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BFH 01.06.2022 - III R 45/20
BFH 01.06.2022 - III R 45/20 - Kindergeldanspruch für ein in Polen lebendes Kind aufgrund eines Zweitwohnsitzes des Kindsvaters in Deutschland
Normen
§ 1 Abs 3 EStG 2009, § 62 EStG 2009, §§ 62ff EStG 2009, Art 11 EGV 883/2004, Art 67 EGV 883/2004, Art 68 EGV 883/2004, Art 11 EGV 987/2009, EStG VZ 2015, EStG VZ 2016, EStG VZ 2017, EStG VZ 2018, § 62 Abs 1 Nr 1 EStG 2009, § 62 Abs 1 S 1 Nr 1 EStG 2009 vom 02.12.2014, § 8 AO
Vorinstanz
vorgehend FG Münster, 18. Juni 2020, Az: 10 K 2158/19 Kg, Urteil
Leitsatz
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1. NV: Hat ein Elternteil seinen Haupt- und Familienwohnsitz in einem anderen EU-Mitgliedstaat, aber einen weiteren Wohnsitz in Deutschland, kommt es für den deutschen Kindergeldanspruch nicht auf eine inländische Erwerbstätigkeit an.
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2. NV: Die Koordinierungsregel des Art. 68 Abs. 2 der VO Nr. 883/2004 ist nur dann anwendbar und kann den Kindergeldanspruch somit nur dann ausschließen, wenn tatsächlich konkurrierende Ansprüche auf Familienleistungen in dem anderen Mitgliedstaat bestehen.
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3. NV: Die Frage, ob im EU-Ausland ein Anspruch auf Familienleistungen besteht, ist grundsätzlich durch ein Auskunftsersuchen beim ausländischen Träger zu klären, es sei denn, das Nichtbestehen oder Bestehen eines ausländischen Anspruchs ist zweifelsfrei und unbestritten.
Tenor
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Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Finanzgerichts Münster vom 18.06.2020 - 10 K 2158/19 Kg wird als unbegründet zurückgewiesen.
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Die Kosten des Revisionsverfahrens hat die Beklagte zu tragen.
Tatbestand
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I.
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Streitig ist, ob die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) die Festsetzung des Kindergelds für das ..... 2010 geborene Kind des Klägers und Revisionsbeklagten (Kläger) für die noch streitgegenständlichen Monate Januar, Oktober bis Dezember 2015, Januar bis Dezember 2016, Januar, Februar und Oktober bis Dezember 2017, März bis April sowie August bis Dezember 2018 zu Recht gemäß § 70 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (--EStG--; hier und im Folgenden in der in den Streitjahren geltenden Fassung) aufgehoben und zu Recht gemäß § 37 Abs. 2 Satz 2 der Abgabenordnung (AO) 5.350 € zurückgefordert hat.
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Der Kläger ist polnischer Staatsangehöriger und war (jedenfalls) seit dem Jahr 2014 in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) gewerblich tätig. Nach den Feststellungen des Finanzgerichts (FG) hatte er während des Streitzeitraums sowohl einen Wohnsitz in Deutschland als auch einen Wohnsitz in der Republik Polen (Polen). Dort lebte er in einem gemeinsamen Haushalt mit seiner Ehefrau und dem gemeinsamen Kind.
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Auf Antrag vom 24.05.2016 setzte die Familienkasse mit Bescheid vom 27.06.2016 zugunsten des Klägers Kindergeld für das Kind ab dem Monat Oktober 2014 bis ... 2028 fest. Bei einer späteren Überprüfung der Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug deutschen Kindergelds forderte die Familienkasse Nachweise für die Jahre 2015 bis 2018 an. Der Kläger legte dabei u.a. Bescheinigungen über seine unbeschränkte Einkommensteuerpflicht nach § 1 Abs. 3 EStG für die Jahre 2015 bis 2018 vor. In der Folge ging die Familienkasse davon aus, dass der Kläger in Deutschland weder einen Wohnsitz noch seinen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt habe. Die hierauf zum Nachweis seiner inländischen Erwerbstätigkeit angeforderten und übersandten Unterlagen sah die Familienkasse nicht für alle Monate als ausreichend an.
