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BVerfG 06.07.2020 - 1 BvR 2843/17
BVerfG 06.07.2020 - 1 BvR 2843/17 - Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde: Anwendung des § 275 FamFG zum Nachteil des betroffenen Betreuten verletzt Rechtsschutzgarantie (Art 2 Abs 1 iVm 20 Abs 3 GG) - Perpetuierung dieser Verletzung durch Versagung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand im Rechtsbeschwerdeverfahren - hier: Grundrechtsverletzung durch Annahme der wirksamen Zustellung einer instanzgerichtlichen Entscheidung an die Beschwerdeführerin gem § 275 FamFG
Normen
Art 2 Abs 1 GG, Art 3 Abs 3 S 2 GG, Art 20 Abs 3 GG, § 93a Abs 2b BVerfGG, § 93b S 1 Alt 2 BVerfGG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 17 Abs 1 FamFG, § 70 FamFG, § 71 Abs 1 S 1 FamFG, § 275 FamFG, § 276 Abs 1 S 1 FamFG
Vorinstanz
vorgehend BGH, 29. November 2017, Az: XII ZB 456/17, Beschluss
vorgehend LG Landshut, 25. Juli 2017, Az: 63 T 1674/17, Beschluss
vorgehend AG Landshut, 19. Juni 2017, Az: 306 XVII 627/13, Beschluss
Tenor
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1. Der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 29. November 2017 - XII ZB 456/17 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.
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2. Der Beschluss wird aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an den Bundesgerichtshof zurückverwiesen.
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3. Die Bundesrepublik Deutschland hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
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Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Auslegung und Anwendung von § 275 FamFG im Hinblick auf die Antragstellung auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in einem betreuungsrechtlichen Verfahren.
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I.
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Für die Beschwerdeführerin ist eine Betreuung durch eine Berufsbetreuerin eingerichtet. Die Betreuung wurde für die Aufgabenkreise Wohnungsangelegenheiten und Vertretung gegenüber Behörden, Versicherungen, Renten- und Sozialleistungsträgern angeordnet. In der Folge wurde die Betreuung um den Aufgabenkreis Vermögenssorge erweitert und ein Einwilligungsvorbehalt für diesen Aufgabenkreis angeordnet. Zur Begründung führte das Betreuungsgericht aus, die Beschwerdeführerin sei aufgrund einer leichten Intelligenzminderung und ihrer affektiven Labilität nicht in der Lage, ihre Angelegenheiten in den genannten Aufgabenkreisen ausreichend zu besorgen. Dies folge insbesondere aus einem ärztlichen Gutachten, dem Bericht der Betreuungsbehörde, der Stellungnahme der Betreuerin und dem unmittelbaren persönlichen Eindruck des Gerichts. Bei der Anhörung der Beschwerdeführerin habe sich gezeigt, dass sie deutliche Defizite im Bereich der Kritikfähigkeit und des Urteilsvermögens habe. Von der Bestellung eines Verfahrenspflegers sah das Amtsgericht ab, da die Beschwerdeführerin ihre Interessen im Verfahren selbst wahrnehmen könne. Diese habe schriftlich mitgeteilt, dass sie sich einen Rechtsanwalt genommen habe.
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Die gegen den Beschluss des Amtsgerichts erhobene Beschwerde der Beschwerdeführerin und ihr Antrag auf Gewährung von Verfahrenskostenhilfe wurden zurückgewiesen. Zur Begründung führte das Landgericht im Wesentlichen aus, es sei von einer längerfristigen krankhaften Störung der Geistestätigkeit der Beschwerdeführerin auszugehen. Aufgrund ihrer Krankheit könne sie ihren Willen in Teilbereichen nicht mehr frei bestimmen und entsprechend ihrer Einsicht handeln. Andere Hilfsmöglichkeiten, die eine Betreuung ganz oder teilweise entbehrlich machen könnten, seien nicht vorhanden. Die Beschwerdeführerin neige zu kurzschlüssig-impulsiven Entscheidungen im finanziellen Bereich, zu realitätsfernem Wunschdenken und zum Abschluss von Rechtsgeschäften, deren Folgen sie nicht überschauen könne. Bereits in der Vergangenheit habe die Beschwerdeführerin wegen Überschuldung Privatinsolvenz anmelden müssen. Daher sei auch der Antrag auf Gewährung von Verfahrenskostenhilfe mangels Erfolgsaussicht der Beschwerde abzulehnen.
