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BFH 04.06.2012 - VI B 10/12
BFH 04.06.2012 - VI B 10/12 - Verfahrensmangel wegen unvollständiger Sachverhaltsaufklärung - Beteiligtenvernehmung
Normen
§ 76 Abs 1 S 1 FGO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO, § 116 Abs 6 FGO, § 81 Abs 1 FGO, § 82 FGO, § 450 ZPO, §§ 450ff ZPO
Vorinstanz
vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht, 14. Dezember 2011, Az: 9 K 389/10, Urteil
Leitsatz
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NV: Die Verpflichtung zur Erforschung des Sachverhalts gebietet zwar nicht, fern liegenden Überlegungen und Erwägungen nachzugehen. Soweit sich allerdings aus den beigezogenen Akten, dem Beteiligtenvorbringen und sonstigen Umständen Fragen zum entscheidungserheblichen Sachverhalt aufdrängen, muss das Finanzgericht diesen auch ohne entsprechenden Hinweis nachgehen.
Tatbestand
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I. Im finanzgerichtlichen Verfahren war u.a. streitig, ob die von den Klägern und Beschwerdeführern (Kläger) selbst erhobene Klage rechtzeitig durch Einwurf in den Briefkasten des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt --FA--) erhoben worden war.
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Die Klage richtete sich gegen die Einkommensteuerbescheide der Jahre 1997 bis 2000 sowie 2003 in der Fassung der Einspruchsentscheidungen vom 6. September 2010. Die Einspruchsentscheidungen waren nach den Feststellungen des Niedersächsischen Finanzgerichts (FG) am selben Tag zur Post gegeben worden. Die Klage war ausweislich des Eingangsstempels am 12. Oktober 2010 beim FG eingegangen. Die Klageschrift und eine Vollmacht befanden sich in einem unfrankierten DIN A5 Umschlag, der an das FG in Hannover unter Angabe der Straße und Postleitzahl adressiert war.
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Die Kläger tragen dazu vor, dass der Kläger den Briefumschlag, in dem sich die Klageschrift befunden habe, am Samstag, den 9. Oktober 2010, persönlich in den Briefkasten der Außenstelle des FA eingeworfen habe.
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Das FG hat die Klage als unzulässig abgewiesen. Die Einspruchsentscheidungen seien unstreitig am 6. September 2010 vom FA zur Post gegeben worden. Nach § 122 Abs. 2 der Abgabenordnung gälten sie daher als am 9. September 2010 als bekannt gegeben, so dass die Klagefrist mit Ablauf des 11. Oktober 2010 (Montag) geendet habe. Deshalb sei die Klageschrift, die ausweislich des Eingangsstempels erst am 12. Oktober 2010 beim FG eingegangen sei, verspätet erhoben worden. Im Streitfall sei die Frist auch nicht durch Erhebung der Klage nach § 47 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) als gewahrt anzusehen. Denn nach Aktenlage sei nicht feststellbar und von den Klägern auch nicht nachgewiesen, dass die Klageschrift, wie von den Klägern behauptet, am 9. September 2010 in den Briefkasten der Außenstelle des FA eingeworfen worden sei. Nach dem üblichen Ablauf im FA hätte sich in diesem Falle ein Eingangsstempel des FA auf der Klageschrift bzw. auf dem Briefumschlag befinden müssen. Dies sei indessen nicht der Fall.
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Die Kläger wenden sich gegen das Urteil des FG mit der Nichtzulassungsbeschwerde und machen Verfahrensmängel geltend. Das FG habe den Sachverhalt nicht aufgeklärt, obwohl dazu Anlass bestanden habe. Zur weiteren Aufklärung habe insbesondere auch Anlass bestanden, weil der Kläger für den von ihm geschilderten Ablauf eine eidesstattliche Versicherung abgegeben habe. Diese eidesstattliche Versicherung sei in der finanzgerichtlichen Entscheidung weder im Tatbestand erwähnt noch inhaltlich gewürdigt worden.
Entscheidungsgründe
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II. Die Beschwerde ist begründet. Die Vorentscheidung beruht auf einem Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO. Das angefochtene finanzgerichtliche Urteil wird gemäß § 116 Abs. 6 FGO aufgehoben und der Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
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1. Das FG hat den entscheidungserheblichen Sachverhalt nicht vollständig aufgeklärt und damit gegen § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO verstoßen.
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a) Nach § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO hat das FG den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen und gemäß § 81 Abs. 1 Satz 2 FGO die erforderlichen Beweise zu erheben. Dabei hat es den entscheidungserheblichen Sachverhalt so vollständig wie möglich und bis zur Grenze des Zumutbaren, d.h. unter Ausnutzung aller verfügbaren Beweismittel, aufzuklären.
