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BFH 08.02.2022 - I R 8/21
BFH 08.02.2022 - I R 8/21 - Wiedereinsetzung bei Fristversäumnis einer Behörde
Normen
§ 56 Abs 1 FGO, § 120 Abs 2 FGO
Vorinstanz
vorgehend Hessisches Finanzgericht, 26. August 2020, Az: 8 K 1860/16, Urteil
Leitsatz
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1. NV: Für die Beurteilung, ob eine Behörde eine gesetzliche Frist schuldhaft versäumt hat, gelten grundsätzlich dieselben Maßstäbe, wie sie die Rechtsprechung für das Verschulden von Angehörigen der rechts- und steuerberatenden Berufe entwickelt hat. Danach ist auch eine Behörde zu einer wirksamen Postausgangskontrolle verpflichtet.
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2. NV: Das Datum eines von der Poststelle der Behörde mittels einer Frankiermaschine aufgebrachten Poststempels sagt nichts über den Zeitpunkt aus, zu dem das Schriftstück dem Postdienstleister übergeben worden ist.
Tenor
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Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Finanzgerichts vom 26.08.2020 - 8 K 1860/16 wird als unzulässig verworfen.
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Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der Beklagte zu tragen.
Tatbestand
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I.
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Der Beklagte und Revisionskläger (Finanzamt --FA--) hat Revision gegen das Urteil des Hessischen Finanzgerichts (FG) vom 26.08.2020 - 8 K 1860/16 (Entscheidungen der Finanzgerichte 2021, 779) eingelegt, welches ihm am 15.01.2021 zugestellt worden war. Die Frist zur Begründung der Revision wurde auf Antrag des FA vom Senatsvorsitzenden bis zum 30.04.2021 verlängert. Die auf dem Postweg übersandte, vom 28.04.2021 datierende Revisionsbegründung ist am 04.05.2021 (einem Dienstag) beim Bundesfinanzhof (BFH) eingegangen. Der auf dem Briefumschlag von der Poststelle des FA aufgebrachte Poststempel weist das Datum des 28.04.2021 auf.
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Nach richterlichem Hinweis auf die Versäumung der Begründungsfrist hat das FA Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 56 der Finanzgerichtsordnung (FGO) beantragt.
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Zur Begründung führt das FA aus, es sei ohne Verschulden gehindert gewesen, die Revisionsbegründung rechtzeitig einzureichen. Es habe die Revisionsbegründung am 28.04.2021 und damit zwei Werktage vor Ablauf der Begründungsfrist zur Post gegeben und habe daher mit einem fristgemäßen Zugang rechnen dürfen. Ein Beteiligter könne darauf vertrauen, dass im Inland die für den Normalfall festgelegten Beförderungslaufzeiten des Postdienstleisters eingehalten würden. Der Beteiligte könne Rechtsmittelfristen bis zum letzten Tag ausschöpfen; er könne davon ausgehen, dass werktags bei der Deutsche Post AG aufgegebene Briefsendungen im Inland am folgenden Werktag ausgeliefert würden. Eine Nachfragepflicht, ob die Sendung rechtzeitig eingegangen sei, bestehe nicht.
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Die organisatorischen und personellen Strukturen sowie die Kommunikationswege für eine wirksame Postausgangskontrolle seien beim FA so gestaltet, dass alle Voraussetzungen für eine wirksame Postausgangskontrolle erfüllt seien. Zwar werde bei ihm eine zentrale Überwachung von Fristabläufen nicht vorgenommen. Die Einhaltung von Fristen werde aber von der jeweiligen Sachgebietsleitung im jeweils konkreten Einzelfall sichergestellt. Insbesondere werde von der jeweiligen Sachgebietsleitung die Kuvertierung und die Ablage in der Postbox im Postverteilerraum regelmäßig ausschließlich von der Sachgebietsleitung persönlich veranlasst und sichergestellt.
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Die Klägerin und Revisionsbeklagte (eine GmbH), deren Klage das FG mit dem vom FA angefochtenen Urteil stattgegeben hat, beantragt, die Revision des FA wegen Versäumung der Begründungsfrist als unzulässig zu verwerfen. Ihrer Auffassung nach liegen die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht vor.
Entscheidungsgründe
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II.
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Die Revision ist unzulässig (§ 124 Abs. 1 Satz 2 FGO) und deshalb nach § 126 Abs. 1 FGO zu verwerfen. Das FA hat die nach Verlängerung durch den Senatsvorsitzenden gemäß § 120 Abs. 2 Satz 3 FGO bis zum 30.04.2021 laufende Frist zur Begründung der Revision versäumt. Dem Antrag des FA auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kann nicht entsprochen werden. Die Voraussetzungen sind nicht glaubhaft gemacht.
