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BVerfG 18.12.2024 - 1 BvR 2116/24
BVerfG 18.12.2024 - 1 BvR 2116/24 - Nichtannahmebeschluss: Verweigerung oder erheblicher Verzögerung der Beschwerdeentscheidung (§ 304 StPO) bzgl der Anordnung von Vermögensarrest (§ 111e StPO) begegnet erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken - drohende Verletzung des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz (Art 19 Abs 4 S 1 GG)
Normen
Art 19 Abs 4 S 1 GG, § 23 Abs 1 S 2 BVerfGG, § 92 BVerfGG, § 73c S 1 StGB, §§ 304ff StPO, § 111e StPO, § 275 Abs 1 S 2 StPO, § 304 StPO
Vorinstanz
vorgehend BVerfG, 19. September 2024, Az: 1 BvR 2116/24, Ablehnung einstweilige Anordnung
vorgehend LG Mannheim, 8. Mai 2024, Az: 24 KLs 829 Js 13168/18, Beschluss
vorgehend AG Mannheim, 9. März 2022, Az: 41 Gs 521/22, Beschluss
vorgehend AG Mannheim, 13. August 2021, Az: 41 Gs 1786/21, Beschluss
Tenor
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Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe
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Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ist vor allem die zwischenzeitliche Untätigkeit eines Beschwerdegerichts im Hinblick auf die Entscheidung über die Beschwerde gegen einen strafprozessualen Vermögensarrest als Sicherungsmaßnahme für die mit einem nicht rechtskräftigen Strafurteil ausgesprochene Einziehung des Wertes von Taterträgen.
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I.
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1. Die Staatsanwaltschaft führte ein umfangreiches Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer und weitere Beschuldigte wegen des Verdachts der Wertpapier-Marktmanipulation nach dem Gesetz über den Wertpapierhandel (Wertpapierhandelsgesetz - WpHG) sowie wegen gewerbs- und bandenmäßigen Betrugs. Im Ermittlungsverfahren ordnete das Amtsgericht mit unter d) angegriffenem Beschluss vom 13. August 2021 einen Vermögensarrest (§ 111e StPO) in das Vermögen des Beschwerdeführers in Höhe von 2.100.425,76 Euro an, den es im weiteren Verlauf mit unter c) angegriffenem Beschluss vom 9. März 2022 auf 7.132.915,17 Euro erhöhte. Der Staatsanwaltschaft gelang es, diesen Vermögensarrest in Höhe von etwa 3,5 Millionen Euro zu vollstrecken.
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2. Mit Urteil vom 8. Mai 2024 verurteilte das Landgericht den Beschwerdeführer zu einer mehrjährigen Haftstrafe wegen acht Fällen der Marktmanipulation und ordnete die Einziehung des Wertes von Taterträgen von 12.596.781,48 Euro gegen den Beschwerdeführer an. Die schriftlichen Urteilsgründe lagen bei Verkündung noch nicht vor, wobei das Landgericht von einer Absetzungsfrist bis zum 2. Oktober 2024 ausging. Nach Verkündung des Urteils verkündete das Landgericht den unter b) angegriffenen Beschluss vom 8. Mai 2024, mit dem es den vom Amtsgericht angeordneten Vermögensarrest auf die Einziehungssumme erhöhte; eine schriftliche Begründung erfolgte nicht.
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Der Beschwerdeführer legte Revision gegen das Strafurteil und Beschwerde gegen den Vermögensarrestbeschluss ein. Das Landgericht half dieser Beschwerde mit Beschluss vom 1. Juli 2024 nicht ab und verwies zur Begründung auf die noch nicht vorliegenden schriftlichen Urteilsgründe.
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3. Mit Schreiben vom 9. August 2024 und - nach Stellungnahme des Beschwerdeführers - mit Schreiben vom 3. September 2024 wies der Vorsitzende des für die Beschwerde zuständigen Senats des Oberlandesgerichts darauf hin, dass das Oberlandesgericht beabsichtige, die Absetzung der schriftlichen Urteilsgründe des Landgerichts abzuwarten; diese lägen spätestens mit Ablauf des 2. Oktober 2024 vor. Am 18. September 2024 brachte das Landgericht die ausführlichen schriftlichen Urteilsgründe zu den Akten. Mit Beschluss vom 10. Dezember 2024 hat das Oberlandesgericht den festgesetzten Arrestbetrag auf 12.205.478,77 Euro reduziert und die weitergehende Beschwerde als unbegründet verworfen.
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II.
