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BFH 05.07.2012 - VI R 99/10
BFH 05.07.2012 - VI R 99/10 - (Kindergeld: Minderung der Einkünfte um Zuzahlungen im Sinne des SGB V - Begriff der Einkünfte i.S. von § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG - Jahresgrenzbetrag - Aufwendungen für abnutzbare bewegliche Wirtschaftsgüter als Werbungskosten - Nutzungsdauer eines Notebooks)
Normen
§ 32 Abs 4 S 2 EStG 2002, § 61 SGB 5, § 2 Abs 2 EStG 2002, § 32 Abs 4 S 5 EStG 2002, § 6 Abs 2 EStG 2002, § 9 Abs 1 S 3 Nr 7 EStG 2002
Vorinstanz
vorgehend Finanzgericht Rheinland-Pfalz, 29. April 2009, Az: 1 K 1843/08, Urteil
Leitsatz
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Zuzahlungen, die das versicherte Kind nach dem SGB V zu leisten hat, sind nicht in die Bemessungsgrundlage für den Jahresgrenzbetrag (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG) einzubeziehen.
Tatbestand
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I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) bezog für ihre 1988 geborene Tochter D Kindergeld. D absolvierte von Oktober 2005 bis September 2008 eine Ausbildung zur Krankenschwester in B. Die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) war der Ansicht, die für das Streitjahr (2007) zu erwartenden Einkünfte und Bezüge der D würden den Jahresgrenzbetrag gemäß § 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes i.d.F. des Streitjahres (EStG) übersteigen. Sie hob durch Bescheid vom 13. Dezember 2006 die Festsetzung von Kindergeld ab Januar 2007 auf. Im Januar 2008 stellte die Klägerin unter Beifügung von Belegen erneut einen Kindergeldantrag, mit dem sie geltend machte, die Einkünfte und Bezüge der D, die diese im Streitjahr erzielt habe, hätten den Jahresgrenzbetrag nicht überstiegen. Die Familienkasse lehnte den Antrag ab.
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Die Klage blieb ohne Erfolg. Das Finanzgericht (FG) ermittelte Einkünfte und Bezüge der D in Höhe von 9.302,25 €. Von diesem Betrag seien Werbungskosten in Höhe von 1.501,05 € in Abzug zu bringen, so dass sich die Einnahmen auf 7.801,20 € beliefen und damit über dem Jahresgrenzbetrag von 7.680 € lägen. Entgegen der Auffassung der Klägerin seien die Kosten für das Notebook in Höhe von 635,17 € nur anteilig, nämlich mit 211,92 € zu berücksichtigen.
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Die geltend gemachten Mietkosten könnten nicht als ausbildungsbedingter Mehrbedarf berücksichtigt werden. Aufwendungen für die Praxisgebühr, Arzneibedarf oder Unfallversicherung seien als Sonderausgaben bzw. außergewöhnliche Belastungen keine Werbungskosten oder besondere Ausbildungskosten.
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Mit der Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts.
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Die vom Bruttolohn abgezogenen Beiträge für Lohnsteuer, Kirchensteuer und Solidaritätszuschlag seien bei der Ermittlung der Einkünfte und Bezüge als Werbungskosten anzusetzen.
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Aufwendungen für Praxisgebühr, Arzneibedarf und Unfallversicherung seien als unvermeidbare Kosten einkommensmindernd zu berücksichtigen. Der Abzug der Aufwendungen für das Notebook nur im Wege der Absetzung für Abnutzung (AfA) über eine Nutzungsdauer von drei Jahren sei fehlerhaft.
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Entgegen der Auffassung des FG seien die Kosten für Unterkunft eines auswärts untergebrachten Kindes ausbildungsbedingte Mehraufwendungen.
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Die Klägerin beantragt sinngemäß, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils, des Bescheids vom 6. Februar 2008 und der Einspruchsentscheidung vom 21. Mai 2008 die Familienkasse zu verpflichten, Kindergeld für 2007 zu gewähren.