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Mit Bescheid vom 08.05.2019 hob die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung vom 27.06.2016 für das Kind für bestimmte Monate auf und forderte einen Betrag in Höhe von insgesamt 5.926 € zurück. Hiergegen legte der Kläger erfolglos Einspruch ein (Einspruchsentscheidung vom 24.06.2019) und erhob dann Klage.
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Während des Klageverfahrens setzte die Familienkasse mit Änderungsbescheid vom 30.01.2020 zunächst vorläufig Kindergeld für einige Monate in Höhe des Differenzkindergelds sowie mit weiterem Änderungsbescheid vom 02.03.2020 Kindergeld für drei Monate in voller Höhe fest. Daraufhin erklärten die Beteiligten den Rechtsstreit insoweit übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt; dieser Teil des Verfahrens wurde abgetrennt und ist hier nicht mehr streitgegenständlich.
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Im Übrigen gab das FG der Klage statt und hob den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid der Familienkasse vom 08.05.2019 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 24.06.2019, geändert durch Bescheide vom 30.01.2020 und vom 02.03.2020, bezüglich der verbleibenden Monate Januar sowie Oktober bis Dezember 2015, Januar bis Dezember 2016, Januar und Februar sowie Oktober bis Dezember 2017 und März bis April sowie August bis Dezember 2018 auf. Das FG entschied, der Kläger habe im Streitzeitraum Anspruch auf Kindergeld gemäß § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG 2015 und § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG 2016, 2017 und 2018 jeweils i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 EStG. Der Anspruch werde weder durch einen vorrangigen Kindergeldanspruch der Ehefrau des Klägers gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG noch durch die Konkurrenzregelungen nach Art. 68 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Amtsblatt der Europäischen Union --ABlEU-- 2004 Nr. L 166, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung (VO Nr. 883/2004) oder § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ausgeschlossen.
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Gegen dieses Urteil wendet sich die Familienkasse mit der Revision.
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Die Familienkasse beantragt,
das Urteil des FG Münster vom 18.06.2020 - 10 K 2158/19 Kg aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
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II.
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Die Revision der Familienkasse ist unbegründet und deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG hat zutreffend einen Anspruch des Klägers auf Kindergeld nach deutschem Recht für die streitgegenständlichen Monate bejaht.
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1. Der Kläger erfüllt die Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug von Kindergeld gemäß § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG 2015 und § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG 2016, 2017 und 2018, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 jeweils i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 3 EStG für sein in Polen lebendes minderjähriges Kind.
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a) Der Kläger hatte nach den Feststellungen des FG in den streitgegenständlichen Monaten in Deutschland einen Wohnsitz (§ 8 AO).
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Der Umstand, dass er vom Finanzamt (FA) nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wurde, steht der Annahme eines inländischen Wohnsitzes nicht entgegen. Das FG hat zutreffend entschieden, dass die Behandlung durch das FA nach § 1 Abs. 3 EStG für die Familienkasse zwar dann bindend ist, wenn es um das Vorliegen der Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b EStG geht, nicht aber, wenn das FA fälschlich davon ausgegangen ist, dass der Anspruchsberechtigte im Inland keinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt nach § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG hat (vgl. z.B. Senatsurteile vom 08.05.2014 - III R 21/12, BFHE 246, 389, BStBl II 2015, 135, Rz 16, und vom 24.05.2012 - III R 14/10, BFHE 237, 239, BStBl II 2012, 897).
