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EuGH 28.02.2013 - C-425/11
EuGH 28.02.2013 - C-425/11 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer) - 28. Februar 2013 ( *1) - „Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit — Gleichbehandlung — Selbständige Grenzgänger — Staatsangehörige eines Mitgliedstaats der Union — Erzielung von Einkünften aus Erwerbstätigkeit in diesem Mitgliedstaat — Verlegung des Wohnsitzes in die Schweiz — Versagung einer steuerlichen Vergünstigung in diesem Mitgliedstaat wegen Verlegung des Wohnsitzes“
Leitsatz
In der Rechtssache C-425/11
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 267 AEUV, eingereicht vom Finanzgericht Baden-Württemberg (Deutschland) mit Entscheidung vom 7. Juli 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 16. August 2011, in dem Verfahren
Katja Ettwein
gegen
Finanzamt Konstanz
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung der Richterin R. Silva de Lapuerta in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Dritten Kammer sowie der Richter K. Lenaerts, E. Juhász (Berichterstatter), T. von Danwitz und D. Šváby,
Generalanwalt: N. Jääskinen,
Kanzler: V. Tourrès, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 4. Juli 2012,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
von Frau Ettwein, vertreten durch T. Picker, Steuerberater,
des Finanzamts Konstanz, vertreten durch N. Rogall als Bevollmächtigte,
der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze, A. Wiedmann und K. Petersen als Bevollmächtigte,
der spanischen Regierung, vertreten durch A. Rubio González als Bevollmächtigten,
der Europäischen Kommission, vertreten durch W. Mölls und T. Scharf als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 18. Oktober 2012
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der einschlägigen Bestimmungen des zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits geschlossenen Abkommens über die Freizügigkeit, unterzeichnet in Luxemburg am 21. Juni 1999 (ABl. 2002, L 114, S. 6, im Folgenden: Abkommen oder auch: Abkommen EG–Schweiz).
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Ettwein, einer deutschen Staatsangehörigen, und dem Finanzamt Konstanz wegen dessen Weigerung, ihr und ihrem Ehemann, der ebenfalls die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt (im Folgenden: Eheleute Ettwein), eine im deutschen Recht im Fall der Zusammenveranlagung von Eheleuten vorgesehene steuerliche Vergünstigung zu gewähren, weil sie ihren Wohnsitz in die Schweiz verlegt haben.
Rechtlicher Rahmen
Das Abkommen
Nach dem Wortlaut des zweiten Satzes der Präambel des Abkommens sind die Vertragsparteien „entschlossen, [die] Freizügigkeit zwischen ihnen auf der Grundlage der in der Europäischen Gemeinschaft geltenden Bestimmungen zu verwirklichen“.
Das Ziel des Abkommens besteht nach seinem Art. 1 Buchst. a und d insbesondere darin, zugunsten der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft und der Schweizerischen Eidgenossenschaft die Einräumung eines Rechts auf Einreise, Aufenthalt, Zugang zu einer unselbständigen Erwerbstätigkeit und Niederlassung als Selbständiger sowie des Rechts auf Verbleib im Hoheitsgebiet der Vertragsparteien und die Einräumung der gleichen Lebens-, Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen wie für Inländer zu gewährleisten.
Art. 2 („Nichtdiskriminierung“) bestimmt:
„Die Staatsangehörigen einer Vertragspartei, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei aufhalten, werden bei der Anwendung dieses Abkommens gemäß den Anhängen I, II und III nicht aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit diskriminiert.“
Art. 4 („Recht auf Aufenthalt und Zugang zu einer Erwerbstätigkeit“) lautet:
„Das Recht auf Aufenthalt und Zugang zu einer Erwerbstätigkeit wird … nach Maßgabe des Anhangs I eingeräumt.“
Art. 11 („Behandlung von Beschwerden“) sieht in Abs. 1 vor:
„Die unter dieses Abkommen fallenden Personen haben das Recht, hinsichtlich der Anwendung der Bestimmungen dieses Abkommens bei den zuständigen Behörden Beschwerde einzulegen.“
Art. 16 („Bezugnahme auf das Gemeinschaftsrecht“) lautet:
„1. Zur Erreichung der Ziele dieses Abkommens treffen die Vertragsparteien alle erforderlichen Maßnahmen, damit in ihren Beziehungen gleichwertige Rechte und Pflichten wie in den Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaft, auf die Bezug genommen wird, Anwendung finden.
