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EuGH 11.07.2024 - C-184/23
EuGH 11.07.2024 - C-184/23 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer) - 11. Juli 2024 ( *1) - „Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Sechste Richtlinie 77/388/EWG – Art. 2 Nr. 1 – Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 – Steuerpflichtige – Möglichkeit der Mitgliedstaaten, Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zusammen als einen als ‚Mehrwertsteuergruppe‘ bezeichneten Steuerpflichtigen zu behandeln – Leistungen innerhalb der Mehrwertsteuergruppe – Besteuerung solcher Leistungen – Empfänger nicht zum Vorsteuerabzug berechtigender Leistungen – Gefahr von Steuerverlusten“
Leitsatz
In der Rechtssache C-184/23
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesfinanzhof (Deutschland) mit Entscheidung vom 26. Januar 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 22. März 2023, in dem Verfahren
Finanzamt T
gegen
S
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos, der Richterin O. Spineanu-Matei, der Richter J.-C. Bonichot (Berichterstatter) und S. Rodin sowie der Richterin L. S. Rossi,
Generalanwalt: A. Rantos,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
von S, vertreten durch Rechtsanwälte R. J. Schwerin und D. Sommerfeld,
der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und A. Hoesch als Bevollmächtigte,
der Europäischen Kommission, vertreten durch B. Eggers und M. Herold als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. Mai 2024
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Nr. 1 und Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. 1977, L 145, S. 1, im Folgenden: Sechste Richtlinie).
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Finanzamt T (Deutschland) und S, einer deutschen Stiftung öffentlichen Rechts, wegen der von dieser Stiftung für den Besteuerungszeitraum 2005 erhobenen Mehrwertsteuer.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Die Sechste Richtlinie wurde durch die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) mit Wirkung vom 1. Januar 2007 aufgehoben und ersetzt. In Anbetracht des entscheidungserheblichen Zeitraums unterliegt der Ausgangsrechtsstreit jedoch weiterhin der Sechsten Richtlinie.
Art. 2 der Sechsten Richtlinie bestimmte:
„Der Mehrwertsteuer unterliegen:
Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt;
…“
Art. 4 der Richtlinie sah vor:
„(1) Als Steuerpflichtiger gilt, wer eine der in Absatz 2 genannten wirtschaftlichen Tätigkeiten selbständig und unabhängig von ihrem Ort ausübt, gleichgültig zu welchem Zweck und mit welchem Ergebnis.
…
(4) Der in Absatz 1 verwendete Begriff ‚selbständig‘ schließt die Lohn- und Gehaltsempfänger und sonstige Personen von der Besteuerung aus, soweit sie an ihren Arbeitgeber durch einen Arbeitsvertrag oder ein sonstiges Rechtsverhältnis gebunden sind, das hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und des Arbeitsentgelts sowie der Verantwortlichkeit des Arbeitgebers ein Verhältnis der Unterordnung schafft.
Vorbehaltlich der Konsultation nach Artikel 29 steht es jedem Mitgliedstaat frei, im Inland ansässige Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zusammen als einen Steuerpflichtigen zu behandeln.
(5) Staaten, Länder, Gemeinden und sonstige Einrichtungen des öffentlichen Rechts gelten nicht als Steuerpflichtige, soweit sie die Tätigkeiten ausüben oder Leistungen erbringen, die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen, auch wenn sie im Zusammenhang mit diesen Tätigkeiten oder Leistungen Zölle, Gebühren, Beiträge oder sonstige Abgaben erheben.
…“
Art. 6 Abs. 2 der Sechsten Richtlinie bestimmte:
„Dienstleistungen gegen Entgelt werden gleichgestellt:
…
die unentgeltliche Erbringung von Dienstleistungen durch den Steuerpflichtigen für seinen privaten Bedarf oder für den Bedarf seines Personals oder allgemein für unternehmensfremde Zwecke.
Die Mitgliedstaaten können Abweichungen von diesem Absatz vorsehen, sofern solche Abweichungen nicht zu Wettbewerbsverzerrungen führen.“
Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie regelte:
„Unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsvorschriften befreien die Mitgliedstaaten unter den Bedingungen, die sie zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der nachstehenden Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen festsetzen, von der Steuer:
…
die Krankenhausbehandlung und die ärztliche Heilbehandlung sowie die mit ihnen eng verbundenen Umsätze, die von Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder unter Bedingungen, welche mit den Bedingungen für diese Einrichtungen in sozialer Hinsicht vergleichbar sind, von Krankenanstalten, Zentren für ärztliche Heilbehandlung und Diagnostik und anderen ordnungsgemäß anerkannten Einrichtungen gleicher Art durchgeführt beziehungsweise bewirkt werden“.
