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BSG 15.02.2023 - B 4 AS 101/22 B
BSG 15.02.2023 - B 4 AS 101/22 B - Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verwerfung der Berufung als unzulässig - Versäumung der Berufungsfrist - Zustellung an einen Prozessbevollmächtigten - wirksame Bevollmächtigung
Normen
§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 151 Abs 1 SGG, § 73 Abs 6 S 6 SGG
Vorinstanz
vorgehend SG Hannover, 11. Mai 2020, Az: S 73 AS 340/15, Gerichtsbescheid
vorgehend Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, 30. März 2022, Az: L 11 AS 269/21, Urteil
Tenor
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Der Antrag des Klägers, ihm für das Verfahren einen besonderen Vertreter zu bestellen, wird abgelehnt.
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Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 30. März 2022 aufgehoben.
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Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
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I. Die Beteiligten streiten über Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II für die Zeit ab Juli 2014, deren Gewährung der Beklagte mit der Begründung abgelehnt hatte, der Kläger habe seine Hilfebedürftigkeit nicht nachgewiesen (Bescheid vom 10.10.2014; Widerspruchsbescheid vom 6.1.2015). Das SG hat die Klage "als unzulässig verworfen" (Gerichtsbescheid vom 11.5.2020). Den Gerichtsbescheid stellte es am 13.5.2020 Rechtsanwalt B, dem Bruder des Klägers, zu, den es als Prozessbevollmächtigen ansah. Auf eine Sachstandsanfrage des Klägers vom 28. und 30.3.2021, verbunden mit dem Hinweis, er "lege immer gegen Gerichtsbescheide Rechtsmittel ein", übersandte das LSG den Gerichtsbescheid an den Kläger persönlich. Das von ihm als Berufung angesehene Rechtsmittel des Klägers vom 6.4.2021 hat das LSG als unzulässig verworfen, weil die Berufungsfrist von einem Monat nicht gewahrt worden sei; das SG habe den Gerichtsbescheid am 13.5.2020 Rechtsanwalt B als Prozessbevollmächtigtem wirksam zugestellt (Urteil vom 30.3.2022).
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Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger als Verfahrensmangel ua, die Entscheidung des LSG über die Zulässigkeit der Berufung sei unzutreffend. Es habe nicht wirksam an Rechtsanwalt B zugestellt werden dürfen. Die Zulässigkeit einer Generalvollmacht aus einem Eilverfahren für weitere zahlreiche Verfahren sei unwahrscheinlich. Die vorliegende Vollmacht könne nur für das konkrete Eilverfahren gelten. Außerdem sei der Antrag des Klägers, seinen Bruder zu entpflichten, als Kündigung des Mandats auszulegen. Die vom Kläger selbst eingelegte Berufung sei rechtzeitig gewesen, sodass das LSG die Berufung nicht als unzulässig hätte verwerfen dürfen.
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Weil er den Kläger für prozessunfähig hält, beantragt der Klägerbevollmächtigte zudem, ihn zum besonderen Vertreter nach § 72 SGG zu bestellen.
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II. 1. Der Antrag auf Bestellung eines besonderen Vertreters ist abzulehnen. Nach § 72 Abs 1 SGG kann für einen nicht prozessfähigen Beteiligten ohne gesetzlichen Vertreter bis zum Eintritt eines Vormunds, Betreuers oder Pflegers für das Verfahren ein besonderer Vertreter bestellt werden. Die Voraussetzungen hierfür liegen nicht vor, weil der Kläger prozessfähig ist.
