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    BSG 18.12.2024 - B 8 SO 7/24 B - Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör - Durchführung der mündlichen Verhandlung in Abwesenheit eines Beteiligten - Übergehen eines Antrags auf Bewilligung eines Reisekostenvorschusses zur Teilnahme an der mündlichen Verhandlung bei einem mittellosen Beteiligten

    Normen

    § 160a, § 160, § 62, § 124, VwV Reiseentschädigung, Artikel 103

    Vorinstanz

    vorgehend SG Mannheim, 24. März 2022, Az: S 9 SO 2091/20, Urteil
    vorgehend Landessozialgericht Baden-Württemberg, 2. März 2023, Az: L 7 SO 980/22, Urteil

    Tenor

    Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 2. März 2023 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

    Gründe

    1

    I. Zwischen den Beteiligten steht im Rahmen von Leistungen der Grundsicherung im Alter und Erwerbsminderung nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch - Sozialhilfe - (SGB XII) die Berücksichtigung eines Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger Ernährung iHv 20 % des Regelsatzes im Streit.

    2

    Der 1961 geborene voll erwerbsgeminderte Kläger steht im Leistungsbezug der Beklagten. Bei der Berechnung berücksichtigte die Beklagte einen ernährungsbedingten Mehrbedarf iHv 20 vH des Regelsatzes mit 84,80 Euro und setzte die Leistungen für April und Mai 2019 auf 776,65 Euro fest, wobei die monatliche Hilfe auch für die Folgemonate gezahlt werde. Nach Einholung eines amtsärztlichen Zeugnisses und einer Stellungnahme des behandelnden Arztes bewilligte die Beklagte die Leistungen für die Monate Dezember 2018 bis August 2019 nach wie vor unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs iHv 20 vH und teilte dem Kläger nach entsprechender Anhörung mit, dass künftig ab 1.9.2019 nur noch ein Mehrbedarf iHv 10 % des Eckregelsatzes und damit iHv 42,40 Euro berücksichtigt werde (Bescheid vom 9.8.2019). Es folgten entsprechende Änderungsbescheide für den Monat Dezember 2019 (Bescheid vom 14.11.2019), Januar 2020 (Bescheid vom 19.12.2019) sowie für Februar und März 2020 (Bescheid vom 20.2.2020). Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 11.8.2020). Das Sozialgericht (SG) Mannheim hat den Bescheid vom 9.8.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids von 11.8.2020 aufgehoben, soweit die Leistungshöhe für die Zeit ab September 2019 um monatlich 42,40 Euro reduziert wurde, und die Klage im Übrigen abgewiesen. Der für die Zeit ab dem 1.12.2019 erteilte Bescheid mit den zugehörigen Änderungsbescheiden sei nicht Gegenstand des Widerspruchsverfahrens gegen den Bescheid vom 9.8.2019 geworden, weshalb sich der Streitgegenstand der Klage in formeller Hinsicht lediglich auf den zeitlichen Geltungsbereich des Bewilligungsbescheids vom 2.5.2019 bis einschließlich November 2019 erstrecke (Urteil vom 24.3.2022). Auf die Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg auf den Antrag des Klägers, ihm die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung durch Übernahme von Reisekosten zu ermöglichen, diesen zunächst aufgefordert, zur Prüfung seiner Mittellosigkeit Kontoauszüge seiner Bankverbindungen für die Zeit nach dem 1.12.2021 vorzulegen. Das LSG hat die Übernahme der Reisekosten sodann abgelehnt (Beschluss vom 24.2.2023) und die mündliche Verhandlung am 2.3.2023 durchgeführt. Der Senat habe trotz Ausbleibens des Klägers entscheiden können, da er durch die am 31.1.2023 ihm zugestellte Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden sei. Er habe auch keinen Anlass gesehen, zur Wahrung des rechtlichen Gehörs die mündliche Verhandlung zu vertagen bzw zu verlegen, weil der Kläger seine Mittellosigkeit nicht nachgewiesen habe. Das LSG hat der Berufung insoweit stattgegeben, als unter Abänderung der seit 9.8.2019 ergangenen Bescheide dem Kläger für die Monate September 2019 bis November 2019 Leistungen von weniger als 776,65 Euro monatlich, für den Monat Dezember 2019 von weniger als 570,02 Euro, für den Monat Januar 2019 sowie die Monate März 2020 bis Dezember 2020 weniger als 776,65 Euro monatlich gewährt worden sind. Weder hätten die Voraussetzungen des § 48 Abs 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) noch einer Rücknahme nach § 45 SGB X trotz anfänglicher Rechtswidrigkeit mangels Ermessensausübung vorgelegen. Im Übrigen hat das LSG die Klage ab- und die Berufung zurückgewiesen. Ein Anspruch auf Berücksichtigung eines Mehrbedarfs iHv 20 vH des Regelbedarfs mit der Folge, dass sich bei Erhöhung des Regelsatzes der zu berücksichtigende Mehrbedarf und hierdurch der Gesamtanspruch der Grundsicherungsleistungen erhöhe, habe der Kläger in der Zeit ab 1.12.2019 nicht (Urteil vom 2.3.2023).

