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BVerfG 22.05.2012 - 2 BvR 2628/10
BVerfG 22.05.2012 - 2 BvR 2628/10 - Erlass einer einstweiligen Anordnung: einstweilige Aussetzung des Vollzugs von Freiheitsstrafen - Verständigung zwischen Gericht und Beteiligten im Strafverfahren bei unterlassener Belehrung über Wegfall der Bindungswirkung gem § 257c Abs 4 StPO - drohender irreparabler Eingriff in persönliche Freiheit überwiegt öffentliches Interesse an nachdrücklicher und beschleunigter Strafvollstreckung
Normen
Art 2 Abs 2 S 2 GG, § 32 Abs 1 BVerfGG, § 257c Abs 4 StPO, § 257c Abs 5 StPO
Vorinstanz
vorgehend BGH, 8. Oktober 2010, Az: 1 StR 443/10, Beschluss
vorgehend LG München II, 9. März 2010, Az: W5 KLs 70 Js 40038/07, Urteil
nachgehend BVerfG, 22. Oktober 2012, Az: 2 BvR 2628/10, Einstweilige Anordnung
nachgehend BVerfG, 19. März 2013, Az: 2 BvR 2628/10, Urteil
Tenor
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1. Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts München II vom 9. März 2010 - W5 KLs 70 Js 40038/07 - wird bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers - längstens für die Dauer von sechs Monaten (§ 32 Abs. 6 Satz 1 BVerfGG) - ausgesetzt.
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2. ...
Gründe
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I.
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1. a) Das Landgericht München II verurteilte den Beschwerdeführer wegen gewerbs- und bandenmäßigen Betruges in 259 tatmehrheitlichen Fällen in Tateinheit mit vier Fällen des vorsätzlichen unerlaubten Betreibens eines Bankgeschäfts zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren.
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b) In der Hauptverhandlung vor dem Landgericht München II war es zu einer Verständigung nach § 257c StPO gekommen, in der das Gericht dem Beschwerdeführer eine Gesamtfreiheitsstrafe von nicht mehr als sechs Jahren zugesichert hatte. Vor dem Zustandekommen der Verfahrensabsprache hatte die Strafkammer den Beschwerdeführer entgegen § 257c Abs. 5 StPO nicht über den Wegfall der Bindungswirkung für das Gericht nach § 257c Abs. 4 StPO belehrt.
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c) Der Bundesgerichtshof verwarf die Revision des Beschwerdeführers gegen das Urteil des Landgerichts München II gemäß § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet. Zu der Revisionsrüge eines Verstoßes gegen § 257c Abs. 5 StPO verwies der Bundesgerichtshof auf seine Entscheidung vom 17. August 2010 - 4 StR 228/10 -, in der eine solche Rüge mit der Erwägung zurückgewiesen worden war, das Urteil beruhe nicht auf dem Fehler, weil die Strafkammer die im Rahmen der Urteilsabsprache angekündigte Strafobergrenze eingehalten habe.
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2. Der Beschwerdeführer rügt insbesondere eine Verletzung seiner Selbstbelastungsfreiheit, seines Rechts auf ein faires Verfahren sowie des Schuldgrundsatzes. Zudem wendet er sich gegen die Vorschrift des § 257c StPO, die wegen Verstoßes gegen den Schuldgrundsatz verfassungswidrig sei.
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3. Der Beschwerdeführer beantragt, die Vollziehung der im Tenor genannten Entscheidung im Wege der einstweiligen Anordnung bis zur Entscheidung über seine Verfassungsbeschwerde auszusetzen.
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II.
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Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung liegen vor. Der zulässige Antrag ist begründet.
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1. Nach § 32 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde wäre von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 103, 41 42>; stRspr). Bei offenem Ausgang muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 99, 57 66>; stRspr).
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2. Die Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Im Rahmen der somit erforderlichen Abwägung überwiegen die Gründe für den Erlass einer einstweiligen Anordnung. Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, könnte die Freiheitsstrafe in der Zwischenzeit weiter vollstreckt werden. Dies wäre ein erheblicher, irreparabler Eingriff in das besonders gewichtige (vgl. BVerfGE 65, 317 322>) Recht auf die Freiheit der Person (vgl. BVerfGE 22, 178 180>; 104, 220 234>). Erginge dagegen die einstweilige Anordnung, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später jedoch als unbegründet, wögen die damit verbundenen Nachteile deutlich weniger schwer. Zwar könnte dann die Freiheitsstrafe vorübergehend nicht vollstreckt werden. Es ist jedoch nicht ersichtlich, dass durch das Zurücktreten des öffentlichen Interesses an einer nachdrücklichen und beschleunigten Vollstreckung rechtskräftig verhängter Freiheitsstrafen hier ein erheblicher Nachteil für das Wohl der Allgemeinheit zu besorgen wäre, zumal bereits ein Teil der ausgesprochenen Freiheitsstrafe vollstreckt ist.
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3. Die Anordnung der Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 3 BVerfGG.
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