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BSG 26.06.2013 - B 7 AY 3/12 R
BSG 26.06.2013 - B 7 AY 3/12 R - (Asylbewerberleistung - Zugunstenverfahren - keine Nachzahlung von Leistungen für die Vergangenheit bei Wegfall der Bedürftigkeit - keine analoge Anwendung des § 116a SGB 12 bei Überprüfungsanträgen vor dem 1.4.2011)
Normen
§ 44 Abs 1 S 1 SGB 10, § 44 Abs 4 S 1 SGB 10, § 2 Abs 1 AsylbLG, § 3 AsylbLG, § 9 Abs 3 AsylbLG, § 116a SGB 12, § 136 SGB 12 vom 24.03.2011, GG
Vorinstanz
vorgehend SG Freiburg (Breisgau), 28. Januar 2011, Az: S 9 AY 5487/10, Gerichtsbescheid
vorgehend Landessozialgericht Baden-Württemberg, 21. Juli 2011, Az: L 7 AY 879/11, Urteil
Tenor
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Auf die Revisionen der Kläger wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 21. Juli 2011 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
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Im Streit sind Ansprüche der Kläger auf höhere Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG), insbesondere auf Analog-Leistungen nach § 2 AsylbLG, im Rahmen eines Verfahrens nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) zur Überprüfung bestandskräftiger Bescheide für die Zeit vom 1.1.2005 bis 31.5.2007.
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Der Kläger zu 1 und seine Ehefrau, die Klägerin zu 2, sowie ihre 1990, 1992, 1996 und 2005 geborenen Kinder, die Kläger zu 3 bis 6, sind ägyptische Staatsangehörige; sie hielten sich zunächst aufgrund von Duldungen in Deutschland auf, bevor im Oktober 2005 die Klägerin zu 3 und im Oktober 2007 die übrigen Kläger eine Aufenthaltserlaubnis erhielten. Von 1992 bis 31.5.2007 bezogen die Kläger Grundleistungen nach § 3 AsylbLG; ab 1.6.2007 stellten sie ihren Lebensunterhalt ausschließlich aus eigenen Mitteln sicher.
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Die von den Klägern im November 2009 gestellten Anträge auf Überprüfung der früheren Bewilligungsbescheide und nachträgliche Gewährung von Analog-Leistungen nach § 2 AsylbLG in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) ab 1.1.2005 lehnte der Beklagte mit der Begründung ab, die Bedürftigkeit der Kläger sei zumindest seit Juni 2007 weggefallen; dies verhindere eine rückwirkende Leistungserbringung über § 44 SGB X (Bescheid vom 12.5.2010; Widerspruchsbescheid vom 29.9.2010). Klage und Berufung sind ohne Erfolg geblieben (Gerichtsbescheid des Sozialgerichts <SG> Freiburg vom 28.1.2011; Urteil des Landessozialgerichts <LSG> Baden-Württemberg vom 21.7.2011). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, der Gewährung von höheren Leistungen für die Vergangenheit stehe der zwischenzeitlich eingetretene Bedürftigkeitswegfall der Kläger entgegen. Sie hätten wegen ausreichenden Einkommens seit Juni 2007 keine Leistungen nach dem AsylbLG, dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) oder dem SGB XII mehr erhalten. Der Umstand, dass die zuvor bezogenen Grundleistungen verfassungswidrig zu niedrig gewesen seien, ändere an der fehlenden Gegenwärtigkeit der Notlage nichts.
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Mit ihren Revisionen rügen die Kläger eine Verletzung des § 44 SGB X. Sie sind der Ansicht, der Aktualitätsgrundsatz dürfe nicht angewandt werden. Die nach § 3 AsylbLG gewährten Grundleistungen seien ihrer Höhe nach evident unzureichend und verfassungswidrig gewesen, wie das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entschieden habe. Dies begründe einen Ausnahmefall von der Rechtsprechung des Senats, wonach bereits bei einem temporären Wegfall der Bedürftigkeit ein Anspruch auf rückwirkende Leistungserbringung nicht in Betracht komme. Wegen des zwischenzeitlichen Umzugs der Kläger zu 3 und 4 müsse im Übrigen die Stadt F beigeladen werden.
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Die Kläger haben sinngemäß schriftsätzlich beantragt,
das Urteil des LSG und den Gerichtsbescheid des SG sowie den Bescheid vom 12.5.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.9.2010 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihnen unter Rücknahme entgegenstehender Bescheide für die Zeit vom 1.1.2005 bis 31.5.2007 höhere Leistungen zu zahlen.
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Der Beklagte beantragt,
die Revisionen zurückzuweisen.