Art. 17 Abs. 2 der Sechsten Richtlinie sah vor:
„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige befugt, von der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:
die geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert wurden oder geliefert werden bzw. erbracht wurden oder erbracht werden,
…“
Art. 11 der Richtlinie 2006/112 sieht vor:
„Nach Konsultation des Beratenden Ausschusses für die Mehrwertsteuer (nachstehend ‚Mehrwertsteuerausschuss‘ genannt) kann jeder Mitgliedstaat in seinem Gebiet ansässige Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zusammen als einen Steuerpflichtigen behandeln.
Ein Mitgliedstaat, der die in Absatz 1 vorgesehene Möglichkeit in Anspruch nimmt, kann die erforderlichen Maßnahmen treffen, um Steuerhinterziehungen oder -umgehungen durch die Anwendung dieser Bestimmung vorzubeugen.“
Deutsches Recht
In § 2 Abs. 2 des Umsatzsteuergesetzes in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: UStG) heißt es:
„Die gewerbliche oder berufliche Tätigkeit wird nicht selbständig ausgeübt,
…
wenn eine juristische Person nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in das Unternehmen des Organträgers eingegliedert ist (Organschaft). Die Wirkungen der Organschaft sind auf Innenleistungen zwischen den im Inland gelegenen Unternehmensteilen beschränkt. Diese Unternehmensteile sind als ein Unternehmen zu behandeln. …“
§ 3 Abs. 9a UStG bestimmt:
„Einer sonstigen Leistung gegen Entgelt werden gleichgestellt
…
die unentgeltliche Erbringung einer anderen sonstigen Leistung durch den Unternehmer für Zwecke, die außerhalb des Unternehmens liegen, oder für den privaten Bedarf seines Personals, sofern keine Aufmerksamkeiten vorliegen.“
Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefragen
Gemäß dem Vorlagebeschluss handelt es sich bei S um eine deutsche Stiftung öffentlichen Rechts, die Trägerin einer Universität, die auch einen Bereich für Universitätsmedizin unterhält, sowie Organträgerin der U-GmbH ist.
Im Jahr 2005 erbrachte die U-GmbH für S Reinigungs-, Hygiene- und Wäschereileistungen sowie Patiententransportdienstleistungen. Die Reinigungsleistungen umfassten den gesamten Gebäudekomplex des Bereichs Universitätsmedizin, zu dem neben Patientenzimmern, Fluren und Operationssälen auch Hörsäle und Labore gehören.
S übt in diesem Gebäudekomplex wirtschaftliche Tätigkeiten aus, für die sie der Mehrwertsteuer unterliegt, nutzt aber Hörsäle und andere Räume des Komplexes für die Ausbildung der Studierenden und damit für den hoheitlichen Bereich, für den sie nicht als Mehrwertsteuerpflichtige gilt. Der Flächenanteil des hoheitlichen Bereichs betrug 7,6 % der Gesamtfläche des Gebäudekomplexes.
Am 3. November 2005 berichtigte das Finanzamt im Anschluss an eine Außenprüfung den Umsatzsteuerbescheid von S für das Jahr 2005.
Erstens ging das Finanzamt davon aus, dass es sich bei den Betrieben von S, deren Organträgerin sie sei, um ein einheitliches Unternehmen handele, für das nur eine Umsatzsteuererklärung abzugeben und dementsprechend nur ein Umsatzsteuerbescheid zu erteilen sei.
Zweitens seien die von der U-GmbH für S erbrachten Reinigungsleistungen nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG als Umsätze anzusehen, die innerhalb der zwischen S und der U-GmbH bestehenden Organschaft erbracht worden seien und damit nicht der Mehrwertsteuer unterlägen.