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Der Beschluss des Landgerichts wurde der Beschwerdeführerin am 16. August 2017 zugestellt. Am 4. September 2017 reichte die Beschwerdeführerin selbst eine Rechtsbeschwerdeschrift zum Bundesgerichtshof ein. Mit Schreiben des Bundesgerichtshofs vom gleichen Tage wurde die Beschwerdeführerin um schnellstmögliche Vorlage der Entscheidung gebeten, gegen die sie sich wenden wolle. Die Beschwerdeführerin wandte sich mit weiterem Schreiben an den Bundesgerichtshof, das dort am 9. September 2017 einging. Nach telefonischer Rücksprache mit der Beschwerdeführerin übersandte ihr der Bundesgerichtshof am 13. September 2017 eine Liste mit am Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwälten. Am 28. September 2017 übersandte der Bundesgerichtshof ein Hinweisschreiben an die Beschwerdeführerin. Mit Schreiben vom 2. Oktober 2017 folgte die Übersendung einer Liste mit Rechtsanwälten am Bundesgerichtshof. Mit Schreiben vom 20. Oktober 2017 wurden der Beschwerdeführerin Vordrucke zur Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nebst Ausfüllanleitung übersandt.
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Mit Schreiben vom 6. November 2017 wandte sich die Beschwerdeführerin an ihren jetzigen Verfahrensbevollmächtigten. Mit Schriftsatz vom 8. November 2017 legte ihr Verfahrensbevollmächtigter für die Beschwerdeführerin wiederum Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof gegen die landgerichtliche Entscheidung ein und beantragte Fristverlängerung zur Begründung der Rechtsbeschwerde. Mit Schriftsatz vom 21. November 2017 begründete er die Rechtsbeschwerde und stellte Wiedereinsetzungsantrag.
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Der Bundesgerichtshof verwarf die Rechtsbeschwerde und wies den Antrag auf Verfahrenskostenhilfe mangels Erfolgsaussicht zurück. Zur Begründung führte der Bundesgerichtshof aus, die Rechtsbeschwerde sei unzulässig, weil sie nicht binnen der Rechtsbeschwerdefrist durch einen beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwalt eingelegt worden sei. Die mit einer ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrung versehene angefochtene Entscheidung sei der gemäß § 275 FamFG im Betreuungsverfahren verfahrensfähigen Betroffenen durch Zustellung wirksam bekannt gegeben worden. Ein Wiedereinsetzungsgrund gemäß § 17 Abs. 1 FamFG liege mit Blick auf § 275 FamFG nicht vor.
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II.
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Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen die von den Fachgerichten vorgenommene Auslegung und Anwendung des § 275 FamFG. Sie rügt die Verletzung in ihren Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG.
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Die Zurückweisung des Antrags der Beschwerdeführerin auf Wiedereinsetzung in die Frist der Rechtsbeschwerde und die gleichzeitige Verwerfung der Rechtsbeschwerde durch den Bundesgerichtshof als unzulässig verstießen gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG. § 275 FamFG solle nach dem Willen des Gesetzgebers die Rechtsstellung des Betroffenen in Betreuungssachen verbessern. Die von den Gerichten in den angegriffenen Entscheidungen vorgenommene Auslegung der Vorschrift führe aber im Gegenteil zu einer Schlechterstellung der Betroffenen und schneide sie von Verfahrensrechten ab. Nach den tatsächlichen Feststellungen der Fachgerichte sei davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin - jedenfalls im Hinblick auf die Verfahrensführung - geschäftsunfähig sei. Die Anwendung des § 275 FamFG auf die Beschwerdeführerin sei auch nicht durch Bestellung eines Verfahrenspflegers kompensiert worden. Dies sei aber geboten gewesen. Nachdem sie durch ihren jetzigen Prozessbevollmächtigten eine anwaltliche Vertretung erlangt habe, sei der Beschwerdeführerin jedenfalls Wiedereinsetzung in die Rechtsbeschwerdefrist zu gewähren gewesen.