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Die Familienkasse beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
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II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
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1. Für ein über 18 Jahre altes Kind, das --wie D im Streitjahr 2007-- das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte, besteht nach § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a, § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG ein Anspruch auf Kindergeld, wenn das Kind für einen Beruf ausgebildet wird und seine zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmten oder geeigneten Einkünfte und Bezüge den für den Streitzeitraum maßgeblichen Jahresgrenzbetrag von 7.680 € nicht übersteigen.
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a) Der Begriff der Einkünfte i.S. von § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG entspricht dem in § 2 Abs. 2 EStG definierten Begriff und ist je nach Einkunftsart als Gewinn oder Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten zu verstehen. Erzielt das Kind --wie im Streitfall D-- Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, sind daher von den Bruttoeinnahmen die Werbungskosten abzuziehen (ständige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs --BFH--, z.B. Urteil vom 17. Juni 2010 III R 59/09, BFHE 230, 142, BStBl II 2011, 121).
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b) Darüber hinaus sind nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Januar 2005 2 BvR 167/02 (BVerfGE 112, 164) im Wege verfassungskonformer Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG Einkünfte --ebenso wie die Bezüge-- nur zu berücksichtigen, soweit sie zur Bestreitung des Unterhalts und der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind. Es ist jeweils im Einzelfall zu prüfen, welche Teile der Einkünfte i.S. des § 2 Abs. 2 EStG wegen eines sonst vorliegenden Grundrechtsverstoßes im Wege verfassungskonformer Einschränkung nicht angesetzt werden dürfen (BFH-Urteil vom 9. Februar 2012 III R 73/09, BFHE 236, 407, BStBl II 2012, 463).
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Entsprechend diesen Grundsätzen hat der BFH Beiträge des Kindes zu einer freiwilligen gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung sowie unvermeidbare Beiträge für eine private Kranken- und Pflegeversicherung den Sozialversicherungsbeiträgen gleichgestellt und nicht in die Bemessungsgröße des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG einbezogen (BFH-Urteile vom 16. November 2006 III R 74/05, BFHE 216, 69, BStBl II 2007, 527, und vom 14. Dezember 2006 III R 24/06, BFHE 216, 225, BStBl II 2007, 530). Nicht zu den bei der Ermittlung der Einkünfte nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG abzuziehenden Aufwendungen gehören dagegen u.a. die Beiträge für eine private Zusatzkrankenversicherung (BFH-Urteil vom 26. September 2007 III R 4/07, BFHE 219, 112, BStBl II 2008, 738), zu privaten Renten-, Lebens- und Unfallversicherungen (BFH-Urteile vom 29. Mai 2008 III R 33/06, BFH/NV 2008, 1664; vom 21. Oktober 2010 III R 18/10, BFH/NV 2011, 251), zu vermögenswirksamen Leistungen (BFH-Urteil vom 22. September 2011 III R 73/08, BFH/NV 2012, 398) und zur Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (BFH-Urteile in BFHE 230, 142, BStBl II 2011, 121; vom 19. Mai 2011 III R 41/09, BFH/NV 2011, 1852; vom 25. November 2010 III R 23/10, BFH/NV 2011, 774; in BFH/NV 2011, 251; s.a. BFH-Urteil vom 22. September 2011 III R 23/09, BFHE 235, 342, BStBl II 2012, 594, zu Prämien für eine private Haftpflichtversicherung). Nach Auffassung des BFH ist zudem die vom Arbeitslohn einbehaltene Lohnsteuer nicht von den Einkünften abzusetzen. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG bedarf insoweit keiner verfassungskonformen Einschränkung (s. im Einzelnen BFH-Urteil in BFHE 219, 112, BStBl II 2008, 738).
