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BFH 12.08.2011 - III B 57/11
BFH 12.08.2011 - III B 57/11 - Rechtmäßigkeit des (weiteren) Vollzugs eines bestandskräftigen, erst im Nachhinein durch eine von der Rechtsprechung des BFH abweichenden Gesetzesauslegung durch das BVerfG rechtswidrig gewordenen Verwaltungsakts - Keine Begründung der Wiedereinsetzung durch andauernden Vollzug eines rechtswidrig gewordenen Verwaltungsaktes
Normen
§ 32 Abs 4 S 2 EStG 2002, § 124 AO, § 37 Abs 2 S 1 AO, § 110 AO
Vorinstanz
vorgehend Finanzgericht Baden-Württemberg, 24. Februar 2011, Az: 13 K 3760/09, Urteil
Leitsatz
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1. NV: Der (weitere) Vollzug eines Bescheides, der zum Zeitpunkt seines Ergehens der Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG durch den BFH entsprach und erst durch eine andere Auslegung durch das BVerfG rechtswidrig geworden ist, in Kenntnis dieser Rechtswidrigkeit ist rechtmäßig. Die Bindungswirkung eines bestandskräftigen Verwaltungsakts geht der materiellen Gerechtigkeit auch dann vor, wenn in dem Zeitpunkt, in dem seine Rechtswidrigkeit bemerkt wird, die Vollziehung noch fortdauert .
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2. NV. Es ist geklärt, dass es für die Frage, ob Kindergeld behalten werden darf oder zurückzuzahlen ist, auf die formelle Bescheidlage und nicht auf den abstrakten materiell-rechtlichen Kindergeldanspruch ankommt .
Tatbestand
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I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) erhielt für seinen Sohn (S) während des gesamten Jahres 2003 Kindergeld. Mit Bescheid vom 27. Juli 2004 setzte die Familienkasse der Stadt P das Kindergeld für S für 2003 unter Verweis auf den nach § 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) überschrittenen Grenzbetrag auf 0 € fest. Im selben Bescheid erklärte die Familienkasse die Aufrechnung des Erstattungsbetrags (§ 37 Abs. 2 der Abgabenordnung --AO--) in monatlichen Raten von 200 € mit dem Anspruch des Klägers auf Besoldung, Vergütung bzw. Lohn. Der Bescheid wurde bestandskräftig.
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Im Mai 2005 wandte sich der Kläger an die Familienkasse der Stadt P und bat unter Verweis auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 11. Januar 2005 2 BvR 167/02 (BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260) um Prüfung, ob das Verfahren rückwirkend wieder aufgenommen werden könne. Ende Juni 2005 legte der nun anwaltlich vertretene Kläger "Widerspruch gegen die Rückforderung des bereits ausbezahlten Kindergelds" ein und beantragte zugleich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Die zwischenzeitlich sachlich zuständig gewordene Beklagte und Beschwerdegegnerin (Familienkasse) verwarf den Einspruch wegen Verfristung als unzulässig und lehnte auch eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ab. Mit seiner Klage begehrte der Kläger die Aufhebung des Änderungsbescheides vom 27. Juli 2004 und der Einspruchsentscheidung vom 10. August 2009. Das Finanzgericht (FG) wies die Klage unter Verweis auf die Bestandskraft der Nullfestsetzung und fehlenden Änderungsmöglichkeiten mit Urteil vom 24. Februar 2011 13 K 3760/09 ab. Auch eine Wiedereinsetzung in die versäumte Einspruchsfrist komme nicht in Betracht. Der Familienkasse sei es zudem nicht nach dem Grundsatz von Treu und Glauben verwehrt, sich auf die Bestandskraft des Nullfestsetzungsbescheides zu berufen.
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Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde macht der Kläger geltend, die Revision sei wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--) und zur Rechtsfortbildung (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1 FGO) zuzulassen.
Entscheidungsgründe
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II. Die Beschwerde ist unzulässig und daher zu verwerfen. Der Kläger hat die von ihm geltend gemachten Revisionszulassungsgründe nicht in einer den Anforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO entsprechenden Weise dargelegt. Sie liegen im Übrigen auch nicht vor.