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Da der Kläger somit im Hinblick auf seinen Wohnsitz in Deutschland die Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG 2015 und § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG 2016, 2017 und 2018 erfüllt, der Anspruch also nicht auf die Nr. 2 Buchst. b der Vorschrift (i.V.m. § 1 Abs. 3 EStG) gestützt wird, hat der Kläger auch in den Monaten Anspruch auf Kindergeld, in denen er eine gewerbliche Tätigkeit in Deutschland nicht nachweisen konnte.
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b) Das Kind war ein leibliches Kind des Klägers und lebte im Streitzeitraum im gemeinsamen Haushalt des Klägers und seiner Ehefrau in Polen, einem Mitgliedstaat der Europäischen Union --EU-- (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG 2015 und § 63 Abs. 1 Satz 6 EStG 2016, 2017 und 2018). Der Kläger war nach den Feststellungen des FG gemäß § 64 Abs. 2 Satz 2 EStG als Berechtigter bestimmt worden.
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2. Der Anspruch des Klägers auf Gewährung von Kindergeld ist nicht nach Art. 68 Abs. 2 der VO Nr. 883/2004 ausgeschlossen.
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a) Hierzu hat der Senat wiederholt entschieden, dass die Koordinierungsregel des Art. 68 Abs. 2 Sätze 1 und 3 der VO Nr. 883/2004 nur dann anwendbar ist und den Kindergeldanspruch in Deutschland auch nur dann ausschließen kann, wenn tatsächlich konkurrierende Ansprüche auf Familienleistungen bestehen (vgl. z.B. Senatsurteile vom 31.08.2021 - III R 10/20, BFHE 273, 536, BStBl II 2022, 186; vom 18.02.2021 - III R 27/19, BFHE 272, 60, BStBl II 2022, 183, und III R 60/19, BFH/NV 2021, 942). Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf diese Entscheidungen verwiesen.
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Die Frage, ob im EU-Ausland ein Anspruch auf Familienleistungen besteht, ist grundsätzlich durch ein Auskunftsersuchen beim ausländischen Träger zu klären (Senatsurteil vom 22.02.2018 - III R 10/17, BFHE 261, 214, BStBl II 2018, 717, Rz 25; Selder, juris PraxisReport Steuerrecht 35/2018, Anm. 2). Wenn jedoch das Nichtbestehen eines ausländischen Anspruchs (nach Prüfung durch das FG) zweifelsfrei und unbestritten ist, kommt eine Ausnahme in Betracht.
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b) Im Streitfall hat nach Prüfung durch das FG und dem übereinstimmenden Vortrag der Beteiligten zweifelsfrei weder der Kläger noch die Kindsmutter einen Anspruch auf polnische Familienleistungen, sodass keine Ansprüche auf Familienleistungen in verschiedenen Mitgliedstaaten zu koordinieren sind. Art. 68 Abs. 2 Sätze 1 und 3 der VO Nr. 883/2004 sind nicht anwendbar. Der Kläger ist nach § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 3 EStG kindergeldberechtigt.
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c) Dem Anspruch des Klägers steht nicht entgegen, dass gemäß Art. 11 Abs. 1 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 eine Person grundsätzlich nur den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegt und der Kläger zumindest in den Monaten, in denen er eine Erwerbstätigkeit in Deutschland nicht nachweisen konnte, seinen Lebensmittelpunkt wohl in der Familienwohnung in Polen hatte (vgl. Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der VO Nr. 883/2004 und Art. 11 Abs. 1 Buchst. a und b der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.09.2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABlEU 2009 Nr. L 284, S. 1, in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung). Vielmehr zeigt schon die Existenz der Koordinierungsregelungen der Art. 67 f. der VO Nr. 883/2004, dass Ansprüche auf Familienleistungen trotz Art. 11 Abs. 1 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 in mehreren Mitgliedstaaten bestehen können. Erst recht schließt Art. 11 Abs. 1 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 einen Kindergeldanspruch nicht aus, wenn wie im Streitfall, von vornherein nur nach dem Recht eines Mitgliedstaats ein Kindergeldanspruch besteht.
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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 2 FGO.
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