2. Soweit für die Anwendung dieses Abkommens Begriffe des Gemeinschaftsrechts herangezogen werden, wird hierfür die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vor dem Zeitpunkt der Unterzeichnung berücksichtigt. Über die Rechtsprechung nach dem Zeitpunkt der Unterzeichnung dieses Abkommens wird die Schweiz unterrichtet. Um das ordnungsgemäße Funktionieren dieses Abkommens sicherzustellen, stellt der Gemischte Ausschuss auf Antrag einer Vertragspartei die Auswirkungen dieser Rechtsprechung fest.“
Art. 21 („Beziehung zu den bilateralen Doppelbesteuerungsabkommen“) bestimmt in Abs. 2:
„Keine Bestimmung dieses Abkommens ist so auszulegen, dass sie die Vertragsparteien daran hindert, bei der Anwendung ihrer Steuervorschriften eine Unterscheidung zwischen Steuerpflichtigen zu machen, die sich – insbesondere hinsichtlich ihres Wohnsitzes – nicht in vergleichbaren Situationen befinden.“
Anhang I des Abkommens ist der Freizügigkeit gewidmet, und sein Kapitel II enthält die Bestimmungen über die Arbeitnehmer. Art. 9 („Gleichbehandlung“) dieses Kapitels sieht vor:
„1. Ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger einer Vertragspartei ist, darf aufgrund seiner Staatsangehörigkeit im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei hinsichtlich der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, insbesondere im Hinblick auf Entlohnung, Kündigung und, falls er arbeitslos geworden ist, im Hinblick auf berufliche Wiedereingliederung oder Wiedereinstellung nicht anders behandelt werden als die inländischen Arbeitnehmer.
2. Ein Arbeitnehmer und seine in Artikel 3 dieses Anhangs genannten Familienangehörigen genießen dort die gleichen steuerlichen und sozialen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen.
…“
Kapitel III des Anhangs I betrifft „Selbständige“.
Art. 12 („Aufenthaltsregelung“) dieses Kapitels III bestimmt in Abs. 1:
„Ein Staatsangehöriger einer Vertragspartei, der sich zwecks Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei niederlassen will (im Folgenden ‚Selbständiger‘ genannt), erhält eine Aufenthaltserlaubnis mit einer Gültigkeitsdauer von mindestens fünf Jahren, gerechnet ab dem Zeitpunkt der Erteilung, sofern er den zuständigen nationalen Behörden nachweist, dass er zu diesem Zweck niedergelassen ist oder sich niederlassen will.“
Art. 13 („Selbständige Grenzgänger“) dieses Kapitels bestimmt:
„1. Ein selbständiger Grenzgänger ist ein Staatsangehöriger einer Vertragspartei mit Wohnsitz im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei, der eine selbständige Erwerbstätigkeit im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei ausübt und in der Regel täglich oder mindestens einmal in der Woche an seinen Wohnort zurückkehrt.
2. Die selbständigen Grenzgänger benötigen keine Aufenthaltserlaubnis.
…“
Art. 15 („Gleichbehandlung“) dieses Kapitels sieht vor:
„1. Dem Selbständigen wird im Aufnahmestaat hinsichtlich des Zugangs zu einer selbständigen Erwerbstätigkeit und deren Ausübung eine Behandlung gewährt, die nicht weniger günstig ist als die den eigenen Staatsangehörigen gewährte Behandlung.
2. Artikel 9 dieses Anhangs gilt sinngemäß für die in diesem Kapitel genannten Selbständigen.“
Kapitel V des Anhangs I ist den „Personen, die keine Erwerbstätigkeit ausüben“, gewidmet. Art. 24 („Aufenthaltsregelung“) dieses Kapitels bestimmt in Abs. 1:
„Eine Person, die die Staatsangehörigkeit einer Vertragspartei besitzt und keine Erwerbstätigkeit im Aufenthaltsstaat ausübt und dort kein Aufenthaltsrecht aufgrund anderer Bestimmungen dieses Abkommens hat, erhält eine Aufenthaltserlaubnis mit einer Gültigkeitsdauer von mindestens fünf Jahren, sofern sie den zuständigen nationalen Behörden den Nachweis dafür erbringt, dass sie für sich selbst und ihre Familienangehörigen über
ausreichende finanzielle Mittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfe in Anspruch nehmen müssen;
einen Krankenversicherungsschutz verfügt, der sämtliche Risiken abdeckt.
