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BFH 22.11.2012 - XI B 113/11
BFH 22.11.2012 - XI B 113/11 - Verfahrensfehlerhafte Nichtberücksichtigung von wesentlichem Beteiligtenvorbringen
Normen
§ 76 Abs 1 S 1 FGO, § 96 Abs 1 S 1 FGO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO, § 116 Abs 6 FGO
Vorinstanz
vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht, 13. Oktober 2011, Az: 16 K 359/10, Urteil
Leitsatz
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1. NV: Das FG ist gemäß § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO verpflichtet, den Vortrag der Verfahrensbeteiligten vollständig zur Kenntnis zu nehmen und bei der Urteilsfindung zu berücksichtigen .
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2. NV: Hat das FA im Laufe des Klageverfahrens wiederholt auf Aufzeichnungen in einem Wareneingangsbuch verwiesen und darauf, dass sich diese bzgl. anderer Kunden als zutreffend erwiesen hätten und sich hieraus auch für den Streitfall eine starke Indizwirkung ergebe, so ist die Nichtberücksichtigung dieses Vorbringens durch das FG verfahrensfehlerhaft .
Tatbestand
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I. Das Finanzgericht (FG) gab der Klage mit der Begründung statt, die durchgeführte Beweisaufnahme habe zu einem "non liquet" geführt. Die Aussagen der Zeugen seien jede für sich genommen glaubhaft und die Zeugen wirkten auch glaubwürdig, die Aussagen wiedersprächen sich jedoch eklatant. Es sei dem FG nicht möglich, den Sachverhalt näher aufzuklären und festzustellen, ob die Klägerin und Beschwerdegegnerin (Klägerin) die vom Beklagten und Beschwerdeführer (Finanzamt --FA--) angenommenen Umsätze in Form von entgeltlichen Schrottanlieferungen getätigt habe.
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Im Tatbestand des Urteils wird die Einlassung des FA im Anschluss an dessen Antrag, die Klage abzuweisen, wie folgt wiedergegeben: "Es beruft sich im Wesentlichen auf die Aussagen der Herren A und B."
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Den Antrag des FA auf Berichtigung des Tatbestandes gemäß § 108 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) dahingehend, es habe sich "neben den Zeugenaussagen auch auf die vorliegende Dokumentation der Einkaufsvorfälle und die Indizwirkung von Vergleichsfällen, die für die Richtigkeit der aufgezeichneten Schrottlieferungen spricht" berufen, lehnte das FG ab. Zur Begründung führte es aus, nach der vom Senat in seinem Urteil vertretenen Rechtsauffassung sei die nur vom FA vertretene Indizwirkung von Vergleichsfällen unter keinem Gesichtspunkt entscheidungserheblich und rechtfertige daher auch keine Tatbestandsberichtigung.
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Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde macht das FA u.a. geltend, nach Lage der Akten habe das FG den Sachverhalt weiter aufklären müssen. Die streitigen Umsätze würden --abgesehen von ferner benannten Zeugen-- auch durch die detaillierten Aufzeichnungen in einem Wareneingangsbuch über Schrottanlieferungen der Klägerin sowie weiterer Kunden bestärkt. Diese Aufzeichnungen seien von allen anderen in dem Wareneingangsbuch vermerkten Lieferanten im Rahmen von Betriebsprüfungen als zutreffend anerkannt worden und entfalteten daher hohe Indizwirkung für die dort gleichfalls aufgezeichneten Lieferungen der Klägerin.
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Das FG habe zudem seiner Entscheidung nicht den Inhalt der vorgelegten Akten und sein --des FA-- Vorbringen im gebotenen Maße berücksichtigt. Obwohl im Besteuerungs- und Klageverfahren wiederholt auf die Aufzeichnungen in einem Wareneingangsbuch verwiesen worden sei, habe das FG diese völlig ignoriert. Die von dem FG in den Entscheidungsgründen erwähnten sog. nachträglich erstellten Listen seien, wie vorgetragen, von den Aufzeichnungen im Wareneingangsbuch zu unterscheiden.
