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BFH 01.12.2011 - I B 80/11
BFH 01.12.2011 - I B 80/11 - Verlust des Rügerechts bei nicht durch rechtskundige Bevollmächtigte vertretenen Beteiligten
Normen
§ 115 Abs 2 Nr 3 FGO, § 155 FGO, § 295 ZPO, § 162 AO
Vorinstanz
vorgehend FG Münster, 13. April 2011, Az: 10 K 4217/06 K,G,F, Urteil
Leitsatz
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1. NV: Die Grundsätze über den Verlust des Rügerechts durch Unterlassen der Geltendmachung eines Verfahrensmangels in der mündlichen Verhandlung gelten für nicht durch rechtskundige Bevollmächtigte vertretene Beteiligte nur, wenn der Verfahrensmangel bei einer Wertung in der "Laiensphäre" erkennbar ist.
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2. NV: Ein solcher Fall kann vorliegen, wenn der Beteiligte in der mündlichen Verhandlung vor dem FG nicht die Einholung eines Sachverständigengutachtens anmahnt, obwohl das Gericht die betreffende Beweisfrage (hier: Wert eines Geschäftsanteils) für ihn erkennbar aus eigener Kompetenz beantworten möchte.
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3. NV: Methodische Fehler in Rahmen einer Schätzung sind, auch wenn es sich um Verstöße gegen Denkgesetze handelt, materiell-rechtlicher Natur und ermöglichen keine Revisionszulassung wegen Verfahrensmangels.
Tatbestand
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I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin), eine im Immobilienbereich tätige GmbH, gewährte ihrer alleinigen Gesellschafterin und Geschäftsführerin A Darlehen, die sie in das für A gebildete Verrechnungskonto einstellte. Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) beurteilte die Darlehen für die Zeit ab 1998 zum Teil als verdeckte Gewinnausschüttungen (vGA), weil nach den persönlichen Verhältnissen der A ab diesem Zeitpunkt insoweit keine Rückzahlungsabsicht bzw. -fähigkeit mehr bestanden habe. Er erließ für die Streitjahre (1999 bis 2001) entsprechend geänderte ertragsteuerliche Bescheide. Die deswegen erhobene Klage hatte zum Teil Erfolg; das Finanzgericht (FG) Münster ist von geringeren vGA-Beträgen ausgegangen; die weiter gehende Klage hat es mit Urteil vom 13. April 2011 10 K 4217/06 K,G,F abgewiesen.
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Die Klägerin beantragt mit ihrer Beschwerde die Zulassung der Revision gegen das FG-Urteil und stützt ihr Begehren auf alle in § 115 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) aufgeführten Zulassungsgründe.
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Das FA beantragt, die Nichtzulassungsbeschwerde zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
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II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unbegründet. Die geltend gemachten Zulassungsgründe liegen --soweit sie von der Klägerin hinreichend dargetan worden sind-- nicht vor.
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1. Die Klägerin macht als Verfahrensmangel gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO geltend, das FG sei nicht befugt gewesen, den Wert der Geschäftsanteile der Klägerin (als Bestandteil des für die Fähigkeit der A zur Forderungstilgung einsetzbaren Vermögens) nach § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO i.V.m. § 162 der Abgabenordnung unter rudimentärer Anwendung der sog. Ertragswertmethode zu schätzen. Vielmehr hätte das Gericht ein Sachverständigengutachten zum Wert der Geschäftsanteile einholen müssen (Verletzung der Sachaufklärungspflicht, § 76 Abs. 1 FGO). Dem ist nicht zu folgen.
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a) Soweit die Klägerin meint, eine Schätzung des Anteilswerts sei mangels Beweisnotstands von vornherein unzulässig gewesen, kann dem nicht gefolgt werden. Da konkrete Kaufangebote nicht vorlagen und die Geschäftsanteile der Klägerin nicht an einer Börse notiert waren, konnte der Anteilswert notgedrungen nur annäherungsweise ermittelt ("geschätzt") werden. Bei den für die Unternehmenswertermittlung vorstellbaren Methoden (z.B. Ertragswertmethode, Substanzwertmethode, auch bei dem von der Klägerin präferierten sog. Stuttgarter Verfahren) handelt es sich im Grunde um Schätzungsmethoden (vgl. Buciek in Beermann/ Gosch, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 162 AO Rz 26 "Bewertung"). Auch ein gerichtlich bestellter Sachverständiger nimmt folglich, wenn er unter Anwendung einer dieser Methoden einen bestimmten Unternehmens- oder Anteilswert ermittelt, eine Schätzung vor.