…“
Die deutsche Regelung
Die einschlägigen Bestimmungen sind die des Einkommensteuergesetzes (im Folgenden: EStG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 19. Oktober 2002 (BGBl. I S. 4212) mit den Änderungen vom 20. Dezember 2007 (BGBl. 2007 I S. 3150).
§ 1 EStG bestimmt:
„(1) Natürliche Personen, die im Inland einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, sind unbeschränkt einkommensteuerpflichtig. …
…
(3) Auf Antrag werden auch natürliche Personen als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt, die im Inland weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, soweit sie inländische Einkünfte im Sinne des § 49 haben. Dies gilt nur, wenn ihre Einkünfte im Kalenderjahr mindestens zu 90 vom Hundert der deutschen Einkommensteuer unterliegen …
…“
In § 1a Abs. 1 EStG heißt es:
„Für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats der Europäischen Union oder eines Staates, auf den das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum [im Folgenden: EWR-Abkommen] anwendbar ist, … die nach § 1 Abs. 3 als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig zu behandeln sind, gilt bei Anwendung von … § 26 Abs. 1 Satz 1 Folgendes:
1. … Voraussetzung ist, dass der Empfänger seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats der Europäischen Union oder eines Staates hat, auf den das [EWR-Abkommen] Anwendung findet.
…
2. der nicht dauernd getrennt lebende Ehegatte ohne Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland wird auf Antrag für die Anwendung des § 26 Abs. 1 Satz 1 als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt. Nummer 1 Satz 2 gilt entsprechend. Bei Anwendung des § 1 Abs. 3 Satz 2 ist auf die Einkünfte beider Ehegatten abzustellen und der Grundfreibetrag … zu verdoppeln.“
§ 26 Abs. 1 EStG gewährt nicht dauernd getrennt lebenden Ehegatten, die beide unbeschränkt einkommensteuerpflichtig sind oder als solche zu behandeln sind, ein Wahlrecht zwischen der getrennten Veranlagung gemäß § 26a und einer Zusammenveranlagung gemäß § 26b.
§ 26b EStG („Zusammenveranlagung von Ehegatten“) bestimmt:
„Bei der Zusammenveranlagung von Ehegatten werden die Einkünfte, die die Ehegatten erzielt haben, zusammengerechnet, den Ehegatten gemeinsam zugerechnet und, soweit nichts anderes vorgeschrieben ist, die Ehegatten sodann gemeinsam als Steuerpflichtiger behandelt.“
§ 32a EStG („Einkommensteuertarif“) sieht in Abs. 5 vor:
„Bei Ehegatten, die nach den §§ 26, 26b zusammen zur Einkommensteuer veranlagt werden, beträgt die tarifliche Einkommensteuer … das Zweifache des Steuerbetrags, der sich für die Hälfte ihres gemeinsam zu versteuernden Einkommens nach Abs. 1 ergibt (Splitting-Verfahren).“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
Die Eheleute Ettwein sind beide selbständig erwerbstätig, die Klägerin des Ausgangsverfahrens als Unternehmensberaterin und ihr Ehemann als Kunstmaler. Sie erzielen beide ihre gesamten Einkünfte in Deutschland. Am 1. August 2007 verlegten die Eheleute Ettwein ihren Wohnsitz, der sich bis dahin in Lindau (Deutschland) befunden hatte, in die Schweiz. Sie übten jedoch weiterhin ihre Erwerbstätigkeit in Deutschland aus und erzielten dort weiter nahezu ihre gesamten Einkünfte.
Im Hinblick auf die einkommensteuerliche Veranlagung für das Jahr 2008 wählten die Eheleute Ettwein wie für die vorangegangenen steuerlichen Veranlagungen die Zusammenveranlagung unter Anwendung des Splitting-Verfahrens, wobei sie darauf hinwiesen, dass sie in der Schweiz kein steuerbares Einkommen erzielt hätten.
