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BFH 25.04.2018 - IX B 21/18
BFH 25.04.2018 - IX B 21/18 - (Aussetzung der Vollziehung: Verfassungsmäßigkeit der Höhe von Nachzahlungszinsen i.S. von § 233a i.V.m. § 238 AO - strukturelles und verfestigtes Niedrigzinsniveau)
Normen
Art 3 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, Art 100 Abs 1 S 1 GG, § 152 Abs 5 AO, § 233a AO, § 238 Abs 1 S 1 AO, Art 97 § 8 Abs 4 S 1 AOEG, § 69 Abs 2 S 2 FGO, § 69 Abs 3 FGO, § 4 Abs 5b EStG, § 12 Nr 3 EStG, § 10 Nr 2 KStG, § 247 BGB, § 253 Abs 2 HGB, Art 13 Abs 1 Nr 5 Buchst b DBuchst dd KAG BY, Art 75 Abs 6 HGBEG, Art 75 Abs 7 HGBEG
Vorinstanz
vorgehend FG Köln, 29. Januar 2018, Az: 15 V 3279/17, Beschluss
Leitsatz
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Bei der im Aussetzungsverfahren nach § 69 Abs. 3 FGO gebotenen summarischen Prüfung begegnet die in § 238 Abs. 1 Satz 1 AO geregelte Höhe von Nachzahlungszinsen von einhalb Prozent für jeden vollen Monat jedenfalls ab dem Verzinsungszeitraum 2015 schwerwiegenden verfassungsrechtlichen Zweifeln .
Tenor
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Auf die Beschwerde der Antragsteller werden der Beschluss des Finanzgerichts Köln vom 29. Januar 2018 15 V 3279/17 und der ablehnende Bescheid des Antragsgegners vom 19. Dezember 2017 aufgehoben.
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Die Vollziehung des Zinsbescheids zur Einkommensteuer 2009 vom 13. November 2017 wird ab Fälligkeit bis einen Monat nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung oder anderweitiger Erledigung des Einspruchsverfahrens ausgesetzt.
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Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Antragsgegner zu tragen.
Tatbestand
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I.
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Die Antragsteller und Beschwerdeführer (Antragsteller) werden als Eheleute zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. In ihrem Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2009 vom 15. Juni 2011 wurde die Einkommensteuer auf 159.139 € festgesetzt. Im Anschluss an eine Außenprüfung erließ der Antragsgegner und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) unter dem Datum vom 13. November 2017 einen auf § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO) gestützten geänderten Einkommensteuerbescheid für 2009, in dem es unter Anwendung des Teileinkünfteverfahrens erstmals einen Veräußerungsgewinn nach § 17 des Einkommensteuergesetzes (EStG) in Höhe von 4.417.740 € der Besteuerung zugrunde legte und eine Einkommensteuer in Höhe von 2.143.939 € festsetzte. Die Zahllast für die Antragsteller betrug 1.984.800 €.
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Für die Veranlagungszeiträume 2013 bis 2015 ergingen korrespondierend zugunsten der Antragsteller geänderte Einkommensteuerfestsetzungen, in denen zuvor bei den Einkünften aus Kapitalvermögen angesetzte Einnahmen von 8,8 Mio. € im Veranlagungszeitraum 2013, von 800.000 € im Veranlagungszeitraum 2014 und von 400.000 € im Veranlagungszeitraum 2015 nicht mehr berücksichtigt wurden.
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In dem mit der Steuerfestsetzung 2009 verbundenen Zinsbescheid vom 13. November 2017 setzte das FA unter Berücksichtigung der zunächst in den Veranlagungszeiträumen 2013 bis 2015 versteuerten Kapitaleinkünfte Zinsen in Höhe von 240.831 € fest.
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Diese wurden wie folgt berechnet:
Erstattungszinsen
- vom 1. April 2011 bis 16. November 2017
39,5 v.H. x 159.100 € (abgerundet)
-62.844,50 €
Nachzahlungszinsen
- vom 1. April 2015 bis 16. November 2017
15,5 v.H. x 1.746.250 € (abgerundet) =
270.668,75 €
- vom 1. April 2016 bis 16. November 2017
9,5 v.H. x 318.150 € (abgerundet) =
30.224,25 €
- vom 1. April 2017 bis 16. November 2017
3,5 v.H. x 79.500 € (abgerundet) =
2.782,50 €
303.675,50 €
Summe
240.831,00 €
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Die Antragsteller legten sowohl gegen den Einkommensteuer- als auch gegen den Zinsbescheid vom 13. November 2017 Einsprüche ein, über die das FA noch nicht entschieden hat. Sie haben dem Ruhen des Einspruchsverfahrens gegen die Zinsfestsetzung wegen eines beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) anhängigen Verfahrens (1 BvR 2237/14) zugestimmt.