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c) Nach § 32 Abs. 4 Satz 5 EStG bleiben bei der Ermittlung der schädlichen Grenze von 7.680 € Bezüge außer Ansatz, die für besondere Ausbildungszwecke bestimmt sind, bzw. Einkünfte, die für solche Zwecke verwendet werden. Solche besonderen Ausbildungskosten sind alle über die Lebensführung hinausgehenden ausbildungsbedingten Mehraufwendungen. Ausbildungsbedingte Mehraufwendungen, die nicht bereits als Werbungskosten (§ 9 EStG) im Rahmen einer Einkunftsart des Kindes berücksichtigt werden, sind gemäß § 32 Abs. 4 Satz 5 EStG von der Summe der Einkünfte und Bezüge abzuziehen. Dabei erfolgt die Abgrenzung zwischen Kosten der Lebensführung und dem ausbildungsbedingten Mehrbedarf in der Weise, wie dies im Rahmen eines Ausbildungsdienstverhältnisses zwischen den Kosten der Lebensführung und den durch den Beruf veranlassten Kosten (Werbungskosten) geschieht. Es sind die den Abzug der jeweiligen Aufwendung betreffenden steuerlichen Vorschriften dem Grunde und der Höhe nach zu beachten (ständige Rechtsprechung, s. etwa BFH-Urteile vom 22. September 2011 III R 38/08, BFHE 235, 331, BStBl II 2012, 338; vom 15. Juli 2010 III R 70/08, BFH/NV 2010, 2253; vom 27. Oktober 2011 III R 92/10, BFH/NV 2012, 412).
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2. Die Vorentscheidung beruht teilweise auf einer anderen Rechtsauffassung und ist daher aufzuheben. Aufgrund der Feststellungen des FG kann der Senat nicht beurteilen, ob der Klägerin ein Anspruch auf Kindergeld zusteht.
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a) Nach den mit Verfahrensrügen nicht angegriffenen und damit bindenden (§ 118 Abs. 2 FGO) Feststellungen des FG erzielte D Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit in Höhe von 11.369,13 €, von denen Werbungskosten in Höhe von 1.501,05 € und Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung von 2.449,95 € abzuziehen sind. Zuzüglich des um eine Kostenpauschale gekürzten steuerfreien Arbeitslohns in Höhe von 383,07 € ergeben sich somit den Jahresgrenzbetrag übersteigende Einkünfte und Bezüge in Höhe von 7.801,20 €.
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b) Entgegen der Auffassung der Klägerin können die Kosten für das Notebook nicht in voller Höhe als Werbungskosten bei der Ermittlung der Einkünfte abgezogen werden. Denn Aufwendungen für abnutzbare bewegliche Wirtschaftsgüter, die selbständig nutzbar sind, können nur dann im Jahr der Anschaffung in voller Höhe als Werbungskosten abgesetzt werden, wenn die Aufwendungen für das einzelne Wirtschaftsgut 410 € nicht übersteigen (§ 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 7 i.V.m. § 6 Abs. 2 Satz 1 EStG). Ist das nicht der Fall --wie hier-- kommt ein Abzug nur im Wege der AfA in Betracht. Dies gilt nicht nur bei der Beurteilung ausbildungsbedingten Mehraufwands (s. dazu BFH-Urteile in BFH/NV 2010, 2253; in BFH/NV 2012, 412), sondern erst recht bei der Ermittlung der Einkünfte nach § 2 Abs. 2 EStG. Die von der Vorinstanz angenommene Nutzungsdauer des Notebooks von drei Jahren begegnet keinen Bedenken (s. dazu Schmidt/Kulosa, EStG, 31. Aufl., § 7 Rz 105).
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c) Nach der zitierten Rechtsprechung des BFH sind Aufwendungen für die Unfallversicherung und die vom Arbeitslohn einbehaltene Lohnsteuer nicht von den Einkünften abzuziehen. Der Senat schließt sich trotz der von der Klägerin geltend gemachten Bedenken dieser Rechtsprechung an.
