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BFH 08.12.2011 - III B 72/11
BFH 08.12.2011 - III B 72/11 - Anwendung der Regelungen über die Festsetzungsverjährung bei der rückwirkenden Aufhebung einer Kindergeldfestsetzung
Normen
§ 31 S 1 EStG 2002, § 31 S 2 EStG 2002, § 31 S 3 EStG 2002, § 155 Abs 4 AO, § 169 AO, § 170 AO, § 171 AO, § 45 Abs 4 SGB 10, § 130 AO
Vorinstanz
vorgehend Hessisches Finanzgericht, 4. März 2011, Az: 13 K 2619/10, Urteil
Leitsatz
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1. NV: Die Festsetzung des nach § 31 Satz 3 EStG als Steuervergütung gezahlten Kindergeldes erfolgt auch unter Berücksichtigung der in § 31 Satz 2 EStG geregelten Sozialleistungsfunktion des Kindergeldes nach den Vorschriften über die Steuerfestsetzung (§§ 155 bis 177 AO).
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2. NV: Der zeitliche Rahmen der rückwirkenden Aufhebung einer Kindergeldfestsetzung bestimmt sich nach den Vorschriften über die Festsetzungsverjährung (§§ 169 bis 171 AO).
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3. NV: Die sozialrechtliche Vertrauensschutzregelung des § 45 Abs. 4 SGB X findet im Rahmen der Aufhebung einer nach dem EStG erfolgten Kindergeldfestsetzung keine Anwendung.
Tatbestand
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I. Zugunsten des Klägers und Beschwerdeführers (Kläger) setzte die Beklagte und Beschwerdegegnerin (Familienkasse) mit Bescheid vom 7. April 2003 ab August 2002 Kindergeld für seinen im August 1982 geborenen Sohn S fest. Am 15. Mai 2007 teilte der Kläger der Familienkasse mit, dass S im August 2006 sein Hochschulstudium abgebrochen habe. Die Familienkasse stellte daraufhin die Kindergeldzahlung ab Juni 2007 ein.
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Aus weiteren von dem Kläger mit Schreiben vom 9. August 2007 und per E-Mail vom 22. Januar 2008 eingereichten Unterlagen ergab sich, dass S bereits am 30. März 2005 exmatrikuliert worden war und erst am 1. September 2006 eine Berufsausbildung als Verwaltungsfachangestellter begonnen hatte. Die von S Ende 2005/Anfang 2006 unternommenen Bemühungen um einen Ausbildungsplatz legte der Kläger in einer Liste mit Firmennamen dar.
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Aus den von dem Kläger eingereichten Unterlagen ergaben sich für 2005 bis 2007 jeweils über dem Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) liegende Einkünfte. Trotz mehrfacher Aufforderung der Familienkasse reichte der Kläger weder Erklärungen zu den Einkünften und Bezügen des S in den Jahren 2005, 2006, 2007 und 2008 ein, noch erbrachte er Nachweise für die behaupteten Bemühungen um einen Ausbildungsplatz.
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Die Familienkasse hob daraufhin mit Bescheid vom 27. Mai 2010 die Kindergeldfestsetzung ab Januar 2005 auf und forderte das für den Zeitraum Januar 2005 bis Mai 2007 bereits ausgezahlte Kindergeld in Höhe von 4.466 € von dem Kläger zurück. Den hiergegen gerichteten Einspruch wies die Familienkasse mit Einspruchsentscheidung vom 27. Juli 2010 als unbegründet zurück.
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Das Finanzgericht (FG) wies die Klage als unbegründet ab. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, die Familienkasse habe die Kindergeldfestsetzung zu Recht aufgehoben, da die Einkünfte des S in den Jahren 2005 bis 2007 den Grenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG überschritten hätten. Bei der Aufhebung der Kindergeldfestsetzung sei die Familienkasse nicht an die Jahresfrist des § 130 Abs. 3 der Abgabenordnung (AO) gebunden. Vielmehr sei eine Aufhebung in den Grenzen der Festsetzungsverjährung (§§ 169 ff. AO) möglich. Die Aufhebung der Festsetzung für die Jahre 2006 und 2007 sei im Rahmen der regelmäßigen vierjährigen Verjährungsfrist erfolgt. Für das Jahr 2005 könne die Aufhebung auch noch innerhalb der auf fünf Jahre verlängerten Festsetzungsfrist erfolgen, da der Kläger erst im Juli/August 2007 mitgeteilt habe, dass S bereits Ende März 2005 sein Hochschulstudium abgebrochen habe, und erst im Januar 2008 die Familienkasse von der Überschreitung des Jahresgrenzbetrags in Kenntnis gesetzt habe. Dies stelle eine leichtfertige Steuerverkürzung dar. Auf eine Verwirkung des Rückforderungsanspruchs könne sich der Kläger nicht berufen, da er aufgrund des Verhaltens der Familienkasse nicht darauf habe vertrauen dürfen, dass von einer Rückforderung abgesehen werde.
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Dagegen wendet sich der Kläger mit seiner Beschwerde, mit der er die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--) und zur Fortbildung des Rechts (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 1 FGO) begehrt.
