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BFH 23.08.2016 - V R 31/14
BFH 23.08.2016 - V R 31/14 - Kindergeld: Persönliche Anspruchsberechtigung bei grenzüberschreitenden Sachverhalten
Normen
§ 62 Abs 1 Nr 1 EStG 2009, § 64 Abs 2 S 1 EStG 2009, Art 67 S 1 EGV 883/2004, Art 60 Abs 1 S 2 EGV 987/2009, EStG VZ 2011, EStG VZ 2012
Vorinstanz
vorgehend FG Köln, 23. April 2013, Az: 1 K 3282/12, Urteil
Leitsatz
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NV: Die Fiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 VO Nr. 987/2009 führt dazu, dass der Anspruch auf Kindergeld nicht dem in Deutschland, sondern dem im EU-Ausland lebenden Elternteil zusteht, wenn dieser das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (Anschluss an BFH-Urteil vom 4. Februar 2016 III R 17/13, BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612).
Tenor
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Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Köln vom 23. April 2013 1 K 3282/12 aufgehoben.
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Die Sache wird wegen des Kindergeldes für das Kind D an das Finanzgericht Köln zurückverwiesen.
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Diesem wird insofern die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens übertragen.
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Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
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Insofern hat die Kosten des gesamten Verfahrens der Kläger zu tragen.
Tatbestand
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I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist italienischer Staatsbürger, der in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) lebt und nichtselbständig tätig ist. Seine im April 1987 geborene Tochter D studierte 2011 und 2012 in Italien und unterhält dort einen eigenen Haushalt. Sein 1991 geborener Sohn V lebte 2011 und 2012 in Italien im Haushalt der vom Kläger dauernd getrennt lebenden Kindsmutter und besuchte dort eine Schule. Die Kindsmutter ist italienische Staatsangehörige und nichtselbständig tätig. Italienische Familienleistungen bezieht sie nicht.
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Die Rechtsvorgängerin der Beklagten und Revisionsklägerin (Familienkasse) lehnte einen Antrag des Klägers auf Kindergeld für D und V ab, da die Kindsmutter einen vorrangigen Anspruch auf Kindergeld habe. Den dagegen eingelegten Einspruch wies sie mit Einspruchsentscheidung vom 19. September 2012 zurück. Der daraufhin erhobenen Klage gab das Finanzgericht (FG) mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2014, 1801 veröffentlichten Urteil statt. Dagegen wendet sich die Familienkasse mit der Revision.
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Der Senat hat das Verfahren mit Beschluss vom 19. November 2014 bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) in der Rechtssache Trapkowski, C-378/14 ausgesetzt. Nach Veröffentlichung des EuGH-Urteils Trapkowski vom 22. Oktober 2015 C-378/14 (EU:C:2015:720, Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst --DStRE-- 2015, 1501) hat der Senat das Verfahren wieder aufgenommen und den Beteiligten Gelegenheit gegeben, sich zu dem EuGH-Urteil zu äußern. Die Familienkasse ist der Auffassung, der EuGH habe ihren Rechtsstandpunkt bestätigt.
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Die Familienkasse beantragt,
das FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
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Nach den nationalen Regelungen habe nur er, der Kläger, einen Kindergeldanspruch, nicht aber die Kindsmutter, da sie weder einen Wohnsitz noch einen ständigen Aufenthalt im Inland habe. Aus dem Unionsrecht könne nichts anderes hergeleitet werden. Dessen Anwendung setze konkurrierende Ansprüche nach dem Recht mehrerer Mitgliedstaaten voraus, woran es im Streitfall fehle. Der Kläger sieht seine Auffassung auch durch das EuGH-Urteil bestärkt.
Entscheidungsgründe
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II. Die Revision ist begründet und führt zur Aufhebung des FG-Urteils und Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--) hinsichtlich des Kindergeldes für das Kind V sowie zur Zurückverweisung der Klage an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung hinsichtlich des Kindergeldes für das Kind D (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO). Das FG-Urteil verletzt § 64 Abs. 2 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes in der im Streitjahr geltenden Fassung (EStG). Danach hat der Kläger keinen Anspruch auf Kindergeld für V. Es verletzt zudem § 64 Abs. 3 EStG, wonach sich der Anspruch auf Kindergeld für D nach der Höhe der Unterhaltszahlungen an D richtet. Insoweit bedarf es aber weiterer Feststellungen.