In einem ersten Steuerbescheid war das Finanzamt Konstanz ihrem Antrag gefolgt. Am 1. Dezember 2009 hob es jedoch diesen Bescheid mit der Begründung auf, dass die begünstigende Regelung des Splittings, die wegen der persönlichen und familienbezogenen Umstände von Eheleuten gewährt werde, bei den Eheleuten Ettwein nicht zur Anwendung kommen dürfe, da sich ihr Wohnsitz weder im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats der Europäischen Union noch im Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats des EWR-Abkommens befinde. Deshalb veranlagte das Finanzamt die Eheleute mit Steuerbescheiden vom 22. März 2010 einzeln zur Einkommensteuer. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens erhob, da der Einspruch gegen den gegen sie ergangenen Bescheid erfolglos blieb, beim Finanzgericht Baden-Württemberg eine Aufhebungsklage.
Das Finanzgericht sieht die Klägerin des Ausgangsverfahrens und ihren Ehegatten als „selbständige Grenzgänger“ im Sinne von Art. 13 Abs. 1 des Anhangs I des Abkommens an, da sie deutsche Staatsangehörige mit Wohnsitz in der Schweiz seien, im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübten und täglich von ihrem Tätigkeitsort an ihren Wohnort zurückkehrten. Nach Art. 9 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 15 Abs. 2 des Anhangs I des Abkommens genössen selbständige Grenzgänger im Hoheitsgebiet ihres Tätigkeitsstaats die gleichen steuerlichen und sozialen Vergünstigungen wie inländische Personen, die einer selbständigen Erwerbstätigkeit nachgingen. Das vorlegende Gericht neigt der Ansicht zu, dass es gegen diese Bestimmungen des Abkommens verstoße, dass den Eheleuten Ettwein die Anwendung des Splitting-Verfahrens allein deshalb verweigert worden sei, weil sich ihr Wohnsitz in der Schweiz befinde.
Dieses Ergebnis stehe im Einklang mit den in der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Niederlassungsfreiheit und zur Freizügigkeit der Arbeitnehmer entwickelten Grundsätzen, also zu Freiheiten, die auch im Abkommen aufgeführt seien. Aus dieser Rechtsprechung ergebe sich, dass der Grundsatz der Nichtdiskriminierung, der auch im Steuerrecht gelte, nicht nur offene Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit verbiete, sondern auch alle versteckten Formen der Diskriminierung.
Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ist es grundsätzlich Sache des Wohnsitzstaats, den Steuerpflichtigen unbeschränkt zu besteuern und dabei seine personen- und familienbezogenen Umstände zu berücksichtigen. Erfolge jedoch die unbeschränkte Besteuerung im Quellenstaat, weil der Steuerpflichtige seine Einkünfte nahezu ausschließlich in diesem Staat beziehe, dann dürfe dieser eine Berücksichtigung der persönlichen und familienbezogenen Umstände nicht verweigern, wenn eine Berücksichtigung im Wohnsitzstaat nicht möglich sei. Das Splitting-Verfahren gehöre nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den in diesem Fall mit einzubeziehenden personen- und familienbezogenen Umständen (Urteile vom 14. Februar 1995, Schumacker, C-279/93, Slg. 1995, I-225, und vom 27. Juni 1996, Asscher, C-107/94, Slg. 1996, I-3089).
Deshalb müssten die Lebensumstände der Eheleute Ettwein, die im Wohnsitzstaat, also der Schweiz, mangels erzielter Einkünfte nicht berücksichtigt werden könnten, bei der Steuerfestsetzung in Deutschland in Betracht gezogen werden, um keine Diskriminierung gegenüber Eheleuten entstehen zu lassen, die in Deutschland ihren Wohnsitz hätten, in diesem Mitgliedstaat ihre Einkünfte erzielten und bei denen die gleichen persönlichen und familienbezogenen Umstände vorlägen wie bei den Eheleuten Ettwein.
Aufgrund dieser Erwägungen hat das Finanzgericht Baden-Württemberg beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Sind die Vorschriften des Abkommens, insbesondere dessen Art. 1, 2, 11, 16 und 21 sowie die Art. 9, 13 und 15 des Anhangs I, dahin auszulegen, dass sie es nicht zulassen, in der Schweiz lebenden Eheleuten, die mit ihren gesamten steuerpflichtigen Einkünften der Besteuerung in der Bundesrepublik Deutschland unterliegen, die Zusammenveranlagung unter Berücksichtigung des Splitting-Verfahrens zu verweigern?