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1. Eine Revisionszulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) kommt nicht in Betracht. Der Kläger hat zwar konkrete Rechtsfragen formuliert, er hat allerdings weder zu deren Bedeutung für die Allgemeinheit noch zu deren Klärungsbedürftigkeit substantiiert Stellung genommen. Die von dem Kläger aufgeworfenen Rechtsfragen sind auch nicht grundsätzlich bedeutsam.
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a) Die vom Kläger für grundsätzlich bedeutsam gehaltene Rechtsfrage, ob der (weitere) Vollzug eines Bescheides, der zum Zeitpunkt seines Ergehens der Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG durch den Bundesfinanzhof (BFH) entsprach und erst durch eine andere Auslegung durch das BVerfG rechtswidrig geworden ist, in Kenntnis dieser Rechtswidrigkeit rechtmäßig sei, ist nicht klärungsbedürftig, da sie sich eindeutig aus dem Gesetz sowie der Rechtsprechung ergibt.
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In § 124 Abs. 1 und Abs. 2 AO ist festgelegt, dass ein Verwaltungsakt mit dem bekanntgegebenen Inhalt wirksam wird und dies auch bleibt, solange und soweit er nicht aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist. Dies gilt grundsätzlich auch für rechtswidrige bzw. fehlerhafte Verwaltungsakte mit Ausnahme des nichtigen Verwaltungsakts (§ 124 Abs. 3 AO). Dem Betroffenen wird also zugemutet, sich zur Wehr zu setzen, wenn er einen Verwaltungsakt für fehlerhaft hält (Güroff in Beermann/Gosch, AO § 124 Rz 12). Der wirksame und erst recht der bestandskräftige Verwaltungsakt binden die Behörde und den Betroffenen. Im Streitfall wurde die Bestandskraft des Bescheides vom 27. Juli 2004 auch nicht durch den Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 berührt (vgl. Senatsurteil vom 28. Juni 2006 III R 13/06, BFHE 214, 287, BStBl II 2007, 714). Die Bindungswirkung des bestandskräftigen Verwaltungsakts geht der materiellen Gerechtigkeit dabei vor (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 29. November 2005 IX B 161/05, BFH/NV 2006, 897). Unerheblich ist insoweit, ob der Verwaltungsakt in dem Zeitpunkt, in dem seine Rechtswidrigkeit bemerkt wird, bereits vollständig vollzogen ist oder die Vollziehung --wie im Streitfall aufgrund der ratenweisen Aufrechnung-- noch fortdauert.
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Sodann ergibt sich aus § 361 AO und § 69 FGO, dass im Abgabenrecht, zu dem auch das Kindergeld als Steuervergütung (§ 31 Satz 3 EStG) zählt, (selbst) durch die Einlegung eines außergerichtlichen oder gerichtlichen Rechtsbehelfs die Vollziehung --d.h. die zwangsweise oder auch freiwillige Verwirklichung-- des angefochtenen Verwaltungsakts regelmäßig nicht gehemmt, insbesondere die Erhebung der Abgabe --im Streitfall des Rückforderungsanspruchs-- nicht aufgehalten wird (z.B. Gosch in Beermann/Gosch, AO § 361 Rz 2, FGO § 69 Rz 7). Danach bedarf es einer besonderen Entscheidung, um die Vollziehbarkeit eines Steuerverwaltungsakts auszusetzen.
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Schließlich ist bereits geklärt, dass es für die Frage, ob Kindergeld behalten werden darf oder zurückzuzahlen ist, auf das Vorliegen von Kindergeldfestsetzungs- oder Aufhebungsbescheiden --mithin auf die formelle Bescheidlage-- ankommt und nicht auf den abstrakten materiell-rechtlichen Kindergeldanspruch (vgl. Senatsurteil vom 15. Juli 2010 III R 32/08, BFH/NV 2010, 2237). Mit der Aufhebung des Festsetzungsbescheides --bzw. einer insoweit vergleichbaren Nullfestsetzung-- entfällt der Rechtsgrund für das Behaltendürfen des Kindergelds, so dass dieses nach § 37 Abs. 2 Satz 1 AO zurückzuzahlen ist.
