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EuGH 08.10.2020 - C-657/19
EuGH 08.10.2020 - C-657/19 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer) - 8. Oktober 2020 ( *1) - „Vorlage zur Vorabentscheidung – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Steuerbefreiungen – Art. 132 Abs. 1 Buchst. g – Eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen – Erstellung von Gutachten zur Pflegebedürftigkeit – Vom Medizinischen Dienst des Pflegeversicherers beauftragter Steuerpflichtiger – Als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen“
Leitsatz
In der Rechtssache C-657/19
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesfinanzhof (Deutschland) mit Entscheidung vom 10. April 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 4. September 2019, in dem Verfahren
Finanzamt D
gegen
E
erlässt
DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)
unter Mitwirkung der Präsidentin der Dritten Kammer A. Prechal (Berichterstatterin) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Achten Kammer, des Richters F. Biltgen und der Richterin L. S. Rossi,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
des Finanzamts D, vertreten durch P. Kröger als Bevollmächtigten,
der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und S. Eisenberg als Bevollmächtigte,
der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Mantl und L. Lozano Palacios als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Finanzamt D (im Folgenden: Finanzamt) und E über die Frage der Mehrwertsteuerbefreiung für von E erbrachte Dienstleistungen, die darin bestanden, als Subunternehmerin des Medizinischen Dienstes einer Pflegekasse Gutachten zur Pflegebedürftigkeit von Versicherten dieser Kasse zu erstellen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Art. 131 der Mehrwertsteuerrichtlinie, der zu deren Titel IX Kapitel 1 („Allgemeine Bestimmungen“) gehört, lautet:
„Die Steuerbefreiungen der Kapitel 2 bis 9 werden unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsvorschriften und unter den Bedingungen angewandt, die die Mitgliedstaaten zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung dieser Befreiungen und zur Verhinderung von Steuerhinterziehung, Steuerumgehung oder Missbrauch festlegen.“
Titel IX Kapitel 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie trägt die Überschrift „Steuerbefreiungen für bestimmte, dem Gemeinwohl dienende Tätigkeiten“. Dieses Kapitel umfasst die Art. 132 bis 134 dieser Richtlinie.
In Art. 132 Abs. 1 der Richtlinie heißt es:
„Die Mitgliedstaaten befreien folgende Umsätze von der Steuer:
…
Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin, die im Rahmen der Ausübung der von dem betreffenden Mitgliedstaat definierten ärztlichen und arztähnlichen Berufe durchgeführt werden;
…
eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen und Lieferungen von Gegenständen, einschließlich derjenigen, die durch Altenheime, Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder andere von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen bewirkt werden;
…“
Art. 134 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
„In folgenden Fällen sind Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen von der Steuerbefreiung des Artikel 132 Absatz 1 Buchstaben b, g, h, i, 1, m und n ausgeschlossen:
[S]ie sind für die Umsätze, für die die Steuerbefreiung gewährt wird, nicht unerlässlich;
…“
Deutsches Recht
§ 1 Abs. 1 Nr. 1 des Umsatzsteuergesetzes in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (BGBl. I 2008, S. 2794) (im Folgenden: UStG) bestimmt, dass die Lieferungen und sonstigen Leistungen, die ein Unternehmer im Inland gegen Entgelt im Rahmen seines Unternehmens ausführt, der Umsatzsteuer unterliegen.
Von den unter § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG fallenden Umsätzen sind gemäß § 4 UStG steuerfrei:
„…
14.
Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin, die im Rahmen der Ausübung der Tätigkeit als Arzt, Zahnarzt, Heilpraktiker, Physiotherapeut, Hebamme oder einer ähnlichen heilberuflichen Tätigkeit durchgeführt werden. …
Krankenhausbehandlungen und ärztliche Heilbehandlungen einschließlich der Diagnostik, Befunderhebung, Vorsorge, Rehabilitation, Geburtshilfe und Hospizleistungen sowie damit eng verbundene Umsätze, die von Einrichtungen des öffentlichen Rechts erbracht werden. …
15. die Umsätze der gesetzlichen Träger der Sozialversicherung …
untereinander,
an die Versicherten …
15a. die auf Gesetz beruhenden Leistungen der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung (§ 278 [des Fünften Buches Sozialgesetzbuch]) … untereinander und für die gesetzlichen Träger …
16. die mit dem Betrieb von Einrichtungen zur Betreuung oder Pflege körperlich, geistig oder seelisch hilfsbedürftiger Personen eng verbundenen Leistungen, die von
…