Zur Vorlagefrage
Es ist darauf hinzuweisen, dass das Splitting-Verfahren, wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung zu entnehmen ist, für die in Deutschland einkommensteuerpflichtigen Ehegatten eine steuerliche Vergünstigung darstellt, wenn die von einem der beiden erzielten Einkünfte deutlich höher sind als die des anderen. Wie der Gerichtshof festgestellt hat, wurde dieses Verfahren eingeführt, um die Steuerprogression bei der Einkommensteuer zu mildern. Dabei werden die Gesamteinkünfte der Ehegatten zusammengerechnet und danach fiktiv jedem Ehegatten zu 50 % zugerechnet und entsprechend besteuert. Bezieht einer der Ehegatten ein hohes und der andere ein niedriges Einkommen, so nivelliert das Splitting die Besteuerungsgrundlage und mildert die Progression der Einkommensteuer (Urteil Schumacker, Randnr. 7).
Jedoch setzt dieses Verfahren nach dieser Regelung voraus, dass die Eheleute ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt entweder im deutschen Hoheitsgebiet haben oder in dem eines anderen Mitgliedstaats der Union oder eines anderen Staates, auf den das EWR-Abkommen Anwendung findet. Das EWR-Abkommen ist auf die Schweizerische Eidgenossenschaft nicht anwendbar.
Für die Beantwortung der Frage des vorlegenden Gerichts ist daher erstens zu prüfen, ob eine Situation wie die der Eheleute Ettwein in den Anwendungsbereich des Abkommens EG–Schweiz fällt.
Dabei ist gleich vorab das Vorbringen der deutschen Regierung und der Europäischen Kommission zurückzuweisen, wonach das Abkommen lediglich im Fall der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit, also dann anwendbar sei, wenn die Staatsangehörigen einer Vertragspartei im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei gegenüber Inländern ungleich behandelt würden. Es ist nämlich möglich, dass die Staatsangehörigen einer Vertragspartei unter bestimmten Umständen und nach Maßgabe der anwendbaren Bestimmungen aus dem Abkommen abgeleitete Rechte auch gegenüber ihrem eigenen Land geltend machen können (vgl. u. a. Urteil vom 15. Dezember 2011, Bergström, C-257/10, Slg. 2011, I-13227, Randnrn. 27 bis 34).
Was die im Ausgangsverfahren gegebenen Umstände und die anwendbaren Bestimmungen des Abkommens betrifft, ist festzustellen, dass Art. 13 Abs. 1 des Anhangs I des Abkommens seinem Wortlaut nach auf die Situation der Eheleute Ettwein anwendbar ist. Diese sind nämlich Staatsangehörige „einer Vertragspartei“, und zwar der Bundesrepublik Deutschland, haben ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet „einer anderen Vertragspartei“, hier der Schweizerischen Eidgenossenschaft, und üben im Hoheitsgebiet „der anderen Vertragspartei“, d. h. der Bundesrepublik Deutschland, eine selbständige Erwerbstätigkeit aus.
In dieser Bestimmung wird, ungeachtet der Staatsangehörigkeit der Betroffenen, zwischen dem Wohnort im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei und dem Ort unterschieden, an dem eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt wird, der im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei liegen muss. Daher sind die Eheleute Ettwein für die Zwecke der Anwendung des Abkommens nach dieser Bestimmung als „selbständige Grenzgänger“ einzustufen, zumal feststeht, dass sie täglich von ihrem Tätigkeitsort zu ihrem Wohnort zurückkehren.
Insoweit ist dem Vorbringen der deutschen Regierung und der Kommission nicht zu folgen, wonach der Begriff „selbständiger Grenzgänger“ vom Begriff „Selbständiger“ gemäß Art. 12 Abs. 1 des Anhangs I des Abkommens umfasst sei. Der „selbständige Grenzgänger“ ist zwar auch ein „Selbständiger“, da er eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt, doch ist der Begriff „selbständiger Grenzgänger“ durch andere Vorschriften bestimmt, die Unterschiede zu dem in diesem Art. 12 Abs. 1 definierten Begriff „Selbständiger“ aufweisen.
Der „selbständige Grenzgänger“ benötigt, wie aus Art. 13 Abs. 1 des Anhangs I des Abkommens hervorgeht, im Gegensatz zu der Regelung in Art. 12 dieses Anhangs für den „Selbständigen“ keine Aufenthaltserlaubnis, um eine selbständige Erwerbstätigkeit auszuüben. Diese letztgenannte Bestimmung wurde, wie sich aus ihrer Überschrift und einer Gesamtschau ihres Inhalts ergibt, lediglich für die Regelung des Aufenthalts erlassen.