Soweit jedoch diese Leistungen für den nicht der Mehrwertsteuer unterliegenden Hoheitsbereich von S erfolgt seien, dienten sie einer „unternehmensfremden“ Tätigkeit und lösten bei S eine einer „sonstigen Leistung gegen Entgelt … gleichgestellt[e] … unentgeltliche Erbringung einer anderen sonstigen Leistung“ im Sinne von § 3 Abs. 9a Nr. 2 UStG (mit dem Art. 6 Abs. 2 Buchst. b der Sechsten Richtlinie umgesetzt wurde) aus.
Demgemäß erhöhte das Finanzamt den von S zu entrichtenden Umsatzsteuerbetrag.
Der von S gegen diesen Bescheid eingelegte Einspruch blieb ohne Erfolg.
Das Finanzgericht (Deutschland) gab der von S gegen die höhere Umsatzsteuer erhobenen Klage statt. Die Organschaft, die S als Organträgerin und die U-GmbH als Organgesellschaft zu einem Unternehmen zusammenfasse, erstrecke sich auch auf den Hoheitsbereich von S, jedoch lägen die Voraussetzungen nach § 3 Abs. 9a Nr. 2 UStG nicht vor.
Das Finanzamt legte gegen dieses Urteil Revision beim Bundesfinanzhof (Deutschland), dem vorlegenden Gericht, ein. Dieses ersuchte den Gerichtshof, im Wege der Vorabentscheidung zu klären, ob die deutsche Regelung zur Organschaft mit dem Unionsrecht vereinbar und Art. 6 Abs. 2 Buchst. b der Sechsten Richtlinie anwendbar ist.
In diesem Vorabentscheidungsverfahren erging das Urteil vom 1. Dezember 2022, Finanzamt T (Leistungen innerhalb einer Mehrwertsteuergruppe) (C-269/20, EU:C:2022:944). Darin hat der Gerichtshof festgestellt, dass Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, zum einzigen Steuerpflichtigen einer Mehrwertsteuergruppe deren Organträger zu bestimmen, wenn dieser in der Lage ist, seinen Willen bei den anderen Mitgliedern dieser Gruppe durchzusetzen, und unter der Voraussetzung, dass diese Bestimmung nicht zur Gefahr von Steuerverlusten führt. Er hat außerdem entschieden, dass das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass in dem Fall, dass eine solche Organschaft zum einen wirtschaftliche Tätigkeiten ausübt, für die sie der Mehrwertsteuer unterliegt, und zum anderen Tätigkeiten im Rahmen der Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben, für die sie gemäß Art. 4 Abs. 5 dieser Richtlinie nicht als mehrwertsteuerpflichtig gilt, die Erbringung einer Dienstleistung im Zusammenhang mit dieser hoheitlichen Tätigkeit durch ein Mitglied dieser Gruppe nicht gemäß Art. 6 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie besteuert werden darf.
Das vorlegende Gericht hält es für erforderlich, den Gerichtshof im Rahmen jenes Rechtsstreits erneut anzurufen und mit der Frage zu befassen, ob gegen Entgelt erbrachte Leistungen, die zwischen Personen derselben Mehrwertsteuergruppe erbracht werden, nach Art. 2 Nr. 1 und Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie dem Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer unterliegen. Hierüber bestehe in Anbetracht der Ausführungen des Gerichtshofs in den Rn. 77 bis 80 des Urteils vom 1. Dezember 2022, Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie (C-141/20, EU:C:2022:943), Unsicherheit.
Es stelle sich außerdem die Frage, ob solche Leistungen in Anbetracht der sich aus den Urteilen vom 1. Dezember 2022, Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie (C-141/20, EU:C:2022:943), und vom 1. Dezember 2022, Finanzamt T (Leistungen innerhalb einer Mehrwertsteuergruppe) (C-269/20, EU:C:2022:944), ergebenden Grundsätze nicht wenigstens dann der Mehrwertsteuer unterliegen sollten, wenn der Leistungsempfänger nicht oder nur teilweise berechtigt ist, die geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer als Vorsteuer abzuziehen, und zwar um die „Gefahr von Steuerverlusten“ zu vermeiden.
Vor diesem Hintergrund hat der Bundesfinanzhof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Führt die Zusammenfassung mehrerer Personen zu einem Steuerpflichtigen nach Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie dazu, dass entgeltliche Leistungen zwischen diesen Personen nicht dem Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer nach Art. 2 Nr. 1 dieser Richtlinie unterliegen?