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Ein Beteiligter ist prozessfähig, soweit er sich durch Verträge verpflichten kann (§ 71 Abs 1 SGG). Daran fehlt es ua bei Personen, die sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befinden, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist (§ 105 Abs 1, § 104 Nr 2 BGB). Prozessunfähigkeit setzt also die Aufhebung freier Willensbestimmung voraus, die auf anhaltende psychische Störungen erheblichen Ausmaßes zurückzuführen sein muss; solche psychischen Störungen sind möglichst exakt zu beschreiben und bedürfen der Einordnung in eines der gängigen Diagnosesysteme (zB ICD-10, DSM-5) unter Verwendung der dortigen Schlüssel und Bezeichnungen (ausführlich dazu letztens BSG vom 27.1.2022 - B 2 U 175/20 B - vorgesehen für SozR 4-1500 § 71 Nr 4 RdNr 10 ff mwN). Der Senat ist vorliegend unter Berücksichtigung der den Beteiligten bekannten medizinischen Gutachten vom 13.8.2014, 25.8.2015 und 29.8.2018 nicht davon überzeugt, dass bei dem Kläger entsprechende psychische Störungen und damit Prozessunfähigkeit vorliegen. Er sieht sich auch nicht zu weiteren Ermittlungen gedrängt. Eine Verschlechterung seines Gesundheitszustands macht der Kläger nicht geltend. Eine solche Verschlechterung ist auch nach Aktenlage nicht ersichtlich (so bereits Senatsbeschluss vom 15.12.2022 - B 4 AS 346/21 B - in einem anderen Verfahren des Klägers).
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2. Die zulässige Beschwerde des Klägers führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG gemäß § 160a Abs 5 SGG. Der Entscheidung liegt ein formgerecht gerügter (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) zugrunde. Das LSG hätte die Berufung nicht als unzulässig ansehen dürfen, sondern in der Sache entscheiden müssen. Darin liegt ein Verfahrensmangel, denn bei einem Prozessurteil handelt es sich im Vergleich zum Sachurteil um eine qualitativ andere Entscheidung (stRspr; vgl nur BSG vom 8.9.2015 - B 1 KR 19/15 B - RdNr 5; BSG vom 15.6.2016 - B 4 AS 651/15 B - RdNr 5, jeweils mwN).
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Nach § 73 Abs 6 Satz 6 SGG sind für den Fall, dass ein Bevollmächtigter bestellt ist, Zustellungen an diesen zu richten. Voraussetzung ist eine wirksame Bevollmächtigung. Entgegen der Auffassung des LSG lag jedenfalls zum Zeitpunkt, zu dem der Gerichtsbescheid ergangen ist, keine wirksame Bevollmächtigung von Rechtsanwalt B, dem Bruder des Klägers, mehr vor.
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Selbst wenn man mit dem LSG wegen der in einem anderen Verfahren für alle anhängigen Verfahren erteilten Prozessvollmacht von einer zunächst wirksamen Bevollmächtigung auch für das vorliegende Verfahren ausgeht, ist diese vor Erlass des Gerichtsbescheids durch Widerruf erloschen. Maßgeblich ist dabei allein die Wirkung der Vollmacht im Außenverhältnis (vgl nur Straßfeld in BeckOGK, SGG, § 73 RdNr 121, 174, Stand 1.2.2023). Deren Erteilung und auch Widerruf gegenüber dem Gericht stellt eine Prozesserklärung dar, die im Beschwerde- oder Revisionsverfahren vollständig zu überprüfen ist (vgl zur Überprüfung von Prozesserklärungen BSG vom 15.6.2016 - B 4 AS 651/15 B - RdNr 7; BSG vom 23.2.2017 - B 11 AL 2/16 R - RdNr 15; BSG vom 17.9.2020 - B 4 AS 13/20 R - SozR 4-1500 § 88 Nr 3 RdNr 23). Die gesetzlich in § 73 Abs 6 SGG geregelte Außenwirkung einer Prozessvollmacht ist von den Absprachen zwischen Vollmachtgeber und Bevollmächtigtem im Innenverhältnis zu trennen, auf die es bezogen auf die prozessrechtliche Vertretungsbefugnis nicht entscheidend ankommt (vgl Straßfeld in BeckOGK, SGG, § 73 RdNr 121, Stand 1.2.2023).
