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BFH 13.09.2018 - III R 48/17
BFH 13.09.2018 - III R 48/17 - Billigkeitserlass bei Kindergeldrückforderung; Anrechnung des Kindergelds auf Sozialleistungen
Normen
§ 227 AO, § 11 SGB 2, § 68 Abs 1 EStG 2009, § 102 FGO, Art 20 Abs 1 GG, EStG VZ 2011
Vorinstanz
vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg, 12. Oktober 2017, Az: 10 K 10109/13, Urteil
Leitsatz
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Die gerichtliche Überprüfung einer den Billigkeitserlass einer Kindergeldrückforderung betreffenden Behördenentscheidung hat u.a. zu berücksichtigen, ob und inwieweit der Kindergeldberechtigte seine Mitwirkungspflichten erfüllte. Dies erfordert jedenfalls nähere Feststellungen dazu, auf welchem Tatbestand die Kindergeldfestsetzung beruhte und worin die Mitwirkungspflicht bestand .
Tenor
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Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 12. Oktober 2017 10 K 10109/13 aufgehoben.
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Die Sache wird an das Finanzgericht Berlin-Brandenburg zurückverwiesen.
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Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens übertragen.
Tatbestand
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I.
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Die Beteiligten streiten über einen Billigkeitserlass einer Kindergeldrückforderung gemäß § 227 der Abgabenordnung (AO) für den Zeitraum Januar 2011 bis April 2011 in Höhe von 736 €.
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Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist die Mutter des im September 1990 geboren Sohnes B, für den sie zunächst Kindergeld bezog. Nach den Feststellungen des Finanzgerichts (FG) teilte B dem Jobcenter am 5. Januar 2012 mit, er habe der Beklagten und Revisionsklägerin (Familienkasse) am 14. Oktober 2010 seinen Gesellenbrief übersandt.
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Im Zeitraum vom 1. Januar 2011 bis 30. Juni 2011 wurde das Kindergeld für B vom Jobcenter bei der Einkommensberechnung des B nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) berücksichtigt und auf die Leistungen angerechnet.
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Mit Bescheid vom 13. Oktober 2011 hob die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung ab Januar 2011 auf und forderte von der Klägerin die Rückzahlung des für den Zeitraum Januar 2011 bis April 2011 gezahlten Kindergeldes in Höhe von 736 €; zur Begründung führte sie aus, B habe eine Beschäftigung aufgenommen, die den Anspruch auf Kindergeld ausschließe.
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Im Juni 2012 beantragte die Klägerin, die Rückforderung zu erlassen. Dies lehnte die Familienkasse mit Bescheid vom 17. August 2012 ab. Dagegen wandte sich die Klägerin mit ihrem Einspruch vom 5. September 2012 und mit beim Sozialgericht erhobener Untätigkeitsklage vom 12. März 2013. Nachdem das Sozialgericht das Klageverfahren an das FG verwiesen hatte und die Familienkasse über den Einspruch am 14. Februar 2014 entschieden hatte, gab das FG der Klage statt; die Rückforderung sei aus sachlichen Billigkeitsgründen zu erlassen.
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Mit der Revision rügt die Familienkasse Verfahrensfehler und die Verletzung von Bundesrecht (§ 118 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Sie ist der Ansicht, das Urteil des FG beruhe auf einer mangelnden Sachverhaltsaufklärung. Weiterhin fehle es für die Zulässigkeit der Klage an einem nach § 44 Abs. 1 FGO erforderlichen Vorverfahren. Schließlich beruhe die Rückforderung auf einer Verletzung der Mitteilungspflicht der Klägerin, sodass eine Unbilligkeit ausscheide, da andernfalls eine Pflichtverletzung für Sozialhilfeempfänger stets folgenlos bliebe.
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Die Familienkasse beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
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II.
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Die Revision der Familienkasse ist begründet und führt zur Aufhebung der Vorentscheidung. Das FG ging zu Unrecht davon aus, dass die Klägerin keine Mitwirkungspflichten verletzt habe. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung an das FG zurückverwiesen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO).
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1. Die Entscheidung des FG ist nicht bereits deswegen aufzuheben, weil es an einem Vorverfahren gemäß § 44 Abs. 1 FGO gefehlt hätte. Denn ein solches wurde durchgeführt.