Entscheidungsgründe
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II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Sie führt nach § 116 Abs. 6 FGO zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung.
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1. Das FG hat seiner Entscheidung nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens zugrunde gelegt und damit gegen § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO verstoßen. Die Vorentscheidung kann auf dem Verfahrensfehler beruhen.
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a) Nach § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Das FG ist hiernach insbesondere verpflichtet, den Vortrag der Verfahrensbeteiligten vollständig zur Kenntnis zu nehmen und bei der Urteilsfindung zu berücksichtigen (vgl. z.B. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 7. April 2005 IX B 194/03, BFH/NV 2005, 1354; vom 19. Januar 2006 VIII B 113/05, BFH/NV 2006, 803; vom 24. April 2007 VIII B 251/05, BFH/NV 2007, 1521; vom 13. April 2011 IX B 180/10, BFH/NV 2011, 1375, m.w.N.). Ein Verstoß gegen diese Verpflichtung ist ein Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 30. November 2006 VIII B 104/06, BFH/NV 2007, 486, m.w.N.).
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b) Das FA macht zutreffend geltend, dass es im Laufe des Verfahrens wiederholt auf Aufzeichnungen in einem Wareneingangsbuch über Schrottanlieferungen verwiesen habe und darauf, dass sich die dort enthaltenen Aufzeichnungen bzgl. anderer Kunden als zutreffend erwiesen hätten und sich hieraus eine starke Indizwirkung dafür ergebe, dass auch die die Klägerin betreffenden Aufzeichnungen zutreffend seien.
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Diesen Sachvortrag hat das FG außer Acht gelassen, wie sich bereits daraus ergibt, dass es im Tatbestand hinsichtlich des Vorbringens des FA lediglich ausführt, das FA stütze sich im Wesentlichen auf die Aussagen der Herren A und B. Aufzeichnungen eines Wareneingangsbuchs werden in dem Urteil an keiner Stelle erwähnt. Damit hat das FG einen Umstand nicht berücksichtigt, der in die Beweiswürdigung hätte einfließen müssen und mithin einen Teil des Gesamtergebnisses des Verfahrens nicht seiner Entscheidung zugrunde gelegt (vgl. dazu z.B. BFH-Beschluss vom 19. Oktober 2011 IX B 90/11, BFH/NV 2012, 234).
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Soweit das FG in den Entscheidungsgründen ausführt, es könne sein, dass "die nachträglich erstellten Listen" nicht dem wahren Sachverhalt entsprechen, handelt es sich bei diesen Listen, deren Inhalt im Urteil nicht weiter erläutert wird, offensichtlich --und wie vom FA dargelegt-- nicht um die vom FA angeführten "Aufzeichnungen in einem Wareneingangsbuch". Denn das FA hat wiederholt geltend gemacht, die "nachträglich erstellten Listen" dürften nicht mit den von ihm angeführten "Aufzeichnungen in einem Wareneingangsbuch" gleichgesetzt werden. Dem Urteil des FG ist hierzu nichts Gegenteiliges zu entnehmen, obwohl es einer Begründung bedurft hätte, wenn es entgegen dem FA davon überzeugt gewesen sein sollte, dass die Aufzeichnungen des Wareneingangsbuchs nachträglich erstellt worden sind.
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2. Es erscheint sachgerecht, nach § 116 Abs. 6 FGO die Vorentscheidung aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen, da im Streitfall angesichts des nicht hinreichend aufgeklärten Sachverhalts von einer Revisionsentscheidung keine weitere rechtliche Klärung zu erwarten ist (vgl. BFH-Beschlüsse vom 17. September 2003 I B 18/03, BFH/NV 2004, 207; vom 29. Januar 2010 II B 107/09, BFH/NV 2010, 938). Das FG wird die notwendigen Feststellungen nachholen und hierzu ggf. weitere Zeugen hören müssen.
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