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b) Mit ihrer Rüge, das FG habe den Anteilswert nicht selbst ermitteln dürfen, sondern sich --entsprechend ihrer schriftsätzlichen Anregung-- eines Sachverständigen bedienen müssen, kann die Klägerin schon deshalb nicht gehört werden, weil sie ihr Rügerecht verloren hat. Ein Verfahrensmangel kann nicht mehr mit Erfolg geltend gemacht werden, wenn er eine Verfahrensvorschrift betrifft, auf deren Beachtung die Prozessbeteiligten verzichten können und verzichtet haben (§ 155 FGO i.V.m. § 295 der Zivilprozessordnung). Zu diesen verzichtbaren Mängeln gehört auch eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht (vgl. Senatsbeschlüsse vom 19. Juli 2010 I B 130/09, BFH/NV 2010, 2282; vom 11. Januar 2011 I B 87/10; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 115 Rz 101, m.w.N.). Bei verzichtbaren Verfahrensmängeln geht das Rügerecht nicht nur durch eine ausdrückliche oder konkludente Verzichtserklärung gegenüber dem FG verloren, sondern auch durch das bloße Unterlassen einer rechtzeitigen Rüge; ein Verzichtswille ist dafür nicht erforderlich. Der Verfahrensmangel muss in der (nächsten) mündlichen Verhandlung gerügt werden, in der der Rügeberechtigte erschienen ist; verhandelt er zur Sache, ohne den Verfahrensmangel zu rügen, obwohl er den Mangel kannte oder kennen musste, verliert er das Rügerecht (Senatsbeschluss vom 26. Mai 2009 I B 20/09, juris; Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 1. September 2008 IV B 4/08, BFH/NV 2009, 35; Gräber/Ruban, a.a.O., § 115 Rz 103, m.w.N.). Diese Grundsätze gelten für nicht durch rechtskundige Prozessbevollmächtigte vertretene Beteiligte allerdings nur, soweit der betreffende Verfahrensverstoß auch bei einer entsprechenden Wertung in der "Laiensphäre" erkennbar ist (vgl. BFH-Beschluss vom 29. Oktober 2008 VII B 46/08, BFH/NV 2009, 120; Gräber/Ruban, a.a.O., § 115 Rz 103).
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Ein Rügeverzicht liegt hier vor. Denn anhand des Protokolls über die mündliche Verhandlung vor dem FG vom 13. April 2011 ist nicht ersichtlich, dass die durch ihren Geschäftsführer vertretene Klägerin die Nichteinholung eines Sachverständigengutachtens gerügt hat. Dafür hätte aber auch aus der Sicht des nicht rechtskundigen Geschäftsführers der Klägerin Anlass bestanden. Denn nach den Angaben in der Beschwerdebegründung hatte das FG den Wert der Geschäftsanteile bereits im Rahmen eines Verfahrens über die Aussetzung der Vollziehung summarisch geschätzt. Da die Einzelheiten der Anteilsbewertung ein wesentlicher Gesichtspunkt im Rahmen der schriftsätzlichen Auseinandersetzung der Beteiligten vor dem FG waren und nichts dafür ersichtlich ist, dass das FG in der mündlichen Verhandlung den Eindruck erweckt haben könnte, es werde noch ein Sachverständigengutachten einholen, musste dem Prozessvertreter der Klägerin klar gewesen sein, dass das FG den Anteilswert auch im Hauptsacheverfahren ohne Hinzuziehung eines Sachverständigen ermitteln würde. Soweit die Klägerin vorbringt, sie sei von der Schätzung des FG überrascht worden, kann sich die Überraschung mithin lediglich auf das Endergebnis der Schätzung, nicht aber darauf bezogen haben, dass das FG den Anteilswert selbständig ermitteln würde.