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Der Ablehnungsbescheid vom 17. August 2012 bezifferte die Ablehnung des Erlasses auf 736 €. Dagegen richtete sich der Einspruch, der durch Einspruchsentscheidung vom 14. Februar 2014 insgesamt als unbegründet zurückgewiesen wurde. Insofern wurde ein Vorverfahren über den Streitgegenstand --den Ablehnungsbescheid vom 17. August 2012-- durchgeführt. Dies gilt ungeachtet dessen, dass die Klägerin ursprünglich einen unbezifferten Erlassantrag "für die Monate Januar bis März 2011" gestellt hat. Denn eine Billigkeitsmaßnahme nach § 227 AO kann als gestaltender Verwaltungsakt auch ohne Antrag des Steuerpflichtigen ergehen (Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 4. Juli 1972 VII R 103/69, BFHE 106, 268, BStBl II 1972, 806). Im Übrigen hat hier die Familienkasse den Erlass von 736 € abgelehnt. Hiergegen richteten sich sowohl Einspruch als auch Klage.
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2. Die Entscheidung über den Erlass ist eine Ermessensentscheidung der Behörde (grundlegend: Beschluss des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70, BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603). Dem folgt die ständige Rechtsprechung des BFH zu § 227 AO (z.B. BFH-Urteile vom 29. August 1991 V R 78/86, BFHE 165, 178, BStBl II 1991, 906, Rz 15; vom 16. November 2005 X R 3/04, BFHE 211, 30, BStBl II 2006, 155, Rz 19; vom 19. April 2012 III R 85/11, BFH/NV 2012, 1411, Rz 12). Im finanzgerichtlichen Verfahren kann die behördliche Ermessensentscheidung nach § 102 FGO nur daraufhin überprüft werden, ob die Grenzen der Ermessensausübung eingehalten worden sind (Gräber/Stapperfend, Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl., § 102 Rz 15, m.w.N.).
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3. Eine Unbilligkeit aus sachlichen Gründen i.S. des § 227 AO ist anzunehmen, wenn die Geltendmachung eines Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis im Einzelfall zwar dem Wortlaut einer Vorschrift entspricht, aber nach dem Zweck des zugrunde liegenden Gesetzes nicht (mehr) zu rechtfertigen ist oder dessen Wertungen zuwiderläuft (sog. Gesetzesüberhang, vgl. BFH-Urteile vom 21. Oktober 1987 X R 29/81, BFH/NV 1988, 546, Rz 16; vom 20. Dezember 2000 II R 74/99, BFH/NV 2001, 1027, Rz 15; vom 21. Juni 2006 XI R 29/05, BFH/NV 2006, 1833, Rz 12; vom 5. Mai 2011 V R 39/10, BFH/NV 2011, 1474, Rz 15, und vom 24. April 2014 V R 52/13, BFHE 245, 105, BStBl II 2015, 106).
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4. Der BFH hat mehrfach darauf hingewiesen, dass ein Billigkeitserlass nach § 227 AO gerechtfertigt sein kann, wenn Kindergeld zurückgefordert wird, das bei der Berechnung der Höhe von Sozialleistungen als Einkommen angesetzt wurde, aber eine nachträgliche Korrektur der Leistungen nicht möglich ist (BFH-Urteile vom 15. März 2007 III R 54/05, BFH/NV 2007, 1298, Rz 36; vom 19. November 2008 III R 108/06, BFH/NV 2009, 357, Rz 11; vom 18. Dezember 2008 III R 93/06, BFH/NV 2009, 749, Rz 20; vom 30. Juli 2009 III R 22/07, BFH/NV 2009, 1983, Rz 16; vom 22. September 2011 III R 78/08, BFH/NV 2012, 204, Rz 24; vgl. auch BFH-Beschlüsse vom 6. Mai 2011 III B 130/10, BFH/NV 2011, 1353, Rz 6; vom 27. Dezember 2011 III B 35/11, BFH/NV 2012, 696, Rz 5; vom 23. Februar 2015 III B 41/14, BFH/NV 2015, 658, Rz 5).
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5. Das FG hat im vorliegenden Fall zu Unrecht einen Anspruch der Klägerin auf Billigkeitserlass bejaht. Es bestand im Streitfall keine Ermessensreduktion auf Null dahingehend, dass nur ein Erlass das einzig mögliche Ergebnis der Ermessensausübung sein konnte.