Unterliegen entgeltliche Leistungen zwischen diesen Personen jedenfalls dann dem Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer, wenn der Leistungsempfänger nicht (oder nur teilweise) zum Vorsteuerabzug berechtigt ist, da ansonsten die Gefahr von Steuerverlusten besteht?
Zu den Vorlagefragen
Mit seinen beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 2 Nr. 1 und Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen sind, dass zwischen Personen ein und derselben Mehrwertsteuergruppe gegen Entgelt erbrachte Leistungen der Mehrwertsteuer unterliegen, und ob der Umstand, dass der Leistungsempfänger die geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer nicht als Vorsteuer abziehen darf, zu berücksichtigen ist, weil in einem solchen Fall die Gefahr von Steuerverlusten bestünde.
Vorab ist daran zu erinnern, dass nach Art. 2 Nr. 1 der Sechsten Richtlinie Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt, der Mehrwertsteuer unterliegen.
Nach Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie gilt als „Steuerpflichtiger“, wer eine der in Abs. 2 genannten wirtschaftlichen Tätigkeiten selbständig und unabhängig von ihrem Ort ausübt, gleichgültig zu welchem Zweck und mit welchem Ergebnis.
Darüber hinaus ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass eine Dienstleistung nur dann der Mehrwertsteuer unterliegt, wenn zwischen dem Leistenden und dem Leistungsempfänger ein Rechtsverhältnis besteht, in dessen Rahmen gegenseitige Leistungen ausgetauscht werden, wobei die vom Leistenden empfangene Vergütung den tatsächlichen Gegenwert für die dem Leistungsempfänger erbrachte Dienstleistung bildet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Januar 2019, Morgan Stanley & Co International, C-165/17, EU:C:2019:58, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Zur Klärung der Frage, ob ein solches Rechtsverhältnis besteht, ist zu untersuchen, ob der Leistende einer selbständigen Wirtschaftstätigkeit nachgeht, insbesondere ob er das wirtschaftliche Risiko seiner Tätigkeit trägt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. September 2014, Skandia America [USA], filial Sverige, C-7/13, EU:C:2014:2225, Rn. 25, und vom 24. Januar 2019, Morgan Stanley & Co International, C-165/17, EU:C:2019:58, Rn. 35).
Was die Frage angeht, ob die zwischen Mitgliedern derselben Mehrwertsteuergruppe erbrachten Leistungen der Mehrwertsteuer unterliegen, ist in Anbetracht der vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in seinem Urteil vom 1. Dezember 2022, Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie (C-141/20, EU:C:2022:943), auf diesen Aspekt nicht eingegangen ist.
In den Rn. 77 bis 80 dieses Urteils, auf die das vorlegende Gericht besonders hinweist, wurde die Frage geprüft, ob ein Mitgliedstaat bestimmte Einheiten „im Wege der Typisierung“ im Sinne von Art. 4 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 1 der Sechsten Richtlinie als nicht selbständig ansehen darf, wenn sie finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in den Organträger einer Mehrwertsteuergruppe eingegliedert sind.
Den Rn. 23 und 28 bis 30 dieses Urteils ist zu entnehmen, dass dasselbe vorlegende Gericht, das auch das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen eingereicht hat, diese Frage gestellt hatte, um zu beurteilen, ob die deutsche Regelung der Organschaft jedenfalls durch Art. 4 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 1 der Sechsten Richtlinie „gerechtfertigt“ sein könnte.
Folglich greift die auf das Urteil vom 1. Dezember 2022, Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie (C-141/20, EU:C:2022:943), zurückgehende Rechtsprechung nicht der Beantwortung der Frage vor, ob die zwischen den Mitgliedern ein und derselben Mehrwertsteuergruppe erbrachten Leistungen in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer fallen.
Zur Beantwortung dieser Frage sind jedoch die Zugehörigkeit dieser Mitglieder zur selben Mehrwertsteuergruppe und die besonderen Bestimmungen von Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. März 2021, Danske Bank,C-812/19, EU:C:2021:196, Rn. 22).
Nach dem Wortlaut dieser Vorschrift steht es jedem Mitgliedstaat frei, im Inland ansässige Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zusammen als „einen Steuerpflichtigen“ zu behandeln.