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Die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache ergebe sich daraus, dass das FG die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung für die Vergangenheit nach §§ 169, 170 AO beurteilt habe. Im Falle des Klägers handele es sich beim Kindergeld jedoch nicht um eine Steuer i.S. des § 3 AO, sondern um eine Sozialleistung zur Förderung der Familie. Die steuerliche Funktion des Kindergelds komme beim Kläger nicht zum Tragen.
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Zur Fortbildung des Rechts sei die Revision zuzulassen, da das FG die §§ 169 ff. AO ohne dogmatische Begründung unmittelbar und undifferenziert angewandt habe. Der Begriff Kindergeld sei von dem Begriff Steuer scharf zu trennen. Das Kindergeld sei gegenüber dem Kläger durch einen begünstigenden Verwaltungsakt bestandskräftig festgesetzt worden. Selbst aus § 70 Abs. 3 Satz 3 EStG ergebe sich, dass der Gesetzgeber nicht von einer generellen Geltung der §§ 169 bis 177 AO ausgehe, sondern nur selektiv § 176 AO für anwendbar erklärt habe. Bei § 130 AO habe der Gesetzgeber hingegen keinen Bedarf für die Anwendbarkeit der §§ 169 bis 175 AO und des § 177 AO gesehen. Auch der Bundesfinanzhof (BFH) habe im Urteil vom 26. Juli 2001 VI R 83/98 (BFHE 196, 265, BStBl II 2002, 85) die Frage der Anwendbarkeit der §§ 169 ff. AO offengelassen. Auch über § 155 Abs. 4 AO sei der Weg zu den §§ 169 ff. AO nicht eröffnet, da die Festsetzung einer Steuervergütung systembedingt allein seitens des Finanzamts in den einkommensteuerlichen Veranlagungsverfahren erfolgen könne, soweit tatsächlich Kindergeld bezahlt worden sei. Nach der rückwirkenden Aufhebung der Kindergeldfestsetzung könne dem Kindergeld im steuerlichen Veranlagungsverfahren die Funktion einer Steuervergütung überhaupt nicht mehr zukommen.
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Eine Regelungslücke fehle, da der Familienkasse § 130 Abs. 3 Satz 1 AO als passende Regelung zur Verfügung gestanden habe. Hiernach sei der Aufhebungsbescheid außerhalb der Jahresfrist und damit verspätet ergangen.
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Um eine Gleichbehandlung mit Empfängern von Leistungen nach dem Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (BEEG) sowie dem Bundeskindergeldgesetz (BKGG) zu gewährleisten, komme nur ein Erstattungsanspruch in Betracht, der sozialrechtlicher Natur sei. § 45 Abs. 4 des Zehnten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB X) gewähre einen starken Vertrauensschutz und sehe eine Rücknahme rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakte nur innerhalb einer Jahresfrist vor.
Entscheidungsgründe
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II. Die Beschwerde ist jedenfalls unbegründet und deshalb durch Beschluss zurückzuweisen (§ 116 Abs. 5 Satz 1 FGO). Sofern Zulassungsgründe überhaupt in einer den Darlegungsanforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO genügenden Form geltend gemacht wurden, liegen sie jedenfalls nicht vor.
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1. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO).
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a) Dieser Zulassungsgrund ist nur gegeben, wenn die für bedeutsam gehaltene Rechtsfrage im Allgemeininteresse klärungsbedürftig und im Streitfall klärbar ist. An der Klärungsbedürftigkeit fehlt es, wenn die Rechtsfrage anhand der gesetzlichen Grundlagen und der bereits vorliegenden Rechtsprechung beantwortet werden kann und keine neuen Gesichtspunkte erkennbar sind, die eine erneute Prüfung und Entscheidung der Rechtsfrage durch den BFH geboten erscheinen lassen (vgl. etwa Senatsbeschluss vom 29. August 2011 III B 110/10, BFH/NV 2011, 2100). So verhält es sich hier.
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b) Zu Recht hat das FG die zeitlichen Grenzen der rückwirkenden Aufhebung des Bescheids über die Festsetzung von Kindergeld anhand der Regelungen über die Festsetzungsverjährung (§§ 169 ff. AO) geprüft.
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aa) Der Gesetzgeber hat in § 31 Satz 3 EStG bestimmt, dass das Kindergeld als Steuervergütung gezahlt wird. Bereits die systematische Stellung dieser Vorschrift zeigt, dass diese Qualifikation auch unter Berücksichtigung der in den vorangehenden Sätzen 1 und 2 geregelten Doppelfunktion des Kindergelds (Freistellung des Existenzminimums und der Bedarfe für Betreuung und Erziehung oder Ausbildung einerseits; soweit es hierzu nicht erforderlich ist, Förderung der Familie andererseits) getroffen wurde und nicht nur die steuerrechtliche Funktion des Kindergelds umfasst. Ob das Kindergeld im Einzelfall ganz oder teilweise nur der Förderung der Familie dient, ist für die Einordnung als Steuervergütung nicht entscheidend. Es gelten daher die Vorschriften der AO (§ 1 Abs. 1 Satz 1 AO) und nicht die Vorschriften des SGB X. Anders als die Regelungen über das sozialrechtliche Kindergeld (§ 18 BKGG) und über das Bundeselterngeld (§ 26 BEEG) erklärt das EStG die Bestimmungen des SGB X nicht für anwendbar.