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Mit Schreiben vom 15. Dezember 2017 beantragten die Antragsteller die Aussetzung der Vollziehung (AdV) des Zinsbescheids zur Einkommensteuer für 2009. Zur Begründung führten sie insbesondere aus, die Höhe der Zinsen nach § 238 AO von einhalb Prozent für jeden Monat sei verfassungswidrig.
- 7
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Das FA lehnte die AdV mit Schreiben vom 19. Dezember 2017 ab. Mit ihrem hiergegen gerichteten gerichtlichen Antrag hielten die Antragsteller ihr auf die Zinsen beschränktes Aussetzungsbegehren aufrecht.
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Das Finanzgericht (FG) lehnte den Antrag ab. Es führte zur Begründung aus, die von den Antragstellern dargelegten verfassungsrechtlichen Zweifel an dem in § 238 AO geregelten Zinssatz geböten keine AdV. Das öffentliche Vollzugsinteresse sowie das öffentliche Interesse an einer geordneten Haushaltsführung seien jedenfalls höher zu gewichten als ein mit Verweis auf anhängige Verfahren begründetes Aussetzungsinteresse.
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Mit ihrer vom FG zugelassenen Beschwerde, der das FG nicht abgeholfen hat, verfolgen die Antragsteller ihr Begehren weiter und beantragen,
unter Aufhebung der ablehnenden Entscheidung des Antragsgegners vom 19. Dezember 2017 und des Beschlusses des FG vom 29. Januar 2018 die Vollziehung des Bescheids über die Zinsen zur Einkommensteuer 2009 vom 13. November 2017 auszusetzen,
und, soweit AdV gewährt wird, die Verwirkung von Säumniszuschlägen bis zum Ergehen der gerichtlichen Entscheidung über den Aussetzungsantrag aufzuheben.
- 10
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Das FA beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
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II.
- 11
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Die Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Antragsstattgabe. Die Vollziehung des Zinsbescheids wird ausgesetzt.
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1. Nach § 69 Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ist die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsaktes u.a. dann ganz oder teilweise auszusetzen, wenn --worüber im vorliegenden Verfahren allein gestritten wird-- ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieses Verwaltungsaktes bestehen.
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a) Ernstliche Zweifel liegen vor, wenn bei summarischer Prüfung des angefochtenen Bescheids neben den für seine Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung von Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung entscheidungserheblicher Tatfragen bewirken (ständige höchstrichterliche Rechtsprechung, vgl. z.B. Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 25. September 2017 IX S 17/17, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 2017, 1118, Rz 20, m.w.N.). Ernstliche Zweifel können auch verfassungsrechtliche Zweifel an der Gültigkeit einer dem angefochtenen Verwaltungsakt zugrunde liegenden Norm sein (ständige Rechtsprechung, z.B. BVerfG-Urteil vom 21. Februar 1961 1 BvR 314/60, BVerfGE 12, 180, BStBl I 1961, 63, unter B.II.; BFH-Beschlüsse vom 5. März 2001 IX B 90/00, BFHE 195, 205, BStBl II 2001, 405; vom 22. Dezember 2003 IX B 177/02, BFHE 204, 39, BStBl II 2004, 367). Hält ein Gericht ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig, so hat es gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes (GG) das Verfahren auszusetzen und die Entscheidung des BVerfG einzuholen. Das dem BVerfG vorbehaltene Verwerfungsmonopol hat zur Folge, dass das Fachgericht Folgerungen aus der (von ihm angenommenen) Verfassungswidrigkeit eines formellen Gesetzes im Hauptsacheverfahren erst nach deren Feststellung durch das BVerfG ziehen darf. Die Fachgerichte sind jedoch durch Art. 100 Abs. 1 GG nicht gehindert, schon vor der im Hauptsacheverfahren einzuholenden Entscheidung des BVerfG auf der Grundlage ihrer Rechtsauffassung vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, wenn dies im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes geboten erscheint und die Hauptsacheentscheidung dadurch nicht vorweggenommen wird (vgl. BVerfG-Beschluss vom 24. Juni 1992 1 BvR 1028/91, BVerfGE 86, 382, unter B.II.2.b; BFH-Beschluss in BFHE 204, 39, BStBl II 2004, 367).