    3

    Gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil richtet sich die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers, mit der er unter anderem geltend macht, dass das LSG mit dem Beschluss vom 24.2.2023 und der Durchführung der mündlichen Verhandlung am 2.3.2023 mit abschließendem Urteil vom gleichen Tag das Recht des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt habe.

    4

    II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist zulässig und im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und Zurückverweisung der Sache begründet (§ 160a Abs 5 Sozialgerichtsgesetz <SGG>).

    5

    Das Urteil des LSG vom 2.3.2023 beruht auf einem von dem Kläger hinreichend bezeichneten (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG. Ein Verfahrensmangel liegt hier vor, weil das Urteil des LSG unter Verletzung des Anspruchs des Klägers auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 Grundgesetz <GG>, § 62 SGG) ergangen ist. Gemäß § 124 Abs 1 SGG entscheidet das Gericht, soweit nichts anderes bestimmt ist, aufgrund mündlicher Verhandlung. Der Mündlichkeitsgrundsatz räumt den Beteiligten das Recht ein, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen und mit ihren Ausführungen gehört zu werden. Stellt ein mittelloser Beteiligter einen Antrag auf Bewilligung eines Reisekostenvorschusses zur Teilnahme an der mündlichen Verhandlung, der vom Gericht übergangen wird, kann hierin nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) eine Versagung rechtlichen Gehörs liegen, weil in solchen Fällen die Gewährung einer Reiseentschädigung entsprechend der jeweiligen landesrechtlichen Regelung zur (bundeseinheitlichen) "Verwaltungsvorschrift über die Gewährung von Reiseentschädigungen" in Betracht kommt (VwV Reiseentschädigung, zuletzt geändert durch Bekanntmachung vom 20.1.2014, BAnz AT 29.1.2014 B1; hier anwendbar idF der VwV des Justizministeriums über die Gewährung von Reiseentschädigungen des Justizministeriums Baden-Württemberg vom 22.1.2014, Die Justiz 2014, S 50; zuletzt geändert durch Verwaltungsvorschrift vom 18.05.2020 (Die Justiz 2020, S 173); vgl hierzu nur BSG vom 25.4.2023 - B 7 AS 112/22 B - juris RdNr 6-9; BSG vom 4.3.2021 - B 4 AS 308/20 B - RdNr 6 ff; BSG vom 19.12.2017 - B 1 KR 38/17 B - RdNr 6). Die VwV Reiseentschädigung mit den dort geregelten Voraussetzungen für eine Entschädigung binden die Gerichte zwar nicht im Rahmen ihrer spruchrichterlichen Tätigkeit. Diese haben aber im Rahmen der sie treffenden prozessualen Pflicht zur Gewährung rechtlichen Gehörs zu beachten, dass entsprechende Ansprüche auf Reiseentschädigung für Personen bestehen können, die nicht in der Lage sind, die Kosten für die Reise zum Ort der mündlichen Verhandlung aus eigenen Mitteln zu bestreiten. Sie sind deshalb verpflichtet, hierüber eine Entscheidung herbeizuführen (zu letzterem BSG vom 11.2.2015 - B 13 R 329/13 B - RdNr 11; vgl auch BSG vom 25.6.2021 - B