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b) Soweit der Kläger weiter geklärt wissen möchte, ob einem Wiedereinsetzungsantrag vor dem Hintergrund stattzugeben sei, dass ein rechtswidrig gewordener Verwaltungsakt wegen seiner Bestandskraft vollzogen wird, wird ebenfalls keine klärungsbedürftige Rechtsfrage aufgeworfen. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 110 AO setzt voraus, dass der Betreffende --in diesem Fall der Kindergeldberechtigte-- schuldlos daran gehindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Ob der rechtswidrig gewordene Verwaltungsakt von der Behörde (weiter) vollzogen wird, ist für die Frage der schuldlosen Fristversäumnis nicht relevant. Denn hieraus ergibt sich kein Grund, der den Kläger an der unterbliebenen rechtzeitigen Einspruchseinlegung gehindert haben könnte. Eine Wiedereinsetzung kann mit dem (andauernden) Vollzug eines rechtswidrig gewordenen Verwaltungsakts folglich nicht begründet werden.
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c) Soweit der Kläger schließlich die Frage geklärt wissen möchte, ob ein öffentlich-rechtlicher Arbeitgeber, der aufgrund seiner besonderen Stellung erleichterten Zugriff auf das Einkommen des Steuerpflichtigen habe, aufgrund der besonderen Rechtsstellung des öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnisses gesondert verpflichtet sei, auf anhängige Verfahren hinzuweisen, fehlt es bereits an der Darlegung der Klärungsbedürftigkeit. Der bloße Hinweis, diese Frage sei höchstrichterlich noch nicht entschieden, genügt insoweit nicht (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 5. Dezember 2007 VIII B 79/07, BFH/NV 2008, 732), da sich daraus die Klärungsbedürftigkeit der zu entscheidenden Rechtsfrage nicht ergibt.
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Es ist auch weder dargelegt noch erkennbar, dass die Frage in einem Revisionsverfahren klärungsfähig wäre. So war die hier beklagte Familienkasse bereits nicht Arbeitgeberin des Klägers, kann also selbst keine ihr aus dieser Stellung etwaig obliegenden Pflichten verletzt haben. Arbeitgeberin war ursprünglich vielmehr die Stadt P als Betreiberin des Städtischen Klinikums, in dem der Kläger beschäftigt war. Erst infolge der Veräußerung des Klinikums an einen privaten Träger wurde die beklagte Familienkasse nach den Feststellungen des FG ab dem 1. April 2005 zuständig. Auch ansonsten ist nicht ersichtlich, inwiefern die Beantwortung der Frage für das finanzgerichtliche Verfahren relevant wäre. So ist auch die vormals zuständige Stadt P im Rahmen des Kindergeldverfahrens nicht in ihrer Eigenschaft als Arbeitgeberin, sondern als Familienkasse tätig geworden (vgl. § 72 Abs. 1 Satz 2 EStG). Damit war sie Finanzbehörde (§ 6 Abs. 2 Nr. 6 AO) und unterlag dem Anwendungsbereich der AO (Wendl in Herrmann/ Heuer/Raupach, § 72 EStG Rz 17). Mit der Vorschrift des § 89 AO sowie der dazu ergangenen Rechtsprechung und Literatur (z.B. Michaelis, Kindergeldverfahren im öffentlichen Dienst ab 1996, S. 57 f.) hat sich der Kläger nicht auseinandergesetzt.
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2. Der vom Kläger geltend gemachte Zulassungsgrund der Erforderlichkeit einer Entscheidung des BFH zur Fortbildung des Rechts (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1 FGO) ist ein Unterfall der grundsätzlichen Bedeutung. In beiden Fällen muss es sich um eine klärungsbedürftige und klärbare Rechtsfrage handeln (z.B. Senatsbeschluss vom 8. Februar 2007 III B 136/06, BFH/NV 2007, 902). Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich indes, dass diese Voraussetzungen hier nicht erfüllt sind.
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