[ab dem 1. Juli 2013: Buchst. 1] Einrichtungen, bei denen im vorangegangenen Kalenderjahr die Betreuungs- oder Pflegekosten in mindestens 40 Prozent [ab dem 1. Juli 2013: mindestens 25 Prozent] der Fälle von den gesetzlichen Trägern der Sozialversicherung oder der Sozialhilfe … ganz oder zum überwiegenden Teil vergütet worden sind, erbracht werden. …“
§ 18 des Elften Buches Sozialgesetzbuch in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (BGBl. I 2012, S. 2246) (im Folgenden: SGB XI), sieht vor:
„(1) Die Pflegekassen beauftragen den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung oder andere unabhängige Gutachter mit der Prüfung, ob die Voraussetzungen der Pflegebedürftigkeit erfüllt sind und welche Stufe der Pflegebedürftigkeit vorliegt. Im Rahmen dieser Prüfungen haben der Medizinische Dienst oder die von der Pflegekasse beauftragten Gutachter durch eine Untersuchung des Antragstellers die Einschränkungen bei den Verrichtungen im Sinne des § 14 Abs. 4 festzustellen sowie Art, Umfang und voraussichtliche Dauer der Hilfebedürftigkeit und das Vorliegen einer erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz … zu ermitteln. Darüber hinaus sind auch Feststellungen darüber zu treffen, ob und in welchem Umfang Maßnahmen zur Beseitigung, Minderung oder Verhütung einer Verschlimmerung der Pflegebedürftigkeit einschließlich der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation geeignet, notwendig und zumutbar sind; insoweit haben Versicherte einen Anspruch gegen den zuständigen Träger auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation. …
…
(7) Die Aufgaben des Medizinischen Dienstes werden durch Ärzte in enger Zusammenarbeit mit Pflegefachkräften und anderen geeigneten Fachkräften wahrgenommen. …“
§ 53a SGB XI bestimmt:
„Der Spitzenverband Bund der Pflegekassen erlässt für den Bereich der sozialen Pflegeversicherung Richtlinien
1. über die Zusammenarbeit der Pflegekassen mit den Medizinischen Diensten,
2. zur Durchführung und Sicherstellung einer einheitlichen Begutachtung,
3. über die von den Medizinischen Diensten zu übermittelnden Berichte und Statistiken,
4. zur Qualitätssicherung der Beurteilung und Beratung …,
5. über Grundsätze zur Fort- und Weiterbildung.
Die Richtlinien bedürfen der Zustimmung des Bundesministeriums für Gesundheit. Sie sind für die Medizinischen Dienste verbindlich.“
Abschnitt B 1 der Richtlinien des Spitzenverbandes Bund der Pflegekassen (GKV-Spitzenverband) zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit (Begutachtungsrichtlinien – BRi) in der Fassung vom 8. Juni 2009 sieht u. a. vor, dass „Begutachtungen … durch geschulte und qualifizierte Gutachter durchzuführen [sind]“, zu denen „Ärzte, Pflegefachkräfte und andere Fachkräfte [zählen], die der Medizinische Dienst für die Bewältigung des laufenden Arbeitsanfalls vorhält“. Weiter heißt es in diesem Abschnitt B 1: „Der Medizinische Dienst kann zur Bewältigung von Antragsspitzen und zu speziellen gutachterlichen Fragestellungen Ärzte, Pflegefachkräfte oder andere geeignete Fachkräfte … als externe Kräfte beteiligen. … Sofern ausnahmsweise niedergelassene Ärzte oder Pflegefachkräfte von Sozialstationen, gewerblichen Pflegediensten sowie in der Pflege selbständig Tätige als externe Kräfte beauftragt werden, ist sicherzustellen, dass keine Interessenkollisionen entstehen.“
In Ziff. 2 der in den Richtlinien des GKV-Spitzenverbands zur Zusammenarbeit der Pflegekassen mit anderen unabhängigen Gutachtern (Unabhängige Gutachter-Richtlinien – UGu-RiLi) in der Fassung vom 6. Mai 2013 festgelegten Anforderungen an die Qualifikation der Gutachterinnen und Gutachter werden u. a. die „fachlichen Voraussetzungen“ bestimmt, die erforderlich sind, „um als Gutachterinnen und Gutachter im Sinne der ‚Richtlinien zum Verfahren der Feststellung der Pflegebedürftigkeit sowie zur pflegefachlichen Konkretisierung der Inhalte des Begutachtungsinstruments nach dem [SGB XI] (Begutachtungs-Richtlinien-BRi)‘ tätig zu sein“. Diese Voraussetzungen werden von approbierten Ärztinnen oder Ärzten erfüllt, die den in dieser Ziff. 2 näher dargelegten Anforderungen genügen.
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
Die Revisionsbeklagte des Ausgangsverfahrens ist ausgebildete Krankenschwester mit medizinischer Grundausbildung und akademischer Ausbildung im Bereich der Pflegewissenschaft sowie einer Weiterbildung in Qualitätsmanagement im Bereich der Pflege. Zu ihren beruflichen Tätigkeiten gehören auch steuerpflichtige Unterrichtsleistungen in Bezug auf Pflege.
In den Jahren 2012 bis 2014 erstellte die Revisionsbeklagte des Ausgangsverfahrens für den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Niedersachsen (Deutschland) (im Folgenden: MDK) Gutachten zur Pflegebedürftigkeit bestimmter Patienten zum Zweck der Ermittlung des Umfangs der Ansprüche dieser Patienten auf von der Pflegekasse finanzierte Pflegeleistungen. In diesem Zeitraum rechnete der MDK die erbrachten Leistungen ihr gegenüber monatlich ab, wobei er keine Umsatzsteuer auswies. Die Revisionsbeklagte des Ausgangsverfahrens erklärte diese Leistungen als umsatzsteuerfrei.