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Der Umstand, dass die Beschwerdeführerin durch ihre Betreuerin im Rechtsbeschwerdeverfahren vertreten wurde, stelle keine ausreichende Kompensation dar. Denn insoweit bestehe ein Interessenkonflikt zwischen Betreuerin und der von der Betreuung Betroffenen. Die Betroffene habe ein Interesse an der freien Verfügung über sich selbst und ihre Angelegenheiten. Insbesondere die Berufsbetreuerin habe demgegenüber ein Interesse an der Aufrechterhaltung der Betreuung. Daher könne nur ein Verfahrenspfleger die ordnungsgemäße Vertretung des Betroffenen gewährleisten.
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Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs beruhe auch auf der Nichtbestellung eines Verfahrenspflegers. Es lasse sich nicht ausschließen, dass die Gerichte nach Hinzuziehung eines Verfahrenspflegers aufgrund dessen Stellungnahme zu einer anderen Entscheidung gelangt wären. Der Beschwerdeführerin sei durch die Verwerfung ihrer Rechtsbeschwerde als unzulässig ein besonders schwerer Nachteil entstanden.
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III.
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Dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, dem Bundeskanzleramt, dem Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, dem Bayerischen Staatsministerium der Justiz und dem Bundesgerichtshof ist Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden. Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz - namens der Bundesregierung - und das Bayerische Staatsministerium der Justiz haben erklärt, von einer Stellungnahme abzusehen. Die Zweitakte des fachgerichtlichen Verfahrens hat dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen.
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IV.
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Die Verfassungsbeschwerde wird gemäß § 93b Satz 1 Alternative 2, § 93c Abs. 1 BVerfGG zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte der Beschwerdeführerin angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG; vgl. BVerfGE 90, 22 25>). Die Beschwerdeführerin ist in ihrem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz verletzt.
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Der Verfassungsbeschwerde ist durch die Kammer stattzugeben, da die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden sind. Die Maßstäbe der Gewährleistung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes durch wohlwollende Handhabung von Rechtsbehelfen sind durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bereits geklärt. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist danach offensichtlich begründet (§ 93b Satz 1 in Verbindung mit § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG; vgl. BVerfGE 82, 126 155>; 93, 99 107>; 107, 395 401, 408>).
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1. Die seitens des Bundesgerichtshofs gestellten Anforderungen an die Wiedereinsetzung in die Rechtsbeschwerdefrist verletzen die Beschwerdeführerin in ihren Rechten aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG.
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a) Aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) lässt sich ein Anspruch auf wirkungsvollen Rechtsschutz im materiellen Sinne für bürgerlich-rechtliche Streitigkeiten ableiten (vgl. BVerfGE 82, 126 155>; 93, 99 107>; 107, 395 401, 408>). Die daraus folgende Rechtsschutzgarantie gewährleistet nicht nur, dass überhaupt ein Rechtsweg zu den Gerichten offensteht, sie garantiert vielmehr auch die Effektivität des Rechtsschutzes. Die Rechtsschutzgewährung durch die Gerichte bedarf allerdings einer normativen Ausgestaltung durch eine Verfahrensordnung. Dabei kann der Gesetzgeber auch Regelungen treffen, die für ein Rechtsschutzbegehren besondere formelle Voraussetzungen vorsehen und sich dadurch für den Rechtsuchenden einschränkend auswirken (vgl. BVerfGE 10, 264 268>; 60, 253 268 f.>; 77, 275 284>). Solche Einschränkungen müssen aber mit den Belangen einer rechtsstaatlichen Verfahrensordnung vereinbar sein und dürfen den einzelnen Rechtsuchenden nicht unverhältnismäßig belasten. Darin findet die Ausgestaltungsbefugnis des Gesetzgebers zugleich ihre Grenze. Der Rechtsweg darf danach nicht in unzumutbarer, durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 10, 264 268>; 77, 275 284> m.w.N.). Formerfordernisse für Prozesshandlungen können der Rechtssicherheit dienen, sofern sie geeignet sind, die prozessuale Lage für alle Beteiligten rasch und zweifelsfrei zu klären.
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Diese Grundsätze gelten nicht nur für den ersten Zugang zum Gericht, sondern für die Ausgestaltung des gesamten Verfahrens (vgl. BVerfGE 40, 272 275>). Sie sind auf das Rechtsschutzbegehren der klagenden Partei in gleicher Weise wie auf das auf Rechtsverteidigung gerichtete Begehren des Gegners anwendbar. Auch der Richter muss die Tragweite des Grundrechts auf einen wirkungsvollen Rechtsschutz beachten (vgl. BVerfGE 77, 275 284>). Er darf verfahrensrechtliche Regelungen, die den vorgenannten Grundsätzen widersprechen, nicht anwenden (Art. 100 Abs. 1 GG). Soweit Verfahrensvorschriften einen Auslegungsspielraum lassen, darf er sie nicht in einem Sinne auslegen, der zu einem solchen Widerspruch führt (vgl. BVerfGE 88, 118 125>).
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Dabei ist auch dem Rechtsgedanken des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG Rechnung zu tragen. Nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG darf niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Das Verbot der Benachteiligung Behinderter gemäß Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ist Grundrecht und wirkt nach dem Willen des Verfassungsgebers auch auf die Auslegung des Zivilrechts und Zivilprozessrechts ein (vgl. BVerfGE 99, 341 356>; BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 28. März 2000 - 1 BvR 1460/09 -, NJW 2000, S. 2658 2659>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 24. März 2016 - 1 BvR 2012/13 -, Rn. 11).
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Die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und Würdigung des Sachverhalts, die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den einzelnen Fall sind allerdings Sache der dafür allgemein zuständigen Gerichte und der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen. Das Bundesverfassungsgericht beschränkt seine Überprüfung gerichtlicher Entscheidungen auf die Verletzung von Verfassungsrecht (vgl. BVerfGE 18, 85 92>; stRspr). Die Schwelle eines derartigen Verstoßes gegen Verfassungsrecht ist erst erreicht, wenn die Auslegung der Fachgerichte Auslegungsfehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind (vgl. BVerfGE 89, 1 9 f.>; 99, 145 160>; 129, 78 102>). Dies ist hier der Fall.
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b) § 275 FamFG soll sicherstellen, dass der Betroffene in allen betreuungsrechtlichen Verfahren ohne Rücksicht auf seine Geschäftsfähigkeit als verfahrensfähig zu behandeln ist. Die von der Geschäftsfähigkeit unabhängige Verfahrensfähigkeit soll die Rechtsposition des Betroffenen im Betreuungsverfahren stärken. Der Betroffene soll nicht bloßes Verfahrensobjekt sein. Er soll vielmehr als Verfahrenssubjekt seinen Willen selbst im Verfahren äußern und seine Interessen selbst vertreten können. Die Verfahrensfähigkeit des Betroffenen ist damit Ausdruck der Anerkennung seiner Menschenwürde und seines Persönlichkeitsrechts (vgl. BTDrucks 11/4528, S. 89, 170 zur Vorgängervorschrift § 66 FGG).
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Die Anwendung von § 275 FamFG auf die Beschwerdeführerin im Ausgangsverfahren - mit der Folge der Annahme einer wirksamen Zustellung und Bekanntgabe der landgerichtlichen Entscheidung an sie, welche die Rechtsbeschwerdefrist in Gang setzte - verkehrt diese gesetzgeberische Intention in ihr Gegenteil und wirkt sich zum Nachteil der Betroffenen des Betreuungsverfahrens aus. Die Versagung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand durch das Rechtsbeschwerdegericht perpetuiert diese dem Gesetzeszweck zuwiderlaufende Auslegung und Anwendung von § 275 FamFG.
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§ 275 FamFG befähigt die Person, für die eine Betreuung eingerichtet wurde, ihre Rechte in den Verfahren uneingeschränkt selbst auszuüben, sämtliche Verfahrenshandlungen, Anträge, Erklärungen, Rechtsmittel, vorzunehmen und Verfahrensvollmacht auch bei Fehlen eines natürlichen Willens zu erteilen (vgl. BGH, Beschluss vom 30. Oktober 2013 - XII ZB 317/13 -, NJW 2014, S. 215 216 Rn. 8 ff.>; Bumiller, in: Bumiller/Harders/Schwamb, FamFG, 12. Aufl. 2019, § 275 Rn. 1; Günter, in: BeckOK FamFG, Hahne/Schlögel/Schlünder, 33. Edition, Stand: 1. Januar 2020, § 275 Rn. 4 ff.; Giers, in: Keidel, FamFG - Familienverfahren, Freiwillige Gerichtsbarkeit, 20. Aufl., § 275 Rn. 3 f.; Budde, in: Keidel, FamFG, 19. Aufl. 2017, § 275 Rn. 3 ff.; Heidebach, in: Haußleiter, FamFG, 2. Aufl. 2017, § 275 Rn. 3). Dies gilt insbesondere auch für die Bekanntgabe einer Entscheidung gemäß § 41 FamFG. Auch eine Zustellung muss abweichend von § 15 Abs. 2 Satz 1 FamFG in Verbindung mit § 170 Abs. 1 Satz 1 ZPO an die Betroffenen selbst erfolgen. Nur hierdurch werden die Beschwerdefrist nach § 63 Abs. 3 Satz 1 FamFG und die Rechtsbeschwerdefrist nach § 71 Abs. 1 Satz 1 FamFG in Gang gesetzt.
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c) Hier wirkt sich die Anwendung von § 275 FamFG aber dergestalt aus, dass die Beschwerdeführerin von der Durchsetzung ihrer Verfahrensrechte, die ihr durch §§ 70, 71 FamFG über die zulassungsfreie Rechtsbeschwerde im Verfahren über die Anordnung oder das Fortbestehen einer Anordnung einer Betreuung gewährt werden, gerade abgeschnitten wird. Nach den Feststellungen, die im Betreuungsverfahren getroffen worden sind, ist davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin, jedenfalls soweit es die Verfahrensführung im vorliegenden Verfahren angeht, geschäftsunfähig ist. Im angegriffenen Beschluss des Landgerichts, gegen den sich die Rechtsbeschwerde gewendet hat, wird im Hinblick auf die Geistestätigkeit der Beschwerdeführerin auf der Grundlage der gerichtlichen Gutachten ausgeführt, dass diese eine leichte Intelligenzminderung aufweise, so dass von einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit auszugehen sei. Aufgrund dessen ist die Beschwerdeführerin in Teilbereichen, wozu auch die Vertretung gegenüber Behörden zählt, nicht in der Lage, entsprechend ihrer Einsicht zu handeln. Nach den Feststellungen des Landgerichts kann die Beschwerdeführerin weiterhin einfachste Rechnungen nicht bewältigen, einfache Sachverhalte nicht geistig erfassen und hat Probleme, Schreiben von Behörden oder dem Jobcenter zu verstehen beziehungsweise Anträge richtig auszufüllen. Danach ist davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin auch nicht in der Lage war, einen Antrag auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe auszufüllen, um diesen Antrag alsdann innerhalb der Frist für die Rechtsbeschwerde dem Bundesgerichtshof als Rechtsbeschwerdegericht vorzulegen.
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d) Angesichts dieser Umstände verletzt die Anwendung von § 275 FamFG mit der Wirkung einer wirksamen Zustellung des Beschlusses des Landgerichts die Beschwerdeführerin in ihren Rechten aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG. Vielmehr hätten die allgemeinen Verfahrensgrundsätze es geboten, parallel einen Verfahrenspfleger nach § 276 Abs. 1 Satz 1 FamFG zu bestellen, da das Verständnis der - nach § 275 FamFG aktiv beteiligten - Beschwerdeführerin erkennbar nicht ausreichte (vgl. Heiderhoff, in: Bork/Jakoby/Schwab, FamFG, 3. Aufl. 2018, § 275 Rn. 4; Budde, in: Keidel, FamFG, 19. Aufl. 2017, § 275 Rn. 4). Weiterhin wäre der Beschwerdeführerin, nachdem sie die Rechtsbeschwerdefrist mangels Einlegung durch einen Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof versäumt hatte, auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach §§ 17, 18 FamFG zu gewähren gewesen.
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aa) Die Erforderlichkeit der Bestellung eines Verfahrenspflegers folgt aus § 276 Abs. 1 Satz 1 FamFG. Je weniger der Betroffene in der Lage ist, seine Interessen selbst wahrzunehmen, je eindeutiger erkennbar ist, dass die geplanten Betreuungsmaßnahmen gegen seinen natürlichen Willen erfolgen und je schwerer und nachhaltiger der beabsichtigte Eingriff in die Rechte des Betroffenen ist, um so dringender ist die Bestellung des Verfahrenspflegers erforderlich (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Dezember 2013 - XII ZB 280/11 -, NJW 2014, 787).
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Demnach war bereits das Amtsgericht verpflichtet, der Beschwerdeführerin einen Verfahrenspfleger zu bestellen, da sie deutliche Defizite im Bereich der Kritikfähigkeit und des Urteilsvermögens aufweist. Soweit das Amtsgericht von der Bestellung eines Verfahrenspflegers abgesehen hat, weil die Beschwerdeführerin in einem Schreiben mitgeteilt hatte, sie habe sich einen Rechtsanwalt genommen, ist dies nicht nachvollziehbar. Aus dieser Mitteilung konnte bei lebensnaher Würdigung nicht der Schluss gezogen werden, die Beschwerdeführerin sei tatsächlich in der Lage, ihre Interessen selbst wahrzunehmen. Denn die Beschwerdeführerin neigt nach den fachgerichtlichen Feststellungen gerade dazu, ihre Fähigkeiten zu überschätzen. Anhaltspunkte dafür, dass tatsächlich ein Rechtsanwalt beauftragt wurde, liegen auch nicht vor. Jedenfalls das Landgericht als Beschwerdeinstanz hätte bei der weiterhin nicht anwaltlich vertretenen Beschwerdeführerin nicht von der Bestellung eines Verfahrenspflegers absehen dürfen.
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bb) Der Beschwerdeführerin hätte vor diesem Hintergrund Wiedereinsetzung in die Rechtsbeschwerdefrist, § 71 Abs. 1 Satz 1 FamFG, gemäß § 17 Abs. 1 FamFG gewährt werden müssen. Soweit der Bundesgerichtshof einen Wiedereinsetzungsgrund knapp ablehnt, wird zwar auf die Gegenauffassung hingewiesen. Mit den in der als Gegenauffassung zitierten Literaturstelle (Heiderhoff, in: Bork/Jakoby/Schwab, FamFG, 3. Aufl. 2018, § 275 Rn. 4) angebrachten Erwägungen zur erforderlichen Bestellung eines Verfahrenspflegers zwecks Kompensation der Wirkungen des § 275 FamFG hat sich der Bundesgerichtshof aber nicht erkennbar auseinandergesetzt und damit das grundrechtliche Gebot des effektiven Rechtsschutzes nicht angemessen berücksichtigt.
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e) Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auch auf der nicht erfolgten Bestellung eines Verfahrenspflegers, obwohl diese zwingend geboten war. Denn es lässt sich nicht ausschließen, dass die Fachgerichte, insbesondere das Landgericht, nach Hinzuziehung eines Verfahrenspflegers aufgrund dessen Stellungnahme zu einer anderen Entscheidung gelangt wären.
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2. Die angegriffene Entscheidung des Bundesgerichtshofs ist gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben und die Sache ist zur erneuten Entscheidung an den Bundesgerichtshof zurückzuverweisen.
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3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung ergibt sich aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.
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