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b) Einwendungen gegen die Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Zinshöhe betreffen die Rechtmäßigkeit der Zinsfestsetzung und sind damit verfahrensrechtlich gegen diese geltend zu machen (z.B. BFH-Beschluss vom 31. Mai 2017 I R 77/15, BFH/NV 2017, 1409, unter II.2.b, m.w.N.).
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2. Nach diesen Maßstäben ist die AdV in dem von den Antragstellern beantragten Umfang zu gewähren. Die angegriffene Zinshöhe in § 233a AO i.V.m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO begegnet durch ihre realitätsferne Bemessung mit Blick auf den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG (s. unter a) und das sich aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG ergebende Übermaßverbot (s. unter b) für den hier in Rede stehenden Zeitraum vom 1. April 2015 bis 16. November 2017 schwerwiegenden verfassungsrechtlichen Zweifeln.
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a) Es bestehen schwerwiegende verfassungsrechtliche Zweifel, ob die Zinshöhe von einhalb Prozent für jeden Monat (§ 238 Abs. 1 Satz 1 AO) mit dem allgemeinen Gleichheitssatz vereinbar ist (s.a. Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestags vom 16. Februar 2017, WD 4 - 3000 - 011/17, S. 11, m.w.N.).
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aa) Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebietet, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Steuergesetze müssen, um für die Massenvorgänge des Wirtschaftslebens praktikabel zu sein, Sachverhalte, an die sie dieselben steuerrechtlichen Folgen knüpfen, regelmäßig typisieren und dabei in weitem Umfang die Besonderheiten des einzelnen Falles vernachlässigen. Die wirtschaftlich ungleiche Wirkung auf die Steuerzahler darf allerdings ein gewisses Maß nicht übersteigen. Vielmehr müssen die steuerlichen Vorteile der Typisierung im rechten Verhältnis zu der mit der Typisierung notwendig verbundenen Ungleichheit der steuerlichen Belastung stehen (vgl. z.B. BVerfG-Urteil vom 20. April 2004 1 BvR 1748/99, 1 BvR 905/00, BVerfGE 110, 274; BVerfG-Beschluss vom 15. Januar 2008 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1, unter C.I.2.a aa). Außerdem darf eine gesetzliche Typisierung keinen atypischen Fall als Leitbild wählen, sondern muss sich realitätsgerecht am typischen Fall orientieren (vgl. z.B. BVerfG-Beschlüsse vom 7. Oktober 1969 2 BvR 555/67, BVerfGE 27, 142, und in BVerfGE 120, 1; vom 12. Oktober 2010 1 BvL 12/07, BVerfGE 127, 224; zum Erfordernis der realitätsgerechten Bemessung des steuerlichen Belastungsgrunds s. zuletzt BVerfG-Urteile vom 10. April 2018 1 BvL 11/14, 1 BvL 12/14, 1 BvL 1/15, 1 BvR 639/11, 1 BvR 889/12, juris, unter B.IV.1.c).
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bb) Der gesetzlich festgelegte Zinssatz gemäß § 238 Abs. 1 Satz 1 AO überschreitet für den hier in Rede stehenden Zeitraum vom 1. April 2015 bis 16. November 2017 angesichts der zu dieser Zeit bereits eingetretenen strukturellen und nachhaltigen Verfestigung des niedrigen Marktzinsniveaus den angemessenen Rahmen der wirtschaftlichen Realität in erheblichem Maße. Das Niedrigzinsniveau stellt sich jedenfalls für den Streitzeitraum nicht mehr als vorübergehende, volkswirtschaftstypische Erscheinung verbunden mit den typischen zyklischen Zinsschwankungen dar, sondern ist struktureller und nachhaltiger Natur (vgl. Deutsche Bundesbank, Finanzstabilitätsbericht 2014 vom 25. November 2014, S. 8, 13, 30, 38, 39, 56, die bereits von "seit Jahren anhaltender Niedrigzinsphase" spricht). Der Annahme eines verfestigten Niedrigzinsniveaus kann dabei nicht entgegengehalten werden, dass bei Kreditkartenkrediten für private Haushalte Zinssätze von rund 14 v.H. oder bei Girokontenüberziehungen Zinssätze von rund 9 v.H. anfallen (so aber BFH-Urteil vom 9. November 2017 III R 10/16, BFHE 260, 9, Rz 35 f.: "Bandbreite von 0,15 % bis 14,70 %"); denn es handelt sich insoweit um Sonderfaktoren, die nicht als Referenzwerte für ein realitätsgerechtes Leitbild geeignet sind.