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Er hält die Entscheidung des LSG in der Sache für zutreffend, ist jedoch der Ansicht, wegen des Wohnortwechsels der Kläger zu 3 und 4 müsse ein Beklagtenwechsel vorgenommen werden, weil nach § 44 Abs 3 SGB X mittlerweile die Stadt F für den Erlass des Rücknahmebescheides zuständig sei.
Entscheidungsgründe
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Die Revisionen sind im Sinne einer Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz <SGG>). Ob die Kläger für den streitbefangenen Zeitraum Ansprüche auf höhere Leistungen in Form von Analog-Leistungen nach § 2 AsylbLG oder unter Berücksichtigung des sog Meistbegünstigungsgrundsatzes von Grundleistungen nach § 3 AsylbLG besitzen, kann mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen des LSG nicht entschieden werden.
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Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 12.5.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.9.2010 (§ 95 SGG), mit dem es der Beklagte abgelehnt hat, den Klägern rückwirkend höhere Leistungen nach dem AsylbLG zu bewilligen und zu zahlen. Dagegen wenden sich die Kläger mit kombinierten Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklagen nach § 54 Abs 1 Satz 1 iVm Abs 4, § 56 SGG (vgl nur BSG SozR 4-3520 § 3 Nr 3 RdNr 10), wobei auch im Zugunstenverfahren nach § 44 SGB X - wie vorliegend - ein Grundurteil nach § 130 SGG möglich wäre (BSG aaO). Ggf wird das LSG dafür jedoch die vom Beklagten abzuändernden bestandskräftigen Bewilligungsbescheide zu ermitteln haben, die den streitbefangenen Zeitraum betreffen.
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Grundlage für den Anspruch auf Rücknahme der bestandskräftigen Bescheide über die Ablehnung höherer als der bewilligten Leistungen im streitbefangenen Zeitraum ist § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X, der gemäß § 9 Abs 3 AsylbLG auch im Asylbewerberleistungsrecht Anwendung findet. Danach ist ein unanfechtbarer Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und soweit deshalb ua Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Nach § 44 Abs 3 SGB X entscheidet, nachdem der Verwaltungsakt unanfechtbar geworden ist, über die Rücknahme die (mittlerweile) zuständige Behörde.
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Entgegen der Ansicht der Beteiligten bedeutet dies jedoch weder, dass wegen eines Umzugs der Kläger zu 3 und 4 die Stadt F beizuladen (§ 75 Abs 2 SGG) wäre, noch, dass ein Beklagtenwechsel stattgefunden hätte. Welche Behörde der juristischen Person als Rechtsträger für den Erlass des begehrten Verwaltungsakts zuständig wäre, ist insoweit ohne Bedeutung. Soweit eine Behörde - wie vorliegend - das Landratsamt O oder die Stadt F bei einem Umzug der Kläger zu 3 und 4 als Organ mehrerer Rechtsträger tätig wird bzw würde, ist für die Beurteilung der Passivlegitimation (materiellrechtliche Verpflichtung) und des richtigen Beklagen maßgebend, wessen Aufgabe (des Landes, des Landkreises oder des Stadtkreises) erfüllt wird (vgl nur Kopp/Schenke, VwGO, 18. Aufl 2012, § 78 RdNr 6 mwN). Dies ist vorliegend eine solche des beklagten Landes; in Baden-Württemberg gilt nicht das Behördenprinzip (siehe dazu § 70 Nr 3 SGG).