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1. Bei Versäumen der Frist zur Begründung der Revision ist auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn der Revisionskläger ohne Verschulden verhindert war, die Frist einzuhalten, und den Wiedereinsetzungsantrag innerhalb eines Monats nach Wegfall des Hindernisses gestellt sowie die zur Begründung des Antrags vorgetragenen Tatsachen glaubhaft gemacht hat (§ 56 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 und 2 FGO). Verschuldet ist die Fristversäumnis, wenn die gebotene und den Umständen nach zumutbare Sorgfalt außer Acht gelassen wurde. Jedes Verschulden --also auch einfache Fahrlässigkeit-- schließt die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aus (z.B. BFH-Beschluss vom 22.06.1994 - II R 104/93, BFH/NV 1995, 134).
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2. Für die Beurteilung, ob eine Behörde eine gesetzliche Frist schuldhaft versäumt hat, gelten grundsätzlich dieselben Maßstäbe, wie sie die Rechtsprechung für das Verschulden von Angehörigen der rechts- und steuerberatenden Berufe entwickelt hat (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Beschlüsse vom 16.01.2007 - IX R 41/05, BFH/NV 2007, 1508; vom 22.05.2018 - XI R 22/17, BFH/NV 2018, 961). Damit ist auch eine Behörde zu einer wirksamen Postausgangskontrolle verpflichtet (BFH-Beschlüsse vom 07.12.1982 - VIII R 77/79, BFHE 137, 221, BStBl II 1983, 229; in BFH/NV 2007, 1508; in BFH/NV 2018, 961). Dabei muss die Kontrolle der Erledigung und tatsächlichen Absendung, d.h. der tatsächlichen Übergabe des Schriftstücks an die Post, durch jemanden erfolgen, der den gesamten Bearbeitungsvorgang überwachen kann (BFH-Beschlüsse vom 26.08.1997 - VII R 11/96, BFH/NV 1998, 70; vom 06.11.1997 - VII R 113/97, BFH/NV 1998, 709, m.w.N.; in BFH/NV 2007, 1508).
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Die einfache Zuleitung oder kommentarlose Übergabe des jeweiligen Schriftstücks an die amtsinterne Postausgangsstelle reichen hierfür ebenso wenig aus wie ein bloßer Abgangsvermerk der Stelle, die das Schriftstück an diese Postausgangsstelle weiterleitet, weil dadurch noch nicht ausreichend sichergestellt ist, dass das Schriftstück auch tatsächlich unmittelbar zur Weiterbeförderung an die Post gelangt (BFH-Beschluss vom 08.09.1998 - VII R 136/97, BFH/NV 1999, 73, m.w.N.). Vielmehr ist erforderlich, dass die ordnungsgemäße Absendung eines fristwahrenden Steuerbescheides durch einen Absendevermerk der Poststelle in den Akten festgehalten wird. Liegt ein solcher Vermerk vor, ist der Finanzbehörde die Beweiserleichterung des Anscheinsbeweises für die ordnungsgemäße Absendung von die Festsetzungsfrist wahrenden Steuerbescheiden zuzubilligen; anderenfalls muss das FG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung beurteilen, ob es die rechtzeitige Absendung für nachgewiesen hält oder nicht (vgl. BFH-Beschluss in BFH/NV 2007, 1508, m.w.N.).
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3. Nach diesen Maßgaben ist ein Verschulden des FA an der Fristversäumung nicht ausgeschlossen. Das FA hat zwar durch Vorlage der eidesstattlichen Versicherung der Sachgebietsleiterin A glaubhaft gemacht, dass der korrekt adressierte Briefumschlag mit der Revisionsbegründung am Morgen des 28.04.2021 in den behördeneigenen Postverteilerbereich gelangt ist. Mangels Absendevermerks der Poststelle ist das FA jedoch nicht in der Lage, konkrete Angaben dazu zu machen, zu welchem Zeitpunkt die Sendung dem Postdienstleister übergeben worden ist. Das Vorbringen des FA und die diesbezüglichen eidesstattlichen Versicherungen der Mitarbeiterinnen B und C erschöpfen sich in der allgemeinen Darstellung der regelmäßigen Abläufe des Postausgangs in der Poststelle und bei der Abholung der Post durch den vom Postdienstleister beauftragten Fahrdienst sowie der Bekundung, am 28.04.2021 seien keine Unregelmäßigkeiten aufgefallen. An den konkreten Briefumschlag mit der Revisionsbegründung erinnern sich die Mitarbeiterinnen jedoch offenkundig --und verständlicherweise-- nicht mehr.
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Der Umstand, dass der beim BFH eingegangene Briefumschlag mit der Revisionsbegründung den Poststempel des 28.04.2021 trägt, ist als Nachweis der rechtzeitigen Absendung nicht geeignet. Denn es handelt sich dabei um einen Stempel, der nicht von der Deutsche Post AG aufgebracht worden ist. Vielmehr ist der Umschlag im Verantwortungsbereich des FA von dessen Poststelle mittels einer Frankiermaschine gestempelt worden. Eine Aussagekraft in Bezug auf den Zeitpunkt, zu dem der Umschlag in den Verantwortungsbereich des Postdienstleisters gelangt ist, kommt dem Datum des Poststempels unter diesen Umständen nicht zu.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.
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