Nach einer Außenprüfung kam das Finanzamt zu der Auffassung, dass die Tätigkeit der Begutachtung der Pflegebedürftigkeit weder nach nationalem Recht noch nach Unionsrecht steuerfrei sei. Infolgedessen erhöhte es mit Bescheiden vom 3. Februar 2015 die von der Revisionsbeklagten des Ausgangsverfahrens erklärten Umsätze um die gegenüber dem MDK abgerechneten Nettobeträge und setzte die von ihr für die Jahre 2012 und 2013 geschuldete Umsatzsteuer sowie die Umsatzsteuervorauszahlungen für die ersten drei Quartale des Jahres 2014 fest.
Gegen diese Bescheide erhob die Revisionsbeklagte des Ausgangsverfahrens beim zuständigen erstinstanzlichen Gericht eine Klage, der dieses Gericht zum überwiegenden Teil stattgab. Gestützt auf Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie führte das Gericht aus, die Erstellung von Pflegegutachten sei als „eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Leistung“ im Sinne dieser Vorschrift umsatzsteuerfrei. In diesem Zusammenhang sei zu beachten, dass seit November 2012 für die Pflegekassen die gesetzlich vorgesehene Möglichkeit bestehe, unabhängige Gutachter mit der Begutachtung der Versicherten zu beauftragen, so dass sich die Revisionsbeklagte des Ausgangsverfahrens aufgrund ihrer Beauftragung durch den MDK auf diese Steuerbefreiung berufen könne.
Das Finanzamt legte beim vorlegenden Gericht Revision ein und machte geltend, dass die nationalen Steuerbefreiungsvorschriften, aus denen sich keine Steuerfreiheit der fraglichen Gutachterleistungen ergebe, unionsrechtskonform seien.
Das vorlegende Gericht stellt fest, nach nationalem Recht könne die Revisionsbeklagte des Ausgangsverfahrens für die betreffenden Gutachterleistungen keine Umsatzsteuerbefreiung genießen. Es sei jedoch nicht auszuschließen, dass sie sich unmittelbar auf die in Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehene Steuerbefreiung für eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Leistungen berufen könne.
Es sei allerdings nicht sicher, dass die Revisionsbeklagte des Ausgangsverfahrens diese Steuerbefreiung genießen könne. Hierfür müssten nämlich zwei Voraussetzungen erfüllt sein. Was zum einen die Voraussetzung anbelange, dass die betreffenden Dienstleistungen unerlässlich und eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbunden sein müssten, könne angenommen werden, dass diese Voraussetzung erfüllt sei, da Leistungen der Begutachtung der Pflegebedürftigkeit, wie sie von der Revisionsbeklagten des Ausgangsverfahrens erbracht würden, der betreffenden Pflegekasse die Möglichkeit gäben, die Pflegesituation ihrer Versicherten zu beurteilen, um deren Ansprüche auf Leistungen im Bereich der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit zu ermitteln.
Insoweit verbleibe jedoch ein Zweifel, da nach der Rechtsprechung des vorlegenden Gerichts, die auf das Urteil vom 12. März 2015, go fair Zeitarbeit (C-594/13, EU:C:2015:164), Bezug nehme, Dienstleistungen nicht als eng mit der Sozialfürsorge verbunden angesehen würden, wenn sie nicht unmittelbar an den Hilfsbedürftigen, sondern an eine Einrichtung erbracht würden, die sie benötige, um ihre eigenen steuerbefreiten Leistungen an den Hilfsbedürftigen zu erbringen.
Zudem habe der Gerichtshof im Urteil vom 20. November 2003, Unterpertinger (C-212/01, EU:C:2003:625), hinsichtlich eines Sachverhalts, der mit dem des Ausgangsverfahrens vergleichbar sei (Erstellung eines Gutachtens zum Gesundheitszustand einer Person im Hinblick auf die Gewährung einer Invaliditätspension), einen Anspruch auf Steuerbefreiung nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie nicht in Betracht gezogen.
Sollte festzustellen sein, dass Leistungen der Begutachtung der Pflegebedürftigkeit wie die von der Revisionsbeklagten des Ausgangsverfahrens erbrachten eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen darstellten, würde sich zum anderen die Frage stellen, ob der fragliche Dienstleister als eine von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtung eingestuft werden könne und somit die zweite in Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehene Voraussetzung erfülle.
In dieser Hinsicht sei erstens nicht auszuschließen, dass sich eine solche Anerkennung daraus ergeben könne, dass der betreffende Dienstleister seine Dienstleistungen als Subunternehmer im Auftrag einer nach nationalem Recht anerkannten Einrichtung – im vorliegenden Fall des MDK – erbracht habe, da der Begriff der nach nationalem Recht anerkannten Einrichtung auch natürliche Personen oder private Einrichtungen mit Gewinnerzielungsabsicht erfassen könne. Auch wenn es Sache der Mitgliedstaaten sei, Regeln bezüglich der Anerkennung solcher Einrichtungen aufzustellen, und sich die Anerkennung als Einrichtung mit sozialem Charakter nach der Rechtsprechung des vorlegenden Gerichts nicht auf Subunternehmer einer solchen Einrichtung erstrecke, könnte eine andere Schlussfolgerung deshalb geboten sein, weil mit den Richtlinien zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit Regelungen bestünden, die die Einbindung Dritter durch den MDK für die Durchführung der Begutachtungen regelten.