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d) Nach ständiger Rechtsprechung des BFH gehört der in der Regel mit dem Jahresgrenzbetrag bereits typischerweise abgegoltene erhöhte Lebensbedarf wegen einer auswärtigen Unterbringung nicht zu den ausbildungsbedingten Mehraufwendungen (BFH-Urteil vom 9. Juni 2011 III R 28/09, BFHE 234, 149, BStBl II 2012, 213, m.w.N.). Der Senat hält an dieser Rechtsprechung trotz der von der Klägerin geltend gemachten Bedenken fest.
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e) Die von der Klägerin geltend gemachten, vom FG jedoch nicht näher festgestellten Krankheitskosten können bei der Prüfung der Überschreitung des Jahresgrenzbetrags Berücksichtigung finden, soweit es sich dabei um Zuzahlungen im Sinne des Fünften Buches Sozialgesetzbuch --Gesetzliche Krankenversicherung-- (SGB V) handelt.
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aa) Die Einkünfte und Bezüge i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG sind nicht um außergewöhnliche Belastungen zu vermindern. Außergewöhnliche Belastungen sind nach § 2 Abs. 4 EStG vom Gesamtbetrag der Einkünfte abzuziehen, lassen aber die für die Prüfung der Grenzbetragsüberschreitung maßgebliche Höhe der Einkünfte i.S. des § 2 Abs. 2 EStG unberührt (BFH-Urteil in BFHE 236, 407, BStBl II 2012, 463, m.w.N.). Eine generelle Berücksichtigung von außergewöhnlichen Belastungen bei der Ermittlung der eigenen Einkünfte und Bezüge des Kindes kommt daher nicht in Betracht. Dies gilt grundsätzlich auch für Krankheitskosten (s. dazu Schmidt/Loschelder, a.a.O., § 33 Rz 35, Stichwort Krankheitskosten).
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bb) Nach der Rechtsprechung des BFH sind jedoch Einkünfte des Kindes nicht in die Bemessungsgrundlage für den Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG einzubeziehen, soweit sie durch unvermeidbare (zwangsläufige) Aufwendungen gebunden sind. Die Beiträge zu einer freiwilligen gesetzlichen Krankenversicherung sind solche unvermeidbaren Aufwendungen. Die (Mindest-)Vorsorge für den Krankheitsfall führt zu Kosten, die die steuerliche Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen unvermeidbar mindern und für ihn indisponibel sind (BFH-Urteil in BFHE 216, 69, BStBl II 2007, 527).
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Soweit sich Versicherte an bestimmten Leistungen zur Krankenbehandlung durch Zuzahlungen beteiligen müssen (s. § 61 SGB V u.a. i.V.m. § 28 Abs. 4 SGB V --sog. Praxisgebühr--; zur Bedeutung der Zuzahlungen s. Schlegel in: jurisPK-SGB V, 2. Aufl. 2012, § 1 SGB V Rz 79 ff.; aus steuerrechtlicher Sicht vgl. BFH-Urteil vom 18. Juli 2012 X R 41/11, BFHE 238, 103), ermöglichen die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung allein nicht die notwendige Mindestvorsorge für den Krankheitsfall. Unvermeidbar im Sinn der genannten Rechtsprechung sind in diesem Fall somit auch die vom Kind zu entrichtenden Zuzahlungen.
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3. Die Sache ist nicht spruchreif. Das FG hat zur Frage, ob und in welcher Höhe D im fraglichen Zeitraum nicht in die Bemessungsgrundlage für den Jahresgrenzbetrag einzubeziehende Zusatzzahlungen nach dem SGB V getragen hat, keine Feststellungen getroffen. Der Senat kann deshalb die Entscheidungserheblichkeit dieser Frage im Hinblick auf den Jahresgrenzbetrag nicht beurteilen. Im zweiten Rechtsgang wird auch zu prüfen sein, ob die von der Klägerin geltend gemachten, vom FG aber nicht festgestellten Unterbringungskosten als Werbungskosten bei der Ermittlung der Einkünfte nach § 2 Abs. 2 EStG (§ 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 EStG) abgezogen werden können.
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