Der Umstand, dass die Vertragsparteien den selbständigen Grenzgängern eine eigene Bestimmung des Abkommens gewidmet haben, hebt die besondere Situation dieser Gruppe von Selbständigen hervor und lässt den Willen erkennen, deren Freizügigkeit und Mobilität zu erleichtern.
Dieses Ergebnis wird auch durch Art. 24 Abs. 1 des Anhangs I des Abkommens bestätigt, der das Aufenthaltsrecht, also das Recht der Staatsangehörigen einer Vertragspartei, ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei zu begründen, unabhängig von der Ausübung einer Erwerbstätigkeit gewährleistet. Insbesondere die Grenzgänger, wie die Eheleute Ettwein, müssen unter Fortführung ihrer Erwerbstätigkeit in ihrem Herkunftsland dieses Recht in vollem Umfang in Anspruch nehmen können.
Folglich fällt die Situation der Eheleute Ettwein in den Anwendungsbereich des Abkommens.
Da die Eheleute Ettwein „selbständige Grenzgänger“ im Sinne von Art. 13 Abs. 1 des Anhangs I des Abkommens sind, ist auch der in Art. 15 Abs. 1 dieses Anhangs verankerte Grundsatz der Gleichbehandlung auf sie anwendbar (vgl. Urteil vom 6. Oktober 2011, Graf und Engel, C-506/10, Slg. 2011, I-9345, Randnr. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung), da das „Aufnahmeland“ im Sinne dieser letztgenannten Bestimmung in ihrem Fall die Bundesrepublik Deutschland ist.
Darüber hinaus gilt nach Art. 15 Abs. 2 des Anhangs I Art. 9 dieses Anhangs sinngemäß für selbständige Grenzgänger. Art. 9 Abs. 2 dieses Anhangs ist zu entnehmen, dass der Grundsatz der Gleichbehandlung sich auch auf steuerliche Vergünstigungen erstreckt.
Diese sinngemäße Geltung führt dazu, dass ein selbständiger Grenzgänger im Aufnahmeland dieselben steuerlichen Vergünstigungen in Anspruch nehmen kann wie die Selbständigen, die ihre Erwerbstätigkeit in diesem Land ausüben und dort wohnen.
Jedoch ist auch Art. 21 Abs. 2 des Abkommens zu berücksichtigen, wonach keine Bestimmung dieses Abkommens so auszulegen ist, dass sie die Vertragsparteien daran hindert, bei der Anwendung ihrer Steuervorschriften eine Unterscheidung zwischen Steuerpflichtigen zu machen, die sich – insbesondere hinsichtlich ihres Wohnsitzes – nicht in vergleichbaren Situationen befinden.
Diese Vorschrift erlaubt daher eine steuerlich unterschiedliche Behandlung von gebietsansässigen und gebietsfremden Steuerpflichtigen, allerdings nur dann, wenn sie sich nicht in einer vergleichbaren Situation befinden.
Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs geht hervor, dass hinsichtlich der Einkommensteuer die sich aus der Berücksichtigung der Gesamteinkünfte und der persönlichen Verhältnisse sowie des Familienstands des Steuerpflichtigen ergebende persönliche Steuerkraft am leichtesten in seinem Wohnsitzstaat beurteilt werden kann, in dem in der Regel der Schwerpunkt seiner Einkünfte liegt, und dass unter diesem Gesichtspunkt gebietsansässige Personen und Gebietsfremde sich in der Regel nicht in einer vergleichbaren Situation befinden (Urteile Schumacker, Randnrn. 32 bis 34, und Asscher, Randnr. 41). Etwas anderes gilt jedoch, wenn der Gebietsfremde in seinem Wohnsitzstaat keine nennenswerten Einkünfte hat und sein zu versteuerndes Einkommen im Wesentlichen aus einer Tätigkeit bezieht, die er in einem anderen Staat ausübt, so dass der Wohnsitzstaat nicht in der Lage ist, ihm die Vergünstigungen zu gewähren, die sich aus der Berücksichtigung seiner persönlichen Verhältnisse und seines Familienstands ergeben (Urteil Schumacker, Randnr. 36).