Falls die Subunternehmerstellung allein hierfür nicht ausreiche, sei zweitens zu klären, ob sich die Anerkennung als Einrichtung mit sozialem Charakter daraus ergeben könne, dass die für den Subunternehmer anfallenden Kosten von Einrichtungen der sozialen Sicherheit getragen würden; eine solche Kostenübernahme sei nämlich nach dem Unionsrecht insoweit ein maßgeblicher Gesichtspunkt. Im vorliegenden Fall würden diese Kosten allerdings von der betreffenden Kasse nur mittelbar und pauschal getragen, nämlich über den MDK, der den Subunternehmer vergüte. Nach der Rechtsprechung des vorlegenden Gerichts könne eine mittelbare Kostentragung durch Einrichtungen der sozialen Sicherheit zwar ausreichen, aber es verblieben Zweifel in dieser Hinsicht, da der deutsche Gesetzgeber bei der Umsetzung der Mehrwertsteuerrichtlinie in diesem Zusammenhang teilweise den Begriff „Vergütung“ gewählt habe, der möglicherweise eine bewusste und gewollte Kostenübernahme durch Einrichtungen der sozialen Sicherheit voraussetze.
Drittens möchte das vorlegende Gericht wissen, ob in dem Fall, dass die für den Subunternehmer anfallenden Kosten mittelbar von einer Einrichtung der sozialen Sicherheit getragen werden, die Anerkennung dieses Subunternehmers als Einrichtung mit sozialem Charakter davon abhängig gemacht werden kann, dass ein Vertrag mit einem Träger der Sozialfürsorge oder der sozialen Sicherheit tatsächlich abgeschlossen wurde, oder ob es hierfür ausreicht, dass nach nationalem Recht ein Vertrag abgeschlossen werden könnte. Insoweit sei darauf hinzuweisen, dass das nationale Recht seit dem 30. Oktober 2012 die Möglichkeit für die Pflegekassen vorsehe, unabhängige Gutachter damit zu beauftragen, anstelle des MDK die Pflegebedürftigkeit von Versicherten zu beurteilen. Diese unabhängigen Gutachter müssten den Qualifikationsanforderungen genügen, die in den von diesen Kassen erlassenen Richtlinien detailliert geregelt seien. Es könnte angenommen werden, dass in dieser Situation ein Vertrag bestehe, sofern dies unionsrechtlich zulässig sei.
Unter diesen Umständen hat der Bundesfinanzhof (Deutschland) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Liegt unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, in denen ein Steuerpflichtiger im Auftrag des MDK Gutachten zur Pflegebedürftigkeit von Patienten erstellt, eine Tätigkeit vor, die dem Anwendungsbereich des Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie unterfällt?
Falls die Frage 1 bejaht wird:
Reicht es für die Anerkennung eines Unternehmers als eine Einrichtung mit sozialem Charakter im Sinne des Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie aus, dass dieser als Subunternehmer im Auftrag einer Einrichtung, die nach nationalem Recht als soziale Einrichtung im Sinne des Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie anerkannt ist, Leistungen erbringt?
Falls die Frage 2a) verneint wird: Ist unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens die pauschale Übernahme der Kosten einer anerkannten Einrichtung im Sinne des Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie durch die Kranken- und Pflegekassen ausreichend dafür, dass auch ein Subunternehmer dieser Einrichtung als eine anerkannte Einrichtung zu beurteilen ist?
Falls die Fragen 2a) und 2b) verneint werden: Darf der Mitgliedstaat die Anerkennung als Einrichtung mit sozialem Charakter davon abhängig machen, dass der Steuerpflichtige einen Vertrag mit einem Träger der sozialen Sicherheit oder Sozialfürsorge tatsächlich abgeschlossen hat, oder reicht es für eine Anerkennung aus, dass nach nationalem Recht ein Vertrag abgeschlossen werden könnte?
Zu den Vorlagefragen
Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass
die durch einen unabhängigen Gutachter im Auftrag des Medizinischen Dienstes einer Pflegekasse erfolgende Erstellung von Gutachten zur Pflegebedürftigkeit, die von dieser Pflegekasse zur Ermittlung des Umfangs etwaiger Ansprüche ihrer Versicherten auf Leistungen der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verwendet werden, eine eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistung darstellt;
diese Vorschrift dem entgegensteht, dass diesem Gutachter die Anerkennung als Einrichtung mit sozialem Charakter verwehrt wird, auch wenn er erstens seine in der Erstellung von Gutachten zur Pflegebedürftigkeit bestehenden Leistungen als Subunternehmer im Auftrag des genannten Medizinischen Dienstes erbringt, der als eine solche Einrichtung anerkannt worden ist, zweitens die Kosten der Erstellung dieser Gutachten indirekt und pauschal von der betreffenden Pflegekasse getragen werden und drittens der genannte Gutachter nach innerstaatlichem Recht die Möglichkeit hat, unmittelbar mit dieser Kasse einen Vertrag über die Erstellung der Gutachten zu schließen, um in den Genuss dieser Anerkennung zu gelangen, von dieser Möglichkeit aber keinen Gebrauch gemacht hat.