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1. Der Kläger ist zwar kindergeldberechtigt, weil er in Deutschland lebt und Vater einer Tochter und eines Sohnes ist, die ihren Wohnsitz in Italien haben (§ 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 3 EStG) und für die ein Anspruch auf Kindergeld besteht, da sie eine Schule oder Hochschule besuchten (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG).
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Der Kläger hat aber für V keinen Anspruch auf Zahlung des Kindergeldes; denn mit Blick auf das Unionsrecht ist nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG die Kindsmutter vorrangig anspruchsberechtigt. Über einen Anspruch auf Kindergeld für D kann der Senat mangels hinreichender Feststellungen nicht abschließend entscheiden.
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a) Nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG wird bei mehreren Berechtigten das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat.
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b) Eine Person hat nach Art. 67 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO Nr. 883/2004) --wie hier der Kläger nach Art. 2 Abs. 1 VO Nr. 883/2004-- Anspruch auf Familienleistungen (wie hier Kindergeld nach Art. 1 Buchst. z, Art. 3 Abs. 1 Buchst. j VO Nr. 883/2004) nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats (hier: Deutschland gemäß Art. 11 Abs. 3 Buchst. a VO Nr. 883/2004), auch für Familienangehörige, die zwar in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, die aber so behandelt werden, als wohnten sie im zuständigen Mitgliedstaat. Denn bei der Anwendung von Art. 67 und 68 VO Nr. 883/2004 ist nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO Nr. 987/2009) die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle Beteiligten --insbesondere was das Recht zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt-- unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats (hier: Deutschland) fallen und dort wohnen (dazu eingehend EuGH-Urteil Trapkowski, EU:C:2015:720, DStRE 2015, 1501).
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Diese Fiktion führt dazu, dass der Anspruch auf Kindergeld nicht dem in Deutschland, sondern dem im EU-Ausland lebenden Elternteil zusteht, wenn dieser das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (vgl. dazu im Einzelnen Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 4. Februar 2016 III R 17/13, BFHE 253, 234, BStBl II 2016, 612).
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c) So verhält es sich im Streitfall hinsichtlich V: er lebte im Haushalt der ebenfalls kindergeldberechtigten Kindsmutter, so dass der Kläger keinen Anspruch auf Auszahlung des Kindergeldes hat. Entgegen der Auffassung des Klägers ist Art. 60 Abs. 1 Satz 2 VO Nr. 987/2009 bereits über Art. 67 VO Nr. 883/2004 anwendbar und setzt keine Konkurrenzsituation nach Art. 68 VO Nr. 883/2004 voraus (EuGH-Urteil Trapkowski, EU:C:2015:720, DStRE 2015, 1501, Rz 35 ff.; BFH-Urteil vom 10. März 2016 III R 62/12, BFHE 253, 236, BStBl II 2016, 616, Rz 21).
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d) Hinsichtlich D ergibt sich nicht schon aus § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG, dass die Kindsmutter vorrangig anspruchsberechtigt ist. Da D einen eigenen Haushalt innehatte, war sie nicht in den Haushalt der Kindsmutter aufgenommen.
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Der Anspruch auf Kindergeld für D bestimmt sich vielmehr nach § 64 Abs. 3 EStG. Ist das Kind nicht in den Haushalt eines Berechtigten aufgenommen, erhält das Kindergeld grundsätzlich derjenige, der dem Kind eine Unterhaltsrente zahlt (§ 64 Abs. 3 Satz 1 EStG). Das FG hat bisher nicht festgestellt, ob und in welcher Höhe der Kläger und die Kindsmutter eine Unterhaltsrente an D gezahlt haben. Diese Feststellungen sind nunmehr im zweiten Rechtsgang nachzuholen.
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 und § 143 Abs. 2 FGO.
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