Der Gerichtshof hat entschieden, dass sich der gebietsfremde Steuerpflichtige – ob er nun als Arbeitnehmer oder als Selbständiger tätig ist –, der seine gesamten oder nahezu seine gesamten Einkünfte in dem Staat erzielt, in dem er seine berufliche Tätigkeit ausübt, hinsichtlich der Einkommensteuer objektiv in derselben Situation befindet wie der in diesem Staat Ansässige, der dort die gleiche Tätigkeit ausübt. Diese beiden Gruppen von Steuerpflichtigen befinden sich insbesondere hinsichtlich der Berücksichtigung ihrer persönlichen Verhältnisse und ihres Familienstands in einer vergleichbaren Situation. Eine solche Berücksichtigung ist nämlich im Wohnsitzstaat von Grenzgängern wie den Eheleuten Ettwein nicht möglich, da sie dort keine Einkünfte erzielen (vgl. in diesem Sinne Urteile Schumacker, Randnrn. 37 und 38, Asscher, Randnrn. 42 und 43, sowie vom 11. August 1995, Wielockx, C-80/94, Slg. 1995, I-2493, Randnr. 20).
Im Licht dieser Rechtsprechung kann sich eine Vertragspartei nicht auf Art. 21 Abs. 2 des Abkommens berufen, um Eheleuten, die ihre berufliche Tätigkeit in diesem Staat ausüben, dort ihre gesamten Einkünfte erzielen und dort in vollem Umfang der Einkommensteuer unterliegen, die steuerliche Vergünstigung, die mit ihren persönlichen Verhältnissen und ihrem Familienstand verknüpft ist und in der Berücksichtigung des Splitting-Verfahrens besteht, allein deshalb zu verweigern, weil sich der Wohnsitz der Eheleute im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei befindet.
Daher verstößt die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung dadurch, dass sie diese steuerliche Vergünstigung aufgrund des Wohnsitzes der Steuerpflichtigen versagt, gegen Art. 13 Abs. 1 des Anhangs I des Abkommens in Verbindung mit den Art. 15 Abs. 2 und 9 Abs. 2 dieses Anhangs.
Zudem hat das Abkommen nach seinem Art. 1 Buchst. a u. a. das Ziel, zugunsten der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Union und der Schweizerischen Eidgenossenschaft die Einräumung eines Rechts auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Vertragsparteien zu gewährleisten.
Im Übrigen folgt dieses Ergebnis der Linie der Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach die Freizügigkeit, die die Vertragsparteien nach dem zweiten Satz der Präambel des Abkommens zwischen ihnen auf der Grundlage der in der Union geltenden Bestimmungen zu verwirklichen entschlossen sind, beeinträchtigt würde, wenn ein Staatsangehöriger einer Vertragspartei in seinem Herkunftsland einen Nachteil allein deshalb erlitte, weil er sein Freizügigkeitsrecht ausgeübt hat (Urteil Bergström, Randnrn. 27 und 28).
Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 1 Buchst. a des Abkommens sowie die Art. 9 Abs. 2, 13 Abs. 1 und 15 Abs. 2 des Anhangs I dieses Abkommens dahin auszulegen sind, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, nach der Eheleuten, die Staatsangehörige dieses Staates sind und mit ihren gesamten steuerpflichtigen Einkünften der Besteuerung in diesem Staat unterliegen, die in dieser Regelung vorgesehene Zusammenveranlagung unter Berücksichtigung des Splitting-Verfahrens allein deshalb verweigert wird, weil ihr Wohnsitz im Hoheitsgebiet der Schweizerischen Eidgenossenschaft liegt.
Kosten
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 1 Buchst. a des zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits geschlossenen Abkommens über die Freizügigkeit, unterzeichnet in Luxemburg am 21. Juni 1999, sowie die Art. 9 Abs. 2, 13 Abs. 1 und 15 Abs. 2 des Anhangs I dieses Abkommens sind dahin auszulegen, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, nach der Eheleuten, die Staatsangehörige dieses Staates sind und mit ihren gesamten steuerpflichtigen Einkünften der Besteuerung in diesem Staat unterliegen, die in dieser Regelung vorgesehene Zusammenveranlagung unter Berücksichtigung des Splitting-Verfahrens allein deshalb verweigert wird, weil ihr Wohnsitz im Hoheitsgebiet der Schweizerischen Eidgenossenschaft liegt.
Unterschriften
( *1)Verfahrenssprache: Deutsch.
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