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cc) Eine sachliche Rechtfertigung für die gesetzliche Zinshöhe besteht bei der gebotenen summarischen Prüfung nicht.
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(1) Der Gesetzgeber hat bei der Einführung der seit dem Jahr 1961 unveränderten Zinshöhe von einhalb Prozent für jeden Monat durch § 5 Abs. 1 des Steuersäumnisgesetzes vom 13. Juli 1961 (BGBl I 1961, 981, 994 f.) die Typisierung des Zinssatzes mit dem Interesse an Praktikabilität und Verwaltungsvereinfachung begründet (BTDrucks 3/2573, S. 33, zu Art. 11, Allgemeines und wiederholend in BTDrucks 8/1410, S. 13; BTDrucks 11/2157, S. 194). Solche Erwägungen können allerdings für den Zeitraum vom 1. April 2015 bis 16. November 2017 angesichts des gänzlich veränderten technischen Umfelds und des Einsatzes moderner Datenverarbeitungstechnik bei einer Anpassung der Zinshöhe an den jeweiligen Marktzinssatz oder an den Basiszinssatz i.S. des § 247 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) nicht mehr tragend sein (s. bereits BFH-Urteil vom 1. Juli 2014 IX R 31/13, BFHE 246, 193, BStBl II 2014, 925, Rz 16). Dies wird beispielhaft durch Regelungen wie in Art. 13 Abs. 1 Nr. 5 Buchst. b Doppelbuchst. dd des Kommunalabgabengesetzes Bayern (KAG BY) bestätigt. Diese von der bayerischen Kommunalverwaltung --welche in ihrer Größe kaum an die Finanzverwaltung heranreichen dürfte-- anzuwendende Norm ist durch das Gesetz zur Änderung des Kommunalabgabengesetzes vom 11. März 2014 (GVBl, S. 70) mit Wirkung ab dem 1. April 2014 dahingehend geändert worden, dass für den im Anwendungsbereich des KAG BY heranzuziehenden Zinssatz insoweit nicht mehr § 238 Abs. 1 Satz 1 AO maßgebend ist, sondern die Höhe der Zinsen zwei Prozentpunkte über dem Basiszinssatz nach § 247 BGB jährlich beträgt.
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Dies belegt, dass die Praktikabilität oder die Verwaltungsvereinfachung nicht mehr einen realitätsfernen Zinssatz rechtfertigen, wenn es bei den Kommunalabgaben eines Bundeslandes für vergleichbare Zinsfestsetzungen möglich ist, einen realitätsgerechteren Zinssatz als Bezugsgröße zu wählen.
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(2) Für die Höhe des Zinssatzes in § 238 Abs. 1 Satz 1 AO fehlt es überhaupt an einer nachvollziehbaren Begründung (gleicher Ansicht Seer/Klemke, ifst-Schrift Nr. 490 (2013), 43, 45).
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(3) Auch der Telos der Verzinsung rechtfertigt die gesetzliche Zinshöhe nicht. Der Sinn und Zweck der Verzinsungspflicht ist es, den Nutzungsvorteil wenigstens z.T. abzuschöpfen, den der Steuerpflichtige dadurch erhält, dass er während der Dauer der Nichtentrichtung über eine Geldsumme verfügen kann, die nach dem im angefochtenen Steuerbescheid konkretisierten materiellen Recht "an sich" dem Steuergläubiger zusteht. Dem Ziel würde Rechnung getragen, wenn für den Steuerpflichtigen zumindest die Möglichkeit besteht, die zu zahlenden Zinsen durch Anlage der nicht gezahlten Steuerbeträge oder durch die Ersparnis von Aufwendungen auch tatsächlich zu erzielen. Diese Möglichkeit war aber wegen der strukturellen Niedrigzinsphase im typischen Fall für den hier in Rede stehenden Zeitraum nahezu ausgeschlossen (vgl. Ortheil, Betriebs-Berater 2015, 675, 676; Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestags vom 16. Februar 2017, WD 4 - 3000 - 011/17, S. 10: "nicht realistisch"). Der Zweck der Verzinsung war für den Streitzeitraum nicht oder kaum erreichbar und trägt damit die realitätsferne Bemessung der Zinshöhe nicht.