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Eine andere Frage ist, ob das Landratsamt O für den Erlass der ablehnenden Bescheide örtlich zuständig war und welche rechtlichen Konsequenzen sich aus einer fehlenden örtlichen Zuständigkeit ergäben. Würde es an einer solchen fehlen, wäre eine Aufhebung des ablehnenden Bescheides allein wegen des Verstoßes gegen die Vorschriften der örtlichen Zuständigkeit gleichwohl nicht gerechtfertigt, weil die Verletzung der örtlichen Zuständigkeit die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat (§ 46 Verwaltungsverfahrensgesetz <LVwVfG> für Baden-Württemberg, der hier zur Anwendung gelangt, weil § 42 SGB X mangels ausdrücklichen Verweises in § 9 Abs 3 AsylbLG nicht anwendbar ist; vgl dazu nur Groth in juris Praxiskommentar <jurisPK>-SGB XII, § 9 AsylbLG RdNr 14). Sollte der Ablehnungsbescheid in der Sache richtig sein, hätte ein Verstoß allein gegen die Vorschriften der örtlichen Zuständigkeit keinerlei Einfluss auf die Sache, weil § 44 Abs 1 und 4 SGB X eine gebundene Entscheidung vorsieht. Sachlich zuständig für die Durchführung des AsylbLG und somit auch für die in diesem Zusammenhang zu treffenden Entscheidungen nach § 44 SGB X dürfte jedenfalls nach § 10 AsylbLG iVm § 1 Nr 2 und § 2 Abs 1, Abs 2 Nr 3 und Abs 4 Flüchtlingsaufnahmegesetz des Landes Baden-Württemberg (FlüAG) vom 11.3.2004 (Gesetzblatt <GBl> für das Land Baden-Württemberg 99) sowie § 15 Abs 1 Nr 2 Landesverwaltungsgesetz Baden-Württemberg (in der Fassung, die die Norm durch das Gesetz zur Weiterentwicklung der Verwaltungsstruktur in der Form vom 14.10.2008 erhalten hat - GBl 313) die jeweilige untere Verwaltungsbehörde des Landes als untere Aufnahmebehörde sein. Allerdings ist die örtliche und damit auch die sachliche Zuständigkeit insoweit nicht nachvollziehbar, als es an tatsächlichen Feststellungen des LSG zu § 10a Abs 1 AsylbLG (Verteilung) fehlt. Ggf wird dies nachzuholen sein.
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Ob die Voraussetzungen für eine Rücknahme bestandskräftiger Verwaltungsakte und Zahlung höherer Leistungen vorliegen, kann anhand der tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht abschließend beurteilt werden. Der Senat hat jedoch bereits mit Urteil vom 20.12.2012 (B 7 AY 4/11 R - SozR 4-3520 § 3 Nr 3) entschieden, eine Nachzahlung monatsweiser Leistungen - wie hier - komme für den Fall nicht in Betracht, dass die Bedürftigkeit dauerhaft oder temporär, also zumindest für einen Monat, entfallen sei; dies gelte auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass das BVerfG durch Urteil vom 18.7.2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 -, BGBl I 1715 f = SozR 4-3520 § 3 Nr 2) entschieden habe, die Geldleistungen des § 3 AsylbLG seien evident zu niedrig (BSG aaO). Im vorliegenden Verfahren ist nichts vorgetragen, was nicht bereits in dieser Entscheidung ausführlich gewürdigt ist.
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Der Wegfall der Bedürftigkeit der Kläger lässt sich nicht abschließend beurteilen. Den Feststellungen des LSG ist hierzu lediglich zu entnehmen, dass die Kläger ab Juni 2007 keine Leistungen nach dem AsylbLG, dem SGB XII oder dem SGB II mehr bezogen haben. Erforderlich ist jedoch eine Prüfung der Bedürftigkeit; dass die Kläger keine Leistungen mehr bezogen haben, hat keine rechtliche Bedeutung. Dabei misst sich die Bedürftigkeit unter Berücksichtigung der Entscheidung des BVerfG vom 18.7.2012 (aaO) für Grundleistungen (§ 3 AsylbLG) bis 31.12.2010 an dem dort normierten - wenn auch verfassungswidrig zu niedrigen - Bedarf (Senatsurteil vom 20.12.2012, aaO, RdNr 16). Es ist jedoch bereits unklar, welche Regelungen insoweit überhaupt zur Anwendung kommen. Die Abgrenzung zwischen den einzelnen Leistungssystemen (SGB II, SGB XII, AsylbLG) ist nämlich anhand des jeweiligen Aufenthaltsstatus und der Erwerbsfähigkeit zu beurteilen (BSG, aaO, RdNr 17), wozu Feststellungen ebenfalls fehlen.
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Sollte die Bedürftigkeit nicht entfallen sein, wäre der zum 1.4.2011 ins SGB XII eingefügte § 116a SGB XII nicht analog anwendbar (vgl zur analogen Anwendung dieser Norm das Senatsurteil vom 26.6.2013 - B 7 AY 6/12 R). Denn § 116a SGB XII, der für die Rücknahme eines rechtswidrigen nichtbegünstigenden Verwaltungsaktes § 44 Abs 4 Satz 1 SGB X dahin modifiziert, dass anstelle des Zeitraums von vier Jahren ein Zeitraum von einem Jahr für die Gewährung rückwirkender Leistungen tritt, wäre auch im Sozialhilferecht nicht anwendbar, weil er aufgrund der Übergangsregelung des § 136 SGB XII (in der bis 31.12.2012 geltenden Fassung) nicht auf Anträge Anwendung findet, die - wie hier - vor dem 1.4.2011 gestellt worden sind (BSG SozR 4-1300 § 44 Nr 22 RdNr 23).
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Das LSG wird ggf auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
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