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Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 14 GG sowie Art. 19 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG. Insbesondere der Vermögensarrestbeschluss des Landgerichts verletze sein Grundrecht aus Art. 14 GG, weil er nicht begründet worden sei. Die Weigerung des Oberlandesgerichts, über die Beschwerde des Beschwerdeführers zu entscheiden, verstoße gegen Art. 19 Abs. 4 GG.
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III.
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Mit Beschluss vom 19. September 2024 hat die Kammer den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.
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Die Verfassungsbeschwerdeschrift ist dem Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof und dem Ministerium für Justiz und Migration des Landes Baden-Württemberg zugestellt worden. Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof hält die Verfassungsbeschwerde für unzulässig und unbegründet. Das Hinausschieben der Entscheidung verletze den Beschwerdeführer insbesondere nicht in seinem Justizgewährungsanspruch. Entsprechend der Praxis bei Haftfortdauerentscheidungen nach Verkündung eines Strafurteils hätte das Landgericht zwar seine Nichtabhilfeentscheidung inhaltlich begründen müssen. Das Oberlandesgericht habe aber die Wahl gehabt, das Verfahren zur ergänzenden Begründung an das Landgericht zurückzuverweisen oder - wie hier - mit der Entscheidung bis zum Vorliegen der Urteilsgründe zuzuwarten. Das Zuwarten sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Denn dem Oberlandesgericht sei die Wahl zwischen den beiden Wegen bewusst gewesen. Aufgrund der Komplexität des Verfahrens und der recht bald zu erwartenden Urteilsgründe sei das Abwarten nachvollziehbar und prozessökonomischer. Eine Beschleunigung der abschließenden Entscheidung sei durch eine Rückgabe an das Landgericht nicht zu erwarten gewesen. Das gelte insbesondere, weil bereits zuvor über 7 Millionen Euro arrestiert gewesen seien und sich durch den erhöhten Vermögensarrest keine zusätzliche Beschwer ergebe.
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Die Akten des Ausgangsverfahrens sowie die Akte des Beschwerdeverfahrens vor dem Oberlandesgericht haben der Kammer vorgelegen.
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IV.
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Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil sie unzulässig ist.
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1. Die Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidungen des Amtsgerichts und des Landgerichts ist unzulässig, denn der Beschwerdeführer hat weder dargelegt, den Rechtsweg erschöpft zu haben, noch entsprechend den Anforderungen aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG eine Verletzung in seinen Grundrechten oder grundrechtlichen Rechten aufgezeigt.
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Auch die gegen die Untätigkeit des Oberlandesgerichts gerichtete Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, denn der Beschwerdeführer hat schon nicht zum Fortbestehen des Rechtsschutzbedürfnisses nach dem Absetzen der Urteilsgründe durch das Landgericht vorgetragen. Die Begründungsanforderungen des § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG verlangen nicht nur, dass Beschwerdeführende innerhalb der Monatsfrist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG zu den Sachentscheidungsvoraussetzungen der Verfassungsbeschwerde zum Zeitpunkt ihrer Einlegung vortragen, soweit deren Vorliegen nicht aus sich heraus erkennbar ist. Beschwerdeführende sind auch gehalten, ihre Verfassungsbeschwerde bei entscheidungserheblicher Veränderung der Sach- und Rechtslage aktuell zu halten und die Beschwerdebegründung gegebenenfalls nachträglich zu ergänzen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 1. November 2024 - 2 BvR 684/22 -, Rn. 46 m.w.N.). Dieser Obliegenheit ist der Beschwerdeführer nicht nachgekommen. Schon nachdem das Landgericht die Urteilsgründe abgesetzt hatte, war die von ihm gerügte Beschwer durch die Untätigkeit des Oberlandesgerichts nicht mehr aus sich heraus erkennbar; dies gilt erst recht, nachdem das Oberlandesgericht zwischenzeitlich auch über die Beschwerde entschieden hat. Der Beschwerdeführer hätte also darlegen müssen, warum sein Rechtsschutzbedürfnis auch unter Berücksichtigung dieser Umstände weiterhin fortbesteht.
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2. Aufgrund der Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde kann offenbleiben, ob sich das Vorgehen des Oberlandesgerichts, mit seiner Entscheidung bis zum Absetzen der landgerichtlichen Urteilsgründe abzuwarten, noch als verfassungsgemäß erwiesen hätte.