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Ebenso erscheint für den Streitzeitraum ein potentieller Zinsnachteil des Fiskus, der den nicht gezahlten Steuerbetrag nicht anderweitig nutzen konnte, angesichts des sehr niedrigen und teilweise sogar negative Zinssätze ausweisenden Refinanzierungsniveaus am Kapitalmarkt nahezu ausgeschlossen.
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Eine kurzfristige "Fremdfinanzierung" durch den Fiskus --in Gestalt einer Erhöhung der Neuverschuldung-- ist für den Bund schon seit einigen Jahren praktisch zum "Nulltarif" zu haben. In gleicher Weise würde eine kurzfristige Anlage von seitens des Steuerpflichtigen geschuldeten, haushaltsmäßig aber nicht benötigten Geldforderungen für den Fiskus keinen Zinsertrag erbringen, der eine Zinshöhe von einhalb Prozent für jeden Monat des Zinslaufs rechtfertigen könnte.
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dd) Anders als das FG meint, ergibt sich eine andere rechtliche Beurteilung nicht aus der regelmäßig zitierten Kammerentscheidung des BVerfG (Beschluss vom 3. September 2009 1 BvR 2539/07, BFH/NV 2009, 2115).
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(1) Im Streitfall ist die gesetzliche Zinshöhe für den Zeitraum vom 1. April 2015 bis 16. November 2017 zu beurteilen. In jener Entscheidung des BVerfG ging es demgegenüber um die Festsetzung von Nachzahlungszinsen für die Zinszahlungszeiträume von 2003 bis 2006, in denen kein strukturell verfestigtes Niedrigzinsniveau eingetreten war.
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(2) Dem Beschluss des BVerfG lag darüber hinaus eine für Zinsfestsetzungen atypische Sachverhaltskonstellation zugrunde. Die Zinsfestsetzung beruhte auf einer fehlerhaft unterbliebenen Auswertung eines Grundlagenbescheids, die zunächst zu einer erheblichen Steuererstattung führte. Nachdem das Finanzamt die unterlassene Auswertung des Grundlagenbescheids erkannt hatte, erließ es einen geänderten Einkommensteuerbescheid, der zur Rückzahlung der Steuererstattung führte. In jener Fallkonstellation war die unzutreffende Steuerfestsetzung für den betroffenen und zudem fachkundigen Steuerpflichtigen ohne Weiteres erkennbar; die Zinsfestsetzung hätte daher durch einen Hinweis an das Festsetzungsfinanzamt auf die fehlerhaft unterlassene Umsetzung des Grundlagenbescheids vermieden werden können.
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(3) Wie bereits unter II.2.a cc (1) dargelegt, können angesichts der auf moderner Datenverarbeitung gestützten Automation in der Steuerverwaltung auch Erwägungen wie Praktikabilität und Verwaltungsvereinfachung einer Anpassung der Zinshöhe an den jeweiligen Marktzinssatz oder an den Basiszinssatz i.S. des § 247 BGB nicht mehr entgegenstehen.
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(4) Auch das Argument, die Vollverzinsung wirke "gleichermaßen zugunsten wie zulasten des Steuerpflichtigen" (BVerfG-Beschluss in BFH/NV 2009, 2115), ist nicht geeignet, die realitätsferne Zinshöhe des § 238 AO zu rechtfertigen. Denn der Zinssatz für Erstattungsansprüche ist mit Blick auf das strukturelle Niedrigzinsniveau während des Streitzeitraums in gleicher Weise als nicht realitätsgerecht anzusehen.
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b) Es bestehen bei der gebotenen summarischen Prüfung überdies schwerwiegende verfassungsrechtliche Zweifel, ob der Zinssatz dem aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Übermaßverbot entspricht.