Außerdem ergibt sich aus ständiger Rechtsprechung, dass die Umsetzung der in Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie vorgesehenen Regelung verlangt, dass die aufgrund dieser Bestimmung erlassene nationale Regelung es Einheiten, zwischen denen solche Beziehungen bestehen, gestattet, nicht mehr als getrennte Mehrwertsteuerpflichtige, sondern zusammen als ein Steuerpflichtiger behandelt zu werden, und dass, wenn ein Mitgliedstaat von dieser Bestimmung Gebrauch macht, die untergeordnete Einheit oder die untergeordneten Einheiten im Sinne dieser Vorschrift nicht als Steuerpflichtiger oder Steuerpflichtige im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie gelten können (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Mai 2008, Ampliscientifica und Amplifin, C-162/07, EU:C:2008:301, Rn. 19, vom 1. Dezember 2022, Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie,C-141/20, EU:C:2022:943, Rn. 45, und vom 1. Dezember 2022, Finanzamt T [Leistungen innerhalb einer Mehrwertsteuergruppe], C-269/20, EU:C:2022:944, Rn. 39).
Folglich schließt die Gleichstellung einer Mehrwertsteuergruppe mit einem einzigen Steuerpflichtigen im Sinne von Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie es aus, dass die Mitglieder der Mehrwertsteuergruppe weiterhin getrennt Mehrwertsteuererklärungen abgeben und innerhalb und außerhalb ihrer Gruppe weiter als Steuerpflichtige angesehen werden, da nur der einzige Steuerpflichtige befugt ist, diese Erklärungen abzugeben. Diese Vorschrift setzt somit, wenn ein Mitgliedstaat von ihr Gebrauch macht, zwingend voraus, dass die nationale Umsetzungsregelung einen einzigen Steuerpflichtigen vorsieht und dass der Gruppe nur eine Mehrwertsteuernummer zugeteilt wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Mai 2008, Ampliscientifica und Amplifin, C-162/07, EU:C:2008:301, Rn. 19 und 20, sowie vom 1. Dezember 2022, Finanzamt T [Leistungen innerhalb einer Mehrwertsteuergruppe], C-269/20, EU:C:2022:944, Rn. 40).
Wie der Generalanwalt in den Nrn. 44 und 45 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, folgt daraus, dass ein Leistender, der einer Mehrwertsteuergruppe angehört, nicht einzeln als von dieser Gruppe getrennter Steuerpflichtiger betrachtet werden kann, so dass nicht bestimmt zu werden braucht, ob er die Voraussetzung der Selbständigkeit im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie erfüllt, wenn er für eine andere Einheit dieser Gruppe gegen Entgelt eine Leistung erbringt. Eine solche Leistung kann folglich nicht in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer nach Art. 2 Nr. 1 dieser Richtlinie fallen.
Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass der nach Art. 398 der Richtlinie 2006/112 eingesetzte Mehrwertsteuerausschuss in den Leitlinien, die sich aus seiner 119. Sitzung vom 22. November 2021 ergeben, die gleiche Auffassung in Bezug auf die Mehrwertsteuergruppe im Sinne von Art. 11 dieser Richtlinie vertreten hat; nach diesen Leitlinien schließt die Behandlung einer Mehrwertsteuergruppe als einzige Steuerpflichtige aus, dass die Mitglieder dieser Gruppe weiterhin innerhalb und außerhalb ihrer Gruppe für Zwecke der Mehrwertsteuer als getrennte Steuerpflichtige behandelt werden. Ein solches Dokument hat zwar keinen bindenden Charakter, stellt aber gleichwohl eine Hilfe bei der Auslegung der Sechsten Richtlinie dar (vgl. entsprechend Beschluss vom 8. Oktober 2020, Weindel Logistik Service,C-621/19, EU:C:2020:814, Rn. 48).
Ebenso wird in Nr. 3.4.3 der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die Option der MwSt-Gruppe gemäß Artikel 11 der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (KOM[2009] 325 endgültig), die „Gruppeninterne Lieferungen und Dienstleistungen“ betrifft, erläutert, dass Umsätze zwischen den einzelnen Mitgliedern ein und derselben Mehrwertsteuergruppe im Hinblick auf die Mehrwertsteuer nicht existent sind.