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bb) Dagegen bestimmt § 155 Abs. 4 AO, dass die Vorschriften über die Steuerfestsetzung (§§ 155 bis 177 AO), also auch die Vorschriften über die Festsetzungsverjährung (§§ 169 bis 171 AO), sinngemäß auf die Festsetzung einer Steuervergütung anzuwenden sind. Hiervon geht der BFH in ständiger Rechtsprechung aus (vgl. etwa Senatsurteile vom 18. Mai 2006 III R 80/04, BFHE 214, 1, BStBl II 2008, 371, und vom 15. Juli 2010 III R 32/08, BFH/NV 2010, 2237). Dies gilt ebenso für das von dem Kläger zitierte Urteil in BFHE 196, 265, BStBl II 2002, 85. Dort hatte der BFH nur offengelassen, ob die Änderung im Urteilsfall auf § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO allein oder i.V.m. § 175 Abs. 2 AO oder auf § 70 Abs. 2 EStG zu stützen ist. Dagegen wurde die Anwendbarkeit der Änderungsvorschriften der §§ 172 ff. AO auf Kindergeldfestsetzungen nicht in Frage gestellt.
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Die Anwendung der §§ 155 bis 177 AO stellt auch keine lückenfüllende Analogie dar, da das Gesetz die entsprechende Anwendung dieser Regelungen auf Steuervergütungen in § 155 Abs. 4 AO selbst anordnet.
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cc) Nichts anderes ergibt sich daraus, dass § 70 Abs. 3 Satz 3 EStG nur § 176 AO für entsprechend anwendbar erklärt. § 70 Abs. 2 bis 4 EStG enthält ergänzende Korrekturvorschriften für Kindergeldfestsetzungen, die insbesondere der Tatsache Rechnung tragen, dass Kindergeldfestsetzungen Dauerverwaltungsakte darstellen. Die allgemeinen Regelungen über die Steuerfestsetzung werden hierdurch jedoch nur insoweit verdrängt, als das EStG wie in § 70 Abs. 3 Satz 3 Halbsatz 2 EStG speziellere Regelungen enthält.
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dd) Entgegen der Auffassung des Klägers ist § 130 AO nicht anwendbar. Da über die Festsetzung und Aufhebung einer Steuervergütung durch Steuerbescheid entschieden wird (§ 155 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 AO), schließt § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. d AO die Anwendung des § 130 AO aus (vgl. BFH-Beschluss vom 5. Mai 2004 VIII B 139/03, juris).
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ee) Eine Anwendbarkeit sozialrechtlicher Vertrauensschutzregelungen (hier des § 45 Abs. 4 SGB X) scheidet aus. Der Gesetzgeber ist bei der Systemumstellung des Familienleistungsausgleichs zum 1. Januar 1996 durch das Jahressteuergesetz 1996 vom 11. Oktober 1995 (BGBl I 1995, 1250) davon ausgegangen, dass für das nach dem EStG zu gewährende Kindergeld auch die für Steuerbescheide geltenden Änderungsvorschriften der AO Gültigkeit haben würden (vgl. BTDrucks 13/3084, S. 21). Er war nicht gehalten, eine dem § 45 Abs. 4 SGB X entsprechende Vertrauensschutzregelung in das System steuerlicher Änderungs- und Aufhebungsvorschriften aufzunehmen (vgl. bereits Senatsurteil vom 19. November 2008 III R 108/06, BFH/NV 2009, 357, zur Anwendbarkeit des § 45 Abs. 2 SGB X). Auch nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 6. April 2011 1 BvR 1765/09, BFH/NV 2011, 1277) verstößt eine verfahrensrechtliche Schlechterstellung bei der Gewährung von Kindergeld nach dem EStG gegenüber einer Kindergeldleistung nach dem BKGG nicht gegen Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes, da sie durch Gründe der Verwaltungspraktikabilität und der Rechtsklarheit sachlich gerechtfertigt ist. Diese sprechen dafür, für das nach dem EStG festzusetzende Kindergeld die Anwendung des steuerlichen Verfahrensrechts der AO vorzuschreiben, denn die für die Streitigkeiten aus dem EStG zuständigen FG sind mit der Anwendung dieses Verfahrensrechts besonders vertraut.
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2. Aus den gleichen Gründen scheidet eine Zulassung der Revision zur Fortbildung des Rechts (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 1 FGO) aus. Dieser Zulassungsgrund stellt einen Spezialfall der grundsätzlichen Bedeutung i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO dar und setzt daher ebenfalls eine klärungsbedürftige und klärbare Rechtsfrage voraus (Senatsbeschluss vom 27. April 2006 III B 179/04, BFH/NV 2006, 1646).
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