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aa) Die realitätsferne Bemessung der Zinshöhe wirkt in Zeiten eines strukturellen Niedrigzinsniveaus wie ein sanktionierender, rechtsgrundloser Zuschlag auf die Steuerfestsetzung. Die Belastung des Steuerpflichtigen wird im Einzelfall noch dadurch verschärft, dass mit dem Gesetz zur Bereinigung von steuerlichen Vorschriften (Steuerbereinigungsgesetz 1999) vom 22. Dezember 1999 (BGBl I 1999, 2601) die bis dahin geltende zeitliche Begrenzung des Zinslaufs auf maximal vier Jahre (§ 233a Abs. 2 Satz 3 AO a.F., eingeführt durch das Steuerreformgesetz 1990 vom 25. Juli 1988, BGBl I 1988, 1093, zuletzt i.d.F. des Jahressteuergesetzes 1997 vom 20. Dezember 1996, BGBl I 1996, 2049) aufgehoben worden ist; seitdem gibt es keine gesetzlich bestimmte Höchstdauer für den Zinslauf mehr. Die Abschaffung der Vier-Jahres-Grenze rechtfertigte der Gesetzgeber seinerzeit mit den Erwägungen der Steuergerechtigkeit und der Vereinfachung der Zinsberechnung; Steuerpflichtige sollten die relative Zinsbelastung nicht mehr durch Verzögerungen des Ablaufs einer Außenprüfung vermindern können (BTDrucks 14/1514, S. 48). In einem strukturell niedrigen Zinsumfeld wirkt der unbefristete Zinslauf für den Steuerpflichtigen weiter verschärfend. Dessen Belastung wird umso größer, je später die Steuer festgesetzt wird. Eine teilweise Kompensation durch eine steuerliche Abzugsmöglichkeit der Nachzahlungszinsen tritt nicht ein. Die Nachzahlungszinsen zur Einkommen-, Körperschaft- und Gewerbesteuer führen zu nicht abzugsfähigen Ausgaben oder Aufwendungen (vgl. § 12 Nr. 3 EStG, § 10 Nr. 2 des Körperschaftsteuergesetzes --KStG--, § 4 Abs. 5b EStG).
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Der Eintritt der Verzinsung und die Dauer des Zinslaufs waren im Streitfall für die betroffenen Antragsteller auch nicht vermeidbar. Die Länge des Zinslaufs hing von für die Antragsteller nicht oder kaum beeinflussbaren Faktoren ab, insbesondere den Beginn und die Dauer der Außenprüfung sowie die Auswertung von deren Ergebnissen.
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bb) Eine sachliche Rechtfertigung für die nicht realitätsgerechte Belastung besteht bei summarischer Prüfung nicht. Insbesondere geht der Zweck der Verzinsungspflicht, potentielle Liquiditäts- oder Zinsvorteile abzuschöpfen (vgl. BVerfG-Beschluss in BFH/NV 2009, 2115), für den Streitzeitraum ins Leere (s. bereits unter II.2.a cc (3)).
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3. Anders als das FG meint, haben die Antragsteller auch ein berechtigtes Interesse an der AdV des angefochtenen Zinsbescheids. Im Streitfall fällt die Interessenabwägung zugunsten der Antragsteller aus.
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a) Zum einen gehen die schwerwiegenden Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der dem angefochtenen Verwaltungsakt zugrunde liegenden gesetzlichen Regelung über das Maß an Zweifeln hinaus, welches üblicherweise von der Rechtsprechung für die Gewährung der AdV für erforderlich angesehen wird. Zum anderen ist weder dargelegt noch ersichtlich, dass eine AdV im Streitfall das öffentliche Interesse an einer geordneten Haushaltsführung berühren könnte; vielmehr ist davon auszugehen, dass dem Gesetzgeber die Notwendigkeit einer Anpassung der Zinshöhe bekannt ist.
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b) So hat der Senat bereits mit seinem Urteil vom 1. Juli 2014 (in BFHE 246, 193, BStBl II 2014, 925, Rz 21) für Verzinsungszeiträume nach dem 21. März 2011 darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber bei dauerhafter Verfestigung des Niedrigzinsniveaus von Verfassungs wegen gehalten ist zu überprüfen, ob die ursprüngliche Entscheidung zur gesetzlichen Zinshöhe auch unter den veränderten Umständen aufrechtzuerhalten ist.