Nach ständiger Rechtsprechung sind die Begriffe, mit denen die in Art. 132 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Steuerbefreiungen umschrieben sind, eng auszulegen. Die Auslegung dieser Begriffe muss jedoch mit den Zielen im Einklang stehen, die mit den Befreiungen verfolgt werden, und den Erfordernissen des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität entsprechen, auf dem das gemeinsame Mehrwertsteuersystem beruht. Diese Regel einer engen Auslegung bedeutet also nicht, dass die zur Definition der Steuerbefreiungen im Sinne von Art. 132 verwendeten Begriffe in einer Weise auszulegen sind, die den Befreiungen ihre Wirkung nähme (Urteil vom 15. November 2012, Zimmermann, C-174/11, EU:C:2012:716, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Was den Zweck angeht, der mit der in Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Steuerbefreiung verfolgt wird, so zielt diese Befreiung dadurch, dass sie für bestimmte im sozialen Sektor erbrachte Leistungen, die dem Gemeinwohl dienen, eine günstigere Mehrwertsteuerbehandlung gewährt, darauf ab, die Kosten dieser Leistungen zu senken und dadurch diese Leistungen dem Einzelnen, der sie in Anspruch nehmen könnte, zugänglicher zu machen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Januar 2016, Les Jardins de Jouvence, C-335/14, EU:C:2016:36, Rn. 41).
Wie sich aus dem Wortlaut dieser Vorschrift ergibt, gilt die darin vorgesehene Steuerbefreiung für „eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene“ Dienstleistungen und Lieferungen von Gegenständen „durch … Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder andere von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen“ (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. November 2012, Zimmermann, C-174/11, EU:C:2012:716, Rn. 21).
Was als Erstes die Voraussetzung anbelangt, dass die Dienstleistungen eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbunden sein müssen, so ist diese Voraussetzung im Licht von Art. 134 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie zu betrachten, wonach die betreffenden Lieferungen von Gegenständen bzw. Dienstleistungen jedenfalls für die der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit unterfallenden Umsätze unerlässlich sein müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Februar 2006, Stichting Kinderopvang Enschede, C-415/04, EU:C:2006:95, Rn. 24 und 25).
Im vorliegenden Fall weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Dienstleistungen, die in der Erstellung von Gutachten zur Pflegebedürftigkeit bestünden, diese Voraussetzung grundsätzlich erfüllten, da nach seinen Feststellungen – denen die in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union genannten Beteiligten, die Erklärungen abgegeben haben, im Wesentlichen beipflichten – diese Gutachten, die von einem gebührend ausgebildeten Sachverständigen erstellt würden, notwendig seien, damit die betreffende Pflegekasse die ihr im Bereich der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit obliegenden Aufgaben ordnungsgemäß erfüllen könne, zu denen namentlich die Finanzierung von Pflegeleistungen zugunsten ihrer Versicherten zähle.
Es verblieben jedoch Zweifel, da sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs möglicherweise ergebe, dass Dienstleistungen selbst dann, wenn sie für die ordnungsgemäße Durchführung von Leistungen der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit erforderlich seien, dennoch nicht als eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbunden gälten, wenn sie nicht unmittelbar an den Hilfsbedürftigen, sondern an einen anderen Steuerpflichtigen erbracht würden, der sie benötige, um seine eigenen steuerbefreiten Leistungen zu erbringen.
Hierzu ist erstens festzustellen, dass zwar, wie aus der Erwähnung der durch Altenheime erbrachten Dienstleistungen in Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie hervorgeht, die in dieser Vorschrift vorgesehene Steuerbefreiung u. a. für Unterstützungs- und Versorgungsleistungen gilt, die unmittelbar den von den betreffenden Maßnahmen der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit erfassten Personen zugutekommen, aber weder der Wortlaut dieser Vorschrift noch ihr Zweck Anhaltspunkte dafür geben, dass von dieser Steuerbefreiung solche Dienstleistungen ausgeschlossen wären, die, ohne unmittelbar an die genannten Personen erbracht zu werden, gleichwohl für die Umsätze im Bereich der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit unerlässlich sind. Letzteres kann bei Dienstleistungen wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden der Fall sein, die es der für die Bewirkung dieser Umsätze zuständigen Einheit ermöglichen, zu ermitteln, ob die Betroffenen Anspruch auf Leistungen der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit haben, und sachgerechte Entscheidungen in diesem Bereich zu treffen.
Zum einen ergibt sich nämlich aus dem Wortlaut von Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie, dass diese Vorschrift keinerlei Bedingung hinsichtlich des Empfängers der steuerbefreiten Umsätze enthält, sondern auf das Wesen dieser Umsätze und die Eigenschaft des Wirtschaftsteilnehmers abstellt, der die fraglichen Dienstleistungen erbringt bzw. die fraglichen Gegenstände liefert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Januar 2016, Les Jardins de Jouvence, C-335/14, EU:C:2016:36, Rn. 46).