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2. Aus dem Vorstehenden folgt zugleich, dass das FG entgegen der Rüge der Klägerin in Zusammenhang mit der Wertermittlung nicht deren Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 96 Abs. 2 FGO, Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes) verletzt hat. Eine unzulässige Überraschungsentscheidung liegt nur vor, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt gestützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hat, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht rechnen mussten. Der Anspruch auf rechtliches Gehör verlangt jedoch nicht, dass das Gericht die maßgeblichen rechtlichen Gesichtspunkte mit den Beteiligten umfassend erörtert. Das Gericht ist grundsätzlich weder zu einem Rechtsgespräch noch zu einem Hinweis auf seine Rechtsauffassung verpflichtet (vgl. z.B. Senatsbeschluss vom 2. April 2008 I B 197/07, BFH/NV 2008, 1355).
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Das FG hat den Wert der Geschäftsanteile der Klägerin anhand der den Beteiligten bekannten Parameter abgeleitet und sich dabei auch mit den Einwendungen der Klägerin befasst. Es war unter dem Gesichtspunkt der Gewährung rechtlichen Gehörs nicht gehalten, das Ergebnis ihrer Wertermittlung mit den Beteiligten vorab zu erörtern (vgl. BFH-Beschluss vom 1. April 2008 X B 92/07, BFH/NV 2008, 1337).
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3. Bei den von der Klägerin behaupteten methodischen Fehlern des FG bei der Wertermittlung würde es sich nicht um Verfahrensmängel i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO, sondern um materiell-rechtliche Fehler handeln, die eine Revisionszulassung grundsätzlich nicht rechtfertigen; das gilt auch im Hinblick auf die angeblichen Verstöße gegen Denkgesetze und Zirkelschlüsse (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 15. April 2008 IX B 154/07, BFH/NV 2008, 1340; Gräber/Ruban, a.a.O., § 115 Rz 83, m.w.N.).
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Ein zur Zulassung der Revision berechtigender erheblicher Rechtsfehler bei Schätzungen aufgrund objektiver Willkür kann allenfalls in Fällen bejaht werden, in denen das Schätzungsergebnis des FG wirtschaftlich unmöglich und damit schlechthin unvertretbar ist; ein Verstoß gegen Denkgesetze führt erst dann zur Zulassung der Revision wegen willkürlich falscher Rechtsanwendung, wenn sich das Ergebnis der Schätzung als offensichtlich realitätsfremd darstellt (BFH-Beschluss in BFH/NV 2008, 1337; Gräber/Ruban, a.a.O., § 115 Rz 70, m.w.N.). Solches hat die Klägerin in ihrer Beschwerdebegründung nicht substantiiert dargetan und ist für den Senat nicht erkennbar.
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4. Das Begehren der Klägerin, im Hinblick auf die Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) bzw. der Erforderlichkeit einer Entscheidung des BFH zur Fortbildung des Rechts (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO) zu klären, ob ein FG einen Unternehmenswert schätzen darf oder nicht, geht aus den oben zu II.1.a genannten Gründen ins Leere. Die Frage, inwiefern ein FG eine solche Schätzung selbst vornehmen darf oder ob es dabei einen Sachverständigen hinzuziehen muss, ist im Streitfall aus den zu II.1.b genannten Gründen nicht klärungsfähig. Im Übrigen hängen die jeweiligen Spielräume des Tatrichters von den Umständen des betreffenden Einzelfalls ab und entziehen sich deshalb der von der Klägerin angestrebten Verallgemeinerung.
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5. Die geltend gemachte Divergenz des angefochtenen Urteils zu dem BFH-Urteil vom 6. Februar 1991 II R 87/88 (BFHE 163, 471, BStBl II 1991, 459) wegen der Wahl der Ertragswertmethode hat die Klägerin nicht den Anforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO entsprechend dargetan. Es fehlt an einer Gegenüberstellung von divergierenden abstrakten Rechtssätzen aus der BFH-Entscheidung mit solchen des FG-Urteils (vgl. Gräber/Ruban, a.a.O., § 116 Rz 42, m.w.N.). Im Übrigen betrifft das BFH-Urteil nicht die für die Frage der tatsächlichen Verwertungsfähigkeit maßgebliche zivilrechtliche-, sondern die bewertungsrechtliche Wertermittlung. Zu dem von der Klägerin zur Anwendung im Streitfall präferierten sog. Stuttgarter Verfahren zur Anteilsbewertung wird zudem auf die Ausführungen im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 7. November 2006 1 BvL 10/02 (BVerfGE 117, 1, BStBl II 2007, 192, unter C.II.3.) verwiesen.
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6. Von einer weiter gehenden Begründung wird gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO abgesehen.
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