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Ein Hinweis dafür, dass der Gesetzgeber selbst mit Blick auf die nicht mehr realitätsgerechte gesetzliche Zinshöhe ein gesetzgeberisches Handeln als notwendig angesehen hat, folgt im Übrigen aus der --nach Art. 97 § 8 Abs. 4 Satz 1 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung (EGAO) erstmals für nach dem 31. Dezember 2018 einzureichende Steuererklärungen geltenden-- Regelung für die Bemessung von Verspätungszuschlägen gemäß § 152 Abs. 5 AO i.d.F. des Gesetzes zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens (StModernG) vom 18. Juli 2016 (BGBl I 2016, 1679). Diese legt nach § 152 Abs. 5 Satz 2 AO bei jährlich zu veranlagenden Steuern einen typisierten Zuschlag von 0,25 Prozent der festgesetzten Steuer je angefangenen Monat der eingetretenen Verspätung zugrunde. Zu den jährlich zu veranlagenden Steuern gehören die Einkommen-, Körperschaft- und Gewerbesteuer, die auch der Verzinsung nach § 233a AO i.V.m. § 238 AO unterfallen. Im Rahmen der vorbereitenden Überlegungen zur Neuregelung des § 152 AO durch das StModernG war zunächst erwogen worden, die Höhe des Verspätungszuschlags für diese Steuern an der Höhe der Zinsen nach § 238 Abs. 1 Satz 1 AO mit einhalb Prozent für jeden angefangenen Monat zu bemessen. Angesichts der als zweifelhaft angesehenen Höhe einer solchen Pauschalierung wurde jedoch davon Abstand genommen und zur Vermeidung verfassungsrechtlicher Zweifel für die Bemessung des Verspätungszuschlags eine Pauschalierung von 0,25 Prozent je angefangenen Monat zugrunde gelegt.
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Aufgrund des verfestigten Niedrigzinsniveaus hat der Gesetzgeber zudem bereits den Abzinsungssatz von Rückstellungen für Altersversorgungsverpflichtungen in der Handelsbilanz geändert (vgl. Baumbach/Hopt, HGB, 38. Aufl., § 253 Rz 7). Für die Berechnung dieses Abzinsungssatzes war auf den durchschnittlichen Marktzinssatz der vergangenen sieben Jahre abzustellen (§ 253 Abs. 2 Satz 1 des Handelsgesetzbuchs --HGB-- a.F.). Da durch das nachhaltig niedrige Zinsniveau der maßgebende Durchschnittszinssatz stark sank, benötigten die Unternehmen für die Absicherung der zugesagten Altersversorgung eine wesentlich höhere Rückstellung. Mit dem Gesetz zur Umsetzung der Wohnimmobilienkreditrichtlinie und zur Änderung handelsrechtlicher Vorschriften vom 11. März 2016 (BGBl I 2016, 396) wurde dieser Nachteil im Niedrigzinsumfeld abgemildert und der Betrachtungszeitraum für die Berechnung des Durchschnittszinssatzes im Rahmen des § 253 Abs. 2 HGB insoweit von sieben auf zehn Jahre verlängert. Die Änderung war erstmals im Jahresabschluss für nach dem 31. Dezember 2015 endende Geschäftsjahre anzuwenden (Art. 75 Abs. 6 des Einführungsgesetzes zum Handelsgesetzbuch --HGBEG--). Darüber hinaus bestand ein Wahlrecht, wonach die Neuberechnung der Abzinsung bereits für ein Geschäftsjahr angewandt werden konnte, das nach dem 31. Dezember 2014 beginnt und vor dem 1. Januar 2016 endete (Art. 75 Abs. 7 HGBEG).
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c) Nach alledem ist angesichts der erheblichen Höhe der Zinszahlung dem Interesse der Antragsteller an einer AdV des angefochtenen Zinsbescheids Vorrang zu geben.
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4. Die Vollziehung wird mit der Maßgabe aufgehoben, dass in der Vergangenheit entstandene Säumniszuschläge entfallen (vgl. BFH-Urteil vom 30. März 1993 VII R 37/92, BFH/NV 1994, 4; BFH-Beschlüsse vom 10. Dezember 1986 I B 121/86, BFHE 149, 6, BStBl II 1987, 389; vom 6. September 1989 II B 33/89, BFH/NV 1990, 670).
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5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
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