Zum anderen spricht, wie die deutsche Regierung hervorgehoben hat, der Zweck der in Rede stehenden Steuerbefreiung, nämlich die Kosten der von der genannten Vorschrift erfassten Umsätze zu senken, für die Auslegung, dass die Mehrwertsteuerbefreiung von Dienstleistungen wie denen, um die es im Ausgangsverfahren geht, nicht davon abhängt, an wen sie erbracht werden, sofern sie einen für die Durchführung der Maßnahmen der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit unerlässlichen Schritt darstellen und ihre Belastung mit der Mehrwertsteuer daher zwangsläufig dazu führen würde, die Kosten der genannten Umsätze zu erhöhen.
Folglich müssen Dienstleistungen, die die Erstellung von Gutachten zur Pflegebedürftigkeit betreffen, nicht unbedingt unmittelbar an die pflegebedürftigen Personen erbracht werden, um als eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbunden angesehen werden zu können (vgl. entsprechend Urteil vom 14. Juni 2007, Horizon College, C-434/05, EU:C:2007:343, Rn. 31 und 32).
Zweitens ist es in diesem Zusammenhang unerheblich, dass die fraglichen Dienstleistungen von der Revisionsbeklagten des Ausgangsverfahrens als Subunternehmerin an einen anderen Steuerpflichtigen, hier den MDK, erbracht werden, der sie benötigt, um seine eigenen steuerbefreiten Leistungen für die betreffende Pflegekasse zu erbringen.
Insoweit hat der Gerichtshof zwar in Rn. 28 des Urteils vom 12. März 2015, go fair Zeitarbeit (C-594/13, EU:C:2015:164), zu der in Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Steuerbefreiung festgestellt, dass Dienstleistungen, die die Gestellung von Arbeitnehmern an einen anderen Steuerpflichtigen betreffen, als solche keine im sozialen Bereich erbrachten Gemeinwohldienstleistungen darstellen. Daraus folgt aber nicht, dass andere, die Erstellung von Gutachten zur Pflegebedürftigkeit betreffende Dienstleistungen, für die feststeht, dass sie als solche unerlässlich sind, um der betreffenden Pflegekasse die vollständige Erfüllung ihrer sozialen Aufgaben zu ermöglichen, nur deshalb nicht eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbunden sind, weil sie in Subunternehmerstellung an den MDK erbracht werden.
Des Weiteren hat der Gerichtshof zwar in Rn. 43 des Urteils vom 20. November 2003, Unterpertinger (C-212/01, EU:C:2003:625), im Zusammenhang mit Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. 1977, L 145, S. 1), dessen Wortlaut in Art. 132 Abs. 1 Buchst. c der Mehrwertsteuerrichtlinie ohne wesentliche Änderung übernommen wurde, festgestellt, dass eine Leistung, die in der Erstellung eines ärztlichen Gutachtens besteht und die im Gutachtenauftrag gestellten Fragen beantworten soll, aber mit dem Ziel erbracht wird, einem Dritten den Erlass einer Entscheidung zu ermöglichen, die gegenüber dem Betroffenen oder anderen Personen Rechtswirkungen erzeugt, nicht als „Heilbehandlung im Bereich der Humanmedizin“ von der Mehrwertsteuer befreit ist, da der Hauptzweck einer solchen Leistung nicht etwa in dem Schutz – einschließlich der Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung – der Gesundheit der Person besteht, über die das Gutachten erstellt wird, sondern darin, eine gesetzlich oder vertraglich vorgesehene Bedingung für die Entscheidungsfindung bezüglich der Gewährung einer Invaliditätspension zu erfüllen.
Wie die Europäische Kommission ausgeführt hat, folgt daraus jedoch nicht, dass die Erstellung von Gutachten zur Pflegebedürftigkeit einer Person, wie sie im Ausgangsverfahren in Rede stehen, für die Umsätze der betreffenden Kasse im Bereich der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit nicht unerlässlich und nicht eng damit verbunden wäre.
Was als Zweites die Voraussetzung anbelangt, dass die Dienstleistungen, um steuerfrei sein zu können, durch Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder andere von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen bewirkt werden müssen, geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass die Revisionsbeklagte des Ausgangsverfahrens nicht unter den Begriff der Einrichtung des öffentlichen Rechts fällt, so dass sie die fragliche Steuerbefreiung nur dann genießen kann, wenn sie unter den Begriff „andere von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen“ im Sinne von Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie fällt.
Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie legt weder die Voraussetzungen noch die Modalitäten einer Anerkennung des sozialen Charakters von anderen Einrichtungen als solchen des öffentlichen Rechts fest. Es ist daher grundsätzlich Sache des innerstaatlichen Rechts jedes Mitgliedstaats, die Regeln aufzustellen, nach denen diesen Einrichtungen eine solche Anerkennung gewährt werden kann, wobei die Mitgliedstaaten über ein Ermessen verfügen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Januar 2016, Les Jardins de Jouvence, C-335/14, EU:C:2016:36, Rn. 32 und 34).
Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich hierzu, dass die nationalen Behörden bei der Anerkennung des sozialen Charakters von Einrichtungen, die keine Einrichtungen des öffentlichen Rechts sind, im Einklang mit dem Unionsrecht und unter der Kontrolle der nationalen Gerichte mehrere Gesichtspunkte zu berücksichtigen haben. Zu ihnen können das Bestehen spezifischer Vorschriften – seien es nationale oder regionale, Rechts- oder Verwaltungsvorschriften, Steuervorschriften oder Vorschriften im Bereich der sozialen Sicherheit –, das mit den Tätigkeiten des betreffenden Steuerpflichtigen verbundene Gemeinwohlinteresse, die Tatsache, dass andere Steuerpflichtige mit den gleichen Tätigkeiten bereits in den Genuss einer ähnlichen Anerkennung kommen, und der Gesichtspunkt zählen, dass die Kosten der fraglichen Leistungen unter Umständen zum großen Teil von Krankenkassen oder anderen Einrichtungen der sozialen Sicherheit übernommen werden, insbesondere, wenn die privaten Wirtschaftsteilnehmer vertragliche Beziehungen zu diesen Einrichtungen unterhalten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. September 2002, Kügler, C-141/00, EU:C:2002:473, Rn. 58, und vom 21. Januar 2016, Les Jardins de Jouvence, C-335/14, EU:C:2016:36, Rn. 35).
Nur wenn der Mitgliedstaat die Grenzen seines Ermessens nicht eingehalten hat, kann sich ein Steuerpflichtiger auf die in Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehene Steuerbefreiung berufen, um sich einer nationalen Regelung zu widersetzen, die mit dieser Bestimmung unvereinbar ist. In einem solchen Fall ist es Sache des nationalen Gerichts, anhand aller maßgeblichen Umstände zu bestimmen, ob der Steuerpflichtige eine als Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtung im Sinne dieser Bestimmung ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. November 2012, Zimmermann, C-174/11, EU:C:2012:716, Rn. 28 und 32).
Im vorliegenden Fall hat die Revisionsbeklagte des Ausgangsverfahrens ihre Dienstleistungen zwar als Subunternehmerin des MDK erbracht, der nach deutschem Recht als Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannt ist, doch ist sie selbst nicht in diese Anerkennung einbezogen worden. Nach den Erläuterungen, die insbesondere das Finanzamt und die deutsche Regierung vorgebracht haben, können unabhängige Gutachter zwar unter den in § 4 Nr. 16 Buchst. k (ab dem 1. Juli 2013: Buchst. l) UStG genannten Voraussetzungen als Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannt werden, wenn sie unmittelbar mit der Pflegekasse einen Vertrag über die Erbringung der betreffenden Leistungen schließen, wobei der unmittelbare Abschluss eines solchen Vertrags es der Pflegekasse ermögliche, die fachliche Qualifikation der Gutachter selbst zu prüfen und somit die Qualität der erbrachten Dienstleistungen zu gewährleisten. Indessen wird in diesen Erläuterungen weiter ausgeführt, die Revisionsbeklagte des Ausgangsverfahrens habe keinen solchen Vertrag abgeschlossen, so dass sie sich nicht auf eine derartige Anerkennung nach deutschem Recht berufen könne.
In Anbetracht dessen möchte das vorlegende Gericht im Hinblick auf die von ihm in seiner zweiten Frage angeführten Gesichtspunkte wissen, ob die Bundesrepublik Deutschland die Grenzen ihres Ermessens überschritten hat, indem sie nicht vorgesehen hat, dass ein unabhängiger Gutachter, der sich in einer Situation wie derjenigen der Revisionsbeklagten des Ausgangsverfahrens befindet, als Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannt werden kann.
Es ist zwar Sache des vorlegenden Gerichts, diese Frage unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Umstände zu prüfen, doch sind ihm folgende Klarstellungen an die Hand zu geben.
Erstens genügt der Umstand, dass das Tätigwerden unabhängiger Gutachter bei der Beurteilung der Pflegebedürftigkeit der Versicherten einer Pflegekasse in Abschnitt B 1 der in Rn. 11 des vorliegenden Urteils angeführten Richtlinien vorgesehen ist, als solcher nicht, um den sozialen Charakter der betreffenden Gutachter festzustellen, da das Bestehen spezifischer Vorschriften über die von diesen Gutachtern erbrachten Dienstleistungen nur ein Gesichtspunkt unter anderen ist, die bei der Prüfung des sozialen Charakters zu berücksichtigen sind (vgl. entsprechend Urteil vom 21. Januar 2016, Les Jardins de Jouvence, C-335/14, EU:C:2016:36, Rn. 39). Dies gilt im vorliegenden Fall umso mehr, als aus diesen Richtlinien hervorzugehen scheint, dass die Möglichkeit, unabhängige Gutachter heranzuziehen, nur „ausnahmsweise“ besteht, insbesondere zur Bewältigung von „Antragsspitzen“.
