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BVerfG 31.10.2022 - 2 BvR 1838/22
BVerfG 31.10.2022 - 2 BvR 1838/22 - Erfolgreicher Eilantrag im Verfassungsbeschwerdeverfahren: Einstweilige Untersagung einer Auslieferung an die Türkei zur Strafvollstreckung - unzureichende fachgerichtliche Aufklärung der Gewährung prozessualer Mindestrechte bei Verurteilung des Betroffenen in Abwesenheit - Folgenabwägung
Normen
Art 19 Abs 4 GG, § 32 Abs 1 BVerfGG, § 12 IRG, § 32 IRG
Vorinstanz
vorgehend Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt, 16. August 2022, Az: 1 AR 112/22, Beschluss
Tenor
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Die Übergabe des Beschwerdeführers an die Behörden der Republik Türkei wird bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, einstweilen untersagt.
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Die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg wird mit der Durchführung der einstweiligen Anordnung beauftragt.
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Die Vollziehung der Auslieferungshaft bleibt von der einstweiligen Anordnung unberührt.
Gründe
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Zur Verfahrenssicherung wird die Übergabe des Beschwerdeführers an die Behörden der Republik Türkei gemäß § 32 Abs. 1 und Abs. 2 BVerfGG bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, einstweilen untersagt.
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1. Das Bundesverfassungsgericht kann einen Zustand durch einstweilige Anordnung gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG gegeben sind, ist wegen der weittragenden Folgen einer einstweiligen Anordnung regelmäßig ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 55, 1 3>; 82, 310 312>; 94, 166 216 f.>; 104, 23 27>; 106, 51 58>).
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Als Mittel des vorläufigen Rechtsschutzes hat die einstweilige Anordnung auch im verfassungsgerichtlichen Verfahren die Aufgabe, die Schaffung vollendeter Tatsachen zu verhindern; sie soll auf diese Weise dazu beitragen, Wirkung und Bedeutung einer erst noch zu erwartenden Entscheidung in der Hauptsache zu sichern und zu erhalten (vgl. BVerfGE 42, 103 119>). Deshalb bleiben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht, es sei denn, die Hauptsache erwiese sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 89, 38 43 f.>; 103, 41 42>; 118, 111 122>; stRspr). Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens offen, so hat das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich lediglich im Rahmen einer Folgenabwägung die Nachteile abzuwägen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber in der Hauptsache Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 105, 365 371>; 106, 351 355>; 108, 238 246>; 125, 385 393>; 132, 195 232 f. Rn. 87>; stRspr).
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2. Nach diesen Maßstäben ist eine einstweilige Anordnung zu erlassen.
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a) Die Verfassungsbeschwerde ist, jedenfalls soweit sie sich gegen die Zulässigkeitserklärung in dem Beschluss vom 16. August 2022 richtet, weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Es erscheint vielmehr möglich, dass die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts Naumburg, mit der die Auslieferung des Beschwerdeführers für zulässig erklärt wurde, den Beschwerdeführer in seinen Rechten aus Art. 19 Abs. 4 GG verletzt. Das Oberlandesgericht könnte insbesondere seine Aufklärungspflichten hinsichtlich der Gewährung prozessualer Mindestrechte verletzt haben, zumal das ausländische Strafurteil, zu dessen Vollstreckung ausgeliefert werden soll, in Abwesenheit des Beschwerdeführers ergangen ist (vgl. BVerfGE 59, 280 282 ff.>; 63, 332 337> m.w.N.; BVerfGK 6, 13 17>). Zudem könnte es an einer eigenen Gefahrenprognose des Gerichts in Bezug auf die von den türkischen Behörden angegebene Zusicherung fehlen (vgl. BVerfGE 156, 182 207 Rn. 56>).
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b) Die nach § 32 Abs. 1 BVerfGG erforderliche Folgenabwägung geht zugunsten des Beschwerdeführers aus. Die Folgen, die einträten, wenn der Beschwerdeführer ausgeliefert würde, sich später aber herausstellte, dass die Auslieferung rechtswidrig war, wiegen schwerer als die Folgen, die entstünden, wenn die Übergabe des Beschwerdeführers einstweilen untersagt bliebe, sich später aber herausstellte, dass sie ohne Rechtsverstoß hätte durchgeführt werden können. Denn im erstgenannten Fall wäre dem Beschwerdeführer eine erfolgreiche Geltendmachung seiner Einwände gegen die Auslieferung voraussichtlich nicht mehr möglich. Demgegenüber könnte der Beschwerdeführer, sollte sich die geplante Übergabe als rechtmäßig erweisen, zu einem späteren Zeitpunkt an die türkischen Behörden übergeben werden. Sein Aufenthalt in Deutschland würde sich lediglich bis zu einem solchen späteren Termin verlängern.
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3. Die Vollziehung der Auslieferungshaft bleibt von der einstweiligen Anordnung unberührt.
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