnung, stellte sich die Verfassungsbeschwerde aber später als zulässig und begründet heraus, wäre dies für die Beschwerdeführerin, soweit ersichtlich, nicht mit unzumutbaren Nachteilen verbunden. Die gegen die Beschwerdeführerin verhängte Geldbuße nebst Zinsen beläuft sich auf einen Betrag von 4,147 Mio. Euro; durch dessen Begleichung - sei es durch Zahlung des Betrags oder durch die von der Kommission angekündigte Inanspruchnahme der hinterlegten selbstschuldnerischen Bürgschaft - droht der Beschwerdeführerin namentlich keine schwerwiegende und irreparable Beeinträchtigung ihrer wirtschaftlichen Existenz; Entsprechendes ist jedenfalls nicht vorgetragen oder anderweitig erkennbar. Zudem lässt sich aus der von der Beschwerdeführerin vorgelegten Antwort der Kommission entnehmen, dass diese eine mögliche Stattgabe der Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache nicht als unbeachtlich ansehen würde. Hätte die Verfassungsbeschwerde Erfolg, dürfte auch kein endgültiger Verlust des Betrages drohen.
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3. Die von der Beschwerdeführerin beantragte einstweilige Anordnung auf Außervollzugsetzung der Zwangsvollstreckung, die der Sache nach einen Antrag darstellt, der Europäischen Kommission die Inanspruchnahme der selbstschuldnerischen Bankbürgschaft zu untersagen, ist daher abzulehnen. Den für die Bundesrepublik Deutschland bei einer solchen Untersagung drohenden außen- und integrationspolitischen Nachteilen, die schon für sich genommen von erheblichem Gewicht sind, stehen gegebenenfalls lediglich vorübergehende Vermögenseinbußen der Beschwerdeführerin gegenüber, zu denen sie mit der Hinterlegung der Bankbürgschaft und der damit verbundenen Umgehung der im eigentlichen Zwangsvollstreckungsverfahren eröffneten Rechtsschutzmöglichkeiten selbst beigetragen hat. Das für sich betrachtet berechtigte und auch verfassungsrechtlich geschützte Interesse an einer gerichtlichen Kontrolle von Vollstreckungsmaßnahmen und möglichen Äquivalenten erweist sich daher als nachrangig.
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