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Diesen Anforderungen ist im Streitfall nicht entsprochen. Die verfahrensrechtlich dem FG als Tatsacheninstanz aufgegebene Verpflichtung zur Erforschung des Sachverhalts gebietet zwar nicht, auch fern liegenden Überlegungen und Erwägungen nachzugehen. Soweit sich allerdings aus den beigezogenen Akten, dem Beteiligtenvorbringen und sonstigen Umständen Fragen zum entscheidungserheblichen Sachverhalt aufdrängen, muss das FG auch ohne entsprechenden Hinweis der Beteiligten den Sachverhalt dahingehend weiter erforschen und auch entsprechende Beweise erheben (vgl. Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 10. Januar 2007 X B 113/06, BFH/NV 2007, 935; Gräber/ Stapperfend, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 76 Rz 20; jeweils m.w.N.).
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b) Von einem solchen weiter aufklärungsbedürftigen Sachverhalt ist im Streitfall auszugehen. Denn angesichts der entscheidungserheblichen Frage, ob der Briefumschlag mit der darin befindlichen Klageschrift tatsächlich, wie vom Kläger vorgetragen, beim FA eingeworfen wurde, drängt sich die weitere Sachverhaltsaufklärung dazu auf, ob und inwieweit die Schilderung des FA hinsichtlich der Usancen der Weiterleitung von dort eingegangener, aber für das FG bestimmter Post zum einen zutrifft und zum anderen in der täglichen Praxis von den Bediensteten des FA tatsächlich auch so gehandhabt worden war. Dies gilt insbesondere deshalb, weil sich Zweifel an dieser Schilderung daraus ergeben, dass unter Berücksichtigung des Sachverhalts, den das FG in seiner Entscheidung als Geschehensablauf zu Grunde gelegt hatte, völlig ungeklärt bleibt, auf welchem Weg die Klageschrift das FG erreicht hatte. Denn der bei den finanzgerichtlichen Akten befindliche Umschlag, der die Klageschrift samt Vollmacht enthielt, war unfrankiert und an das FG unmittelbar adressiert. Eine nahe liegende Erklärung dafür wäre, dass der Vortrag des Klägers zutrifft, die Klageschrift tatsächlich beim FA eingeworfen zu haben, das FA dann diese samt Umschlag an das FG weitergeleitet hatte und dabei versehentlich kein entsprechender Stempel aufgebracht worden war. Davon ging das FG allerdings nicht aus. Es hat sich vielmehr die Schilderung des FA zum üblichen Ablauf der Weiterleitung dort eingegangener, aber für das FG bestimmter Schriftstücke zu Eigen gemacht. Fraglich erscheint allerdings, auf Grundlage welcher konkreten Umstände das FG zu der Überzeugung gelangen konnte, dass dies hier tatsächlich so war. Feststellungen dazu hat das FG nicht getroffen, insbesondere nicht die mit dem Posteingang und der Postweiterleitung betrauten Bediensteten dazu befragt. Angesichts des insoweit ungeklärten Geschehensablaufs bestand Anlass zu der begründeten Annahme, dass der vom FG angenommene Sachverhalt sich tatsächlich so nicht abgespielt haben könnte. Dann musste das FG von Amts wegen hierzu weitere Ermittlungen anstellen.
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c) Angesichts dessen kann für den Streitfall dahinstehen, ob sich die Verpflichtung zu einer weiteren Sachverhaltsaufklärung auch aus dem Umstand ergeben könnte, dass der Kläger zu den tatsächlichen Abläufen hinsichtlich der Anbringung der Klage eine eidesstattliche Versicherung abgegeben hatte, sowie ob das FG möglicherweise ermessensfehlerhaft auf die Vernehmung des Klägers als Beteiligten verzichtet hatte. Zutreffend verweist das FA insoweit zwar auf die Rechtsprechung des BFH, wonach die Beteiligtenvernehmung (§§ 81 Abs. 1 und 82 FGO, §§ 450 ff. der Zivilprozessordnung) nur ein letztes Hilfsmittel zur Aufklärung des Sachverhalts ist und insbesondere nicht dazu dient, den Beteiligten Gelegenheit zu geben, ihre eigenen Behauptungen zu bestätigen und zu beeiden (BFH-Beschluss vom 24. März 2011 IV B 115/09, BFH/NV 2011, 1167). Deshalb kann nach dieser Rechtsprechung die Vernehmung der Beteiligten unterbleiben, wenn sich das Gericht mit Hilfe anderer Beweismittel eine Überzeugung bilden kann oder wenn keine Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit des Vorbringens spricht. Allerdings hat das Revisionsgericht doch zu überprüfen, ob die Vorinstanz ihr Ermessen sachgemäß ausgeübt hat (vgl. BFH-Beschluss vom 19. Mai 2008 IV B 88/07, BFH/NV 2008, 1685).
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2. Der Senat hält es für sachgerecht, nach § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
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