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Es bestehen allerdings Zweifel daran, dass ein solches Vorgehen, das im Fachrecht keine Grundlage findet, mit Art. 19 Abs. 4 GG vereinbar wäre. Der dort auch als Individualgrundrecht garantierte Anspruch auf effektiven Rechtsschutz gewährleistet nicht nur den Zugang zu den Gerichten, sondern auch die Wirksamkeit des Rechtsschutzes. Es besteht ein Anspruch auf wirksame gerichtliche Kontrolle (vgl. BVerfGE 84, 34 49>; BVerfG, Beschluss des 3. Kammer des Zweiten Senats vom 21. September 2023 - 2 BvR 825/23 -, Rn. 29). Der Zugang zu einer gerichtlichen Entscheidung in der Sache darf daher - vorbehaltlich verfassungsunmittelbarer Schranken - in keinem Fall ausgeschlossen, faktisch unmöglich gemacht oder in unzumutbarer, durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 44, 302 305>; 93, 99 108>; 149, 346 363 Rn. 34>; stRspr).
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Dem dürfte das Vorgehen des Oberlandesgerichts bei der gebotenen Entscheidung über die Beschwerde (§ 304 StPO) gegen die Anordnung des Vermögensarrestes durch das Landgericht mit dem Beschluss vom 8. Mai 2024 nicht entsprochen haben. Weder in den hier maßgeblichen Regelungen über die Beschwerde in §§ 304 ff. StPO noch in der strafgerichtlichen Rechtsprechung und der Literatur zum Vermögensarrest findet sich eine Grundlage dafür, mit einer beschwerdegerichtlichen Prüfung bis zum Ablauf der - bei einer hohen Zahl von Hauptverhandlungstagen mitunter sehr langen - Urteilsabsetzungsfrist (§ 275 Abs. 1 Satz 2 StPO) zuzuwarten. Angesichts der mit der Anordnung des Vermögensarrests grundsätzlich verbundenen Belastungen für die Betroffenen können vermeintlich verfahrensökonomische Erwägungen, wie sie von dem Vorsitzenden des für die Beschwerdeentscheidung zuständigen Strafsenats des Oberlandesgerichts in seiner schriftlichen Mitteilung vom 3. September 2024 benannt worden sind, nicht ohne Weiteres als Sachgrund für das Aufschieben einer Entscheidung über die Beschwerde berücksichtigt werden. Nach zum Fachrecht allgemein vertretener Auffassung folgt aus § 34 StPO eine Pflicht des den Vermögensarrest anordnenden Gerichts, den entsprechenden Beschluss zu begründen (vgl. nur Spillecke, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 9. Aufl. 2023, § 111j Rn. 4; siehe auch BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 17. April 2015 - 2 BvR 1986/14 -, Rn. 14). Ist - wie im Ausgangsverfahren - der mit der Beschwerde (§ 304 StPO) angegriffene Beschluss nicht mit einer Begründung versehen, stehen nach fachrechtlichem Verständnis dem Beschwerdegericht mit einer Zurückverweisung der Sache an das Ausgangsgericht (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 20. Juni 2011 - 2 Ws 241/11 -; OLG Saarbrücken, Beschluss vom 6. Juli 2015 - 1 Ws 92/15 -, Rn. 20 f.; Schneider-Glockzin, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 9. Aufl. 2023, § 34 Rn. 11 m.w.N.; siehe aber auch Zabeck, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 9. Aufl. 2023, § 309 Rn. 7 ff. m.w.N.) oder einer eigenen Sachentscheidung (§ 309 Abs. 2 StPO) Möglichkeiten zur Verfügung, auf den Rechtsfehler zu reagieren und Rechtsschutz zu gewähren. Das derzeitige Fachrecht trennt erkennbar zwischen der Begründung der Einziehungsentscheidung in den Gründen des die Vermögensabschöpfung anordnenden Urteils einerseits und der Begründung für den der Sicherung dieser Einziehung dienenden Vermögensarrest andererseits. Die Verweigerung oder erhebliche Verzögerung des durch § 304 StPO eröffneten gesonderten Rechtsschutzes gegen den Vermögensarrest unter Hinweis auf die Gründe für die Einziehung selbst wird angesichts dieser Ausgestaltung des Rechtsschutzes durch den Gesetzgeber dem Gebot effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG im Grundsatz nicht gerecht werden können. Ob an die Begründung eines Vermögensarrests nach Verkündung eines Strafurteils im gleichen Verfahren geringere Anforderungen gestellt werden können, weil durch eine dort getroffene Einziehungsentscheidung auch die Voraussetzungen des Vermögensarrests regelmäßig vorliegen (vgl. insoweit zu den Begründungsanforderungen an den dringenden Tatverdacht i.S.v. § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO bei Haftfortdauer nach erstinstanzlicher Verurteilung BGH, Beschluss vom 28. April 2020 - StB 12/20 -, Rn. 6), bedarf hier nicht zuletzt angesichts der Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde keiner Entscheidung.
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Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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