Ließe man die Anerkennung als Einrichtung mit sozialem Charakter allein daraus folgen, dass der betreffende Steuerpflichtige von einem anderen, bereits als solche Einrichtung anerkannten Steuerpflichtigen beauftragt wurde, liefe dies im Übrigen im Ergebnis darauf hinaus, Letzteren zur Ausübung des dem Mitgliedstaat eingeräumten Ermessens zu ermächtigen, und schüfe das Risiko, wie die deutsche Regierung im Wesentlichen ausgeführt hat, eine Umgehung der im nationalen Recht aufgestellten Anerkennungskriterien zu ermöglichen.
Zweitens stellt die Tatsache, dass die Kosten der betreffenden Leistungen zu einem großen Teil von einer Einrichtung der sozialen Sicherheit wie der Pflegekasse getragen werden, zwar einen Gesichtspunkt dar, der bei der Prüfung, ob der betreffende Steuerpflichtige eine Einrichtung mit sozialem Charakter ist, zu berücksichtigen ist, doch ist dieser Gesichtspunkt weniger bedeutend, wenn die Übernahme dieser Kosten durch die Pflegekasse wie im vorliegenden Fall nur indirekt über den MDK erfolgt, ohne auf einer expliziten Entscheidung der Kasse zu beruhen oder aus einem zwischen ihr und dem betreffenden Steuerpflichtigen geschlossenen Vertrag über die Erbringung der betreffenden Leistungen hervorzugehen. Insoweit kann es nicht ausreichen, dass ein Vertragsschluss lediglich möglich ist, ohne dass diese Möglichkeit genutzt worden wäre.
Drittens geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten nicht hervor, dass andere dem Privatrecht unterliegende Steuerpflichtige, die die gleichen Tätigkeiten wie die Revisionsbeklagte des Ausgangsverfahrens ausüben, unter ähnlichen wie den ihre Situation kennzeichnenden Umständen in den Genuss der Anerkennung als Einrichtung mit sozialem Charakter kämen. Vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht scheint die Versagung einer solchen Anerkennung im vorliegenden Fall daher nicht gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität zu verstoßen.
Die vom vorlegenden Gericht festgestellten Umstände vermögen daher in Bezug auf das Ausgangsverfahren nicht zu belegen, dass die Bundesrepublik Deutschland die Grenzen des Ermessens überschritten hat, das ihr hinsichtlich dieser Anerkennung gemäß Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie zusteht.
Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass
die durch einen unabhängigen Gutachter im Auftrag des Medizinischen Dienstes einer Pflegekasse erfolgende Erstellung von Gutachten zur Pflegebedürftigkeit, die von dieser Pflegekasse zur Ermittlung des Umfangs etwaiger Ansprüche ihrer Versicherten auf Leistungen der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verwendet werden, eine eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistung darstellt, soweit sie für die sachgerechte Bewirkung der Umsätze in diesem Bereich unerlässlich ist;
diese Vorschrift dem nicht entgegensteht, dass diesem Gutachter die Anerkennung als Einrichtung mit sozialem Charakter verwehrt wird, auch wenn er erstens seine in der Erstellung von Gutachten zur Pflegebedürftigkeit bestehenden Leistungen als Subunternehmer im Auftrag des genannten Medizinischen Dienstes erbringt, der als eine solche Einrichtung anerkannt worden ist, zweitens die Kosten der Erstellung dieser Gutachten indirekt und pauschal von der betreffenden Pflegekasse getragen werden und drittens der genannte Gutachter nach innerstaatlichem Recht die Möglichkeit hat, unmittelbar mit dieser Kasse einen Vertrag über die Erstellung der Gutachten zu schließen, um in den Genuss dieser Anerkennung zu gelangen, von dieser Möglichkeit aber keinen Gebrauch gemacht hat.
Kosten
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass
die durch einen unabhängigen Gutachter im Auftrag des Medizinischen Dienstes einer Pflegekasse erfolgende Erstellung von Gutachten zur Pflegebedürftigkeit, die von dieser Pflegekasse zur Ermittlung des Umfangs etwaiger Ansprüche ihrer Versicherten auf Leistungen der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verwendet werden, eine eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistung darstellt, soweit sie für die sachgerechte Bewirkung der Umsätze in diesem Bereich unerlässlich ist;
diese Vorschrift dem nicht entgegensteht, dass diesem Gutachter die Anerkennung als Einrichtung mit sozialem Charakter verwehrt wird, auch wenn er erstens seine in der Erstellung von Gutachten zur Pflegebedürftigkeit bestehenden Leistungen als Subunternehmer im Auftrag des genannten Medizinischen Dienstes erbringt, der als eine solche Einrichtung anerkannt worden ist, zweitens die Kosten der Erstellung dieser Gutachten indirekt und pauschal von der betreffenden Pflegekasse getragen werden und drittens der genannte Gutachter nach innerstaatlichem Recht die Möglichkeit hat, unmittelbar mit dieser Kasse einen Vertrag über die Erstellung der Gutachten zu schließen, um in den Genuss dieser Anerkennung zu gelangen, von dieser Möglichkeit aber keinen Gebrauch gemacht hat.
Prechal
Biltgen
Rossi
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 8. Oktober 2020.
Der Kanzler
A. Calot Escobar
In Wahrnehmung der Aufgaben des
Präsidenten der Achten Kammer
A. Prechal
( *1)Verfahrenssprache: Deutsch.
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