Was die Frage betrifft, ob hiervon der spezielle Fall, dass der Erbringer einer solchen Leistung kein Recht auf Abzug der geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer als Vorsteuer hat, zu unterscheiden ist, weil in diesem Fall die „Gefahr von Steuerverlusten“ bestünde, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass bei einer Mehrwertsteuergruppe das Recht auf Abzug der geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer als Vorsteuer der Gruppe selbst und nicht deren Mitgliedern zusteht.
Außerdem bezog sich in den vom vorlegenden Gericht in seinem Vorlagebeschluss angeführten Urteilen vom 1. Dezember 2022, Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie (C-141/20, EU:C:2022:943), und vom 1. Dezember 2022, Finanzamt T (Leistungen innerhalb einer Mehrwertsteuergruppe) (C-269/20, EU:C:2022:944), die darin vom Gerichtshof angesprochene Voraussetzung betreffend die Notwendigkeit, eine Gefahr von Steuerverlusten zu verhindern, auf eine andere als die im Rahmen der vorliegenden Rechtssache geprüfte Frage.
Wie Rn. 60 des Urteils vom 1. Dezember 2022, Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie (C-141/20, EU:C:2022:943), und Rn. 53 des Urteils vom 1. Dezember 2022, Finanzamt T (Leistungen innerhalb einer Mehrwertsteuergruppe) (C-269/20, EU:C:2022:944), zu entnehmen ist, ging es dort nämlich um die Frage, ob ein Mitgliedstaat die Möglichkeit hat, nicht die Mehrwertsteuergruppe selbst, sondern deren Organträger zum einzigen Steuerpflichtigen zu bestimmen. Wie in Rn. 23 des vorliegenden Urteils ausgeführt, war der Gerichtshof der Auffassung, dass dies der Fall sein kann, wenn diese Bestimmung in Bezug auf die Steuereinnahmen zum selben Ergebnis führt wie wenn die Mehrwertsteuergruppe selbst Steuerpflichtige wäre (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 1. Dezember 2022, Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie,C-141/20, EU:C:2022:943, Rn. 57 bis 59, und vom 1. Dezember 2022, Finanzamt T [Leistungen innerhalb einer Mehrwertsteuergruppe], C-269/20, EU:C:2022:944, Rn. 50 bis 52).
Dagegen ergäbe sich die „Gefahr von Steuerverlusten“, auf die das vorlegende Gericht mit seiner zweiten Frage Bezug nimmt, in erster Linie nicht aus der Anwendung besonderer Voraussetzungen des Rechts eines Mitgliedstaats auf die Regelung über die Mehrwertsteuergruppe, sondern aus der Anwendung des in der Sechsten Richtlinie vorgesehenen gemeinsamen Mehrwertsteuersystems und seiner Vorschriften über den Abzug der geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer als Vorsteuer.
Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 2 Nr. 1 und Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen sind, dass gegen Entgelt erbrachte Leistungen zwischen Personen, die ein und derselben Mehrwertsteuergruppe angehören, selbst dann nicht der Mehrwertsteuer unterliegen, wenn die vom Empfänger dieser Leistungen geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer nicht als Vorsteuer abgezogen werden darf.
Zur zeitlichen Begrenzung der Wirkungen
Die Bundesrepublik Deutschland hat beantragt, die zeitliche Wirkung des vorliegenden Urteils zu begrenzen, falls der Gerichtshof die erste oder die zweite Frage bejahen sollte.
In Anbetracht der Antwort auf die beiden vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen erübrigt sich eine Entscheidung über diesen Antrag.
Kosten
Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 2 Nr. 1 und Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage
sind dahin auszulegen, dass
gegen Entgelt erbrachte Leistungen zwischen Personen, die ein und derselben Mehrwertsteuergruppe angehören, die aus rechtlich selbständigen, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbundenen Personen besteht und von einem Mitgliedstaat als einzige Steuerpflichtige bestimmt wird, selbst dann nicht der Mehrwertsteuer unterliegen, wenn die vom Empfänger dieser Leistungen geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer nicht als Vorsteuer abgezogen werden darf.
Lycourgos
Spineanu-Matei
Bonichot
Rodin
Rossi
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 11. Juli 2024.
Der Kanzler
A. Calot Escobar
Der Kammerpräsident
C. Lycourgos
( *1)Verfahrenssprache: Deutsch.
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