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Im Außenverhältnis gegenüber dem Gericht ist entgegen der Auffassung des LSG die Prozessvollmacht von Rechtsanwalt B aber durch den Kläger widerrufen worden. Dies ergibt sich aus den zahlreichen - vom LSG im Einzelnen genannten - Anträgen des Klägers gegenüber dem SG, seinen Bruder zu entpflichten, und den weiteren - vom LSG ebenfalls im Einzelnen zitierten - Hinweisen gegenüber dem SG, er habe die Bevollmächtigung seines Bruders widerrufen. Hieraus wird als Erklärungsinhalt der Wille des Klägers, sich nicht mehr von seinem als Rechtsanwalt tätigen Bruder vertreten zu lassen, mehr als deutlich. Als einseitige Willenserklärung bedurfte der darin zu sehende Widerruf der Prozessvollmacht keiner irgendwie gearteten "Akzeptanz" durch das SG als Erklärungsempfänger. Dass das SG die Anerkennung des Widerrufs davon abhängig machen wollte, dass der Kläger einen anderen Rechtsanwalt benennt, entbehrt jeder Rechtsgrundlage. Denn die Beteiligten können den Rechtsstreit vor dem Sozialgericht und dem Landessozialgericht selbst führen (§ 73 Abs 1 SGG), sodass zumindest insoweit eine entsprechende Anwendung des § 87 Abs 1 Alt 2 ZPO ausscheidet (zur generellen Anwendbarkeit dieser Regelung im sozialgerichtlichen Verfahren BSG vom 1.6.2015 - B 10 ÜG 2/15 C - RdNr 13 mwN). Mangels weiter bestehender Prozessvollmacht ist es deshalb ohne Bedeutung, dass Rechtsanwalt B im nachfolgenden Verfahrensverlauf mit dem SG vereinzelt erneut kommuniziert und etwa ein Empfangsbekenntnis zurückgesandt hat. Jedenfalls vor dem Hintergrund des Widerrufs der ursprünglichen Vollmacht durch den Kläger ist darin keine zweifelsfreie erneute Bevollmächtigung, auch nicht im Sinne einer Duldungs- oder Anscheinsvollmacht (dazu im Kontext der Prozessvollmacht BGH vom 13.9.2016 - VI ZB 21/15 - BGHZ 212, 1 RdNr 59 mwN), zu sehen.
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Die Zustellung des Gerichtsbescheids an Rechtsanwalt B ist vor diesem Hintergrund für den Beginn der Berufungsfrist (vgl § 151 Abs 1 SGG) nicht maßgebend gewesen. Eine gegenüber dem Kläger wirksame Zustellung des Gerichtsbescheids des SG vor Ende März/ Anfang April 2022 ist nicht nachweisbar, sodass sein vom LSG zu Recht als Berufung ausgelegtes Rechtsmittel vom 6.4.2021 die Berufungsfrist gewahrt hat. Die Berufung war mithin zulässig.
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Ob dem LSG noch weitere vom Kläger gerügte Verfahrensfehler unterlaufen sind, bedarf vor diesem Hintergrund keiner Erörterung.
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Die Entscheidung des LSG beruht auch auf dem vorliegenden Verfahrensfehler, denn es ist nicht ausgeschlossen, dass eine Sachentscheidung zu einem anderen Ergebnis führt.
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Gemäß § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG - wie hier - vorliegen. Zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerungen macht der Senat von dieser Möglichkeit Gebrauch. Das LSG wird im wiedereröffneten Berufungsverfahren in eigener Zuständigkeit zu beurteilen haben, ob der Kläger weiterhin prozessfähig ist und in der Sache ggf dessen Hilfedürftigkeit im streitbefangenen Zeitraum - unter Berücksichtigung der prozessualen Mitwirkungspflichten des Klägers - weiter aufzuklären haben.
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Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt dem LSG vorbehalten.
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