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a) Ob ein Gesetzesüberhang, der einen Billigkeitserlass rechtfertigt, anzunehmen ist, wenn ein Kindergeldberechtigter seiner Mitwirkungspflicht nachgekommen ist und das Kindergeld ohne dessen Verschulden weitergewährt wurde, ist bislang nicht höchstrichterlich entschieden. Denkbar sind Konstellationen, in denen der Rückforderungsanspruch aufgrund eines über Gebühr langen Zuwartens der Familienkasse entstanden ist oder sich erhöht hat (vgl. FG Düsseldorf, Urteil vom 6. März 2014 16 K 3046/13 AO, Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 2014, 977, Rz 24; FG Bremen, Urteil vom 28. August 2014 3 K 9/14 (1), EFG 2014, 1944, Rz 72; FG Münster, Urteil vom 12. Dezember 2016 13 K 91/16 Kg, Rz 36) oder in denen die Familienkasse aus den ihr bekannten Tatsachen die unzutreffenden Schlüsse gezogen hat (vgl. FG Düsseldorf, Urteil vom 22. September 2011 16 K 1279/11 Kg,AO, EFG 2011, 2176). Von Bedeutung kann auch sein, ob ein Beteiligter eine falsche Auskunft erteilt, einen gebotenen Hinweis unterlassen hat (vgl. BFH-Urteil vom 15. März 2007 III R 54/05, BFH/NV 2007, 1298, Rz 36) oder ob eine gebotene Rückfrage an den Kindergeldberechtigten unterblieben ist (vgl. FG Düsseldorf, Urteil in EFG 2014, 977, Rz 24; FG Bremen, Urteil in EFG 2014, 1944, Rz 72; FG Münster, Urteil vom 12. Dezember 2016 13 K 91/16 Kg, Rz 36).
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b) Im Streitfall tragen indessen die tatsächlichen Feststellungen des FG nicht dessen Würdigung, dass die Klägerin ihre Mitwirkungspflichten gemäß § 68 Abs. 1 EStG erfüllt hat.
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aa) Die finanzrichterliche Überzeugungsbildung ist revisionsrechtlich zwar nur eingeschränkt auf Verstöße gegen Denkgesetze und allgemeine Erfahrungssätze überprüfbar. Das FG hat aber im Einzelnen darzulegen, wie und dass es seine Überzeugung in rechtlich zulässiger und einwandfreier Weise gewonnen hat. Die subjektive Gewissheit des Tatrichters vom Vorliegen eines entscheidungserheblichen Sachverhalts ist nur dann ausreichend und für das Revisionsgericht bindend, wenn sie auf einer logischen, verstandesmäßig einsichtigen Beweiswürdigung beruht, deren nachvollziehbare Folgerungen den Denkgesetzen entsprechen und von den festgestellten Tatsachen getragen werden. Fehlt es an einer tragfähigen Tatsachengrundlage für die Folgerungen in der tatrichterlichen Entscheidung oder fehlt die nachvollziehbare Ableitung dieser Folgerungen aus den festgestellten Tatsachen und Umständen, so liegt ein Verstoß gegen die Denkgesetze vor, der als Fehler der Rechtsanwendung ohne besondere Rüge vom Revisionsgericht beanstandet werden kann (BFH-Urteil vom 8. Juli 2015 VI R 77/14, BFHE 250, 518, BStBl II 2016, 60, Rz 26).
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bb) Im vorliegenden Fall fehlt es sowohl im Hinblick auf die Annahme des FG, es liege im Streitfall keine Mitwirkungs- und Mitteilungspflichtenverletzung der Klägerin vor, als auch bezüglich der Feststellung, die Familienkasse habe mit dem Aufhebungsbescheid über Gebühr zeitlich zugewartet, an der Nachvollziehbarkeit in diesem Sinne. Das FG führt lediglich aus, dass laut einem Schreiben des B vom 5. Januar 2012 dieser der Familienkasse seinen Gesellenbrief übersandt habe. Ebenso wenig ist nachvollziehbar, woraus das FG folgert, dass die Familienkasse mit der Kindergeldaufhebung zeitlich über Gebühr zugewartet habe, da aus den Feststellungen bereits nicht hervorgeht, wann der Gesellenbrief übersandt worden sein soll. Hieraus ergibt sich nicht, dass die Klägerin ihre Mitwirkungspflichten gemäß § 68 Abs. 1 EStG erfüllt hat. Denn hierzu hätte zunächst festgestellt werden müssen, auf welchem Berücksichtigungsgrund die Kindergeldfestsetzung beruhte und worin die Mitwirkungspflicht bestand. So könnte bei einer Berücksichtigung des B durch die Familienkasse als arbeitssuchend gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 EStG von einer Erfüllung der Mitwirkungspflicht gemäß § 68 Abs. 1 EStG erst dann ausgegangen werden, wenn die Abmeldung bei der Agentur für Arbeit im Inland als Arbeitssuchender mitgeteilt wurde. Die Übersendung des Gesellenbriefes erbrächte hingegen keine Auskunft über die Meldung bei der Agentur für Arbeit.
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6. Das Urteil des FG, das auf den fehlerhaften Feststellungen beruht, kann nach den vorstehenden Grundsätzen keinen Bestand haben. Die Sache ist nicht spruchreif und wird zur anderweitigen Verhandlung an das FG zurückverwiesen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO). Das FG wird die notwendigen Feststellungen bezüglich der Mitwirkungspflichtverletzung treffen müssen, um eine Entscheidung unter Berücksichtigung der oben stehenden Grundsätze treffen zu können.
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7. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG folgt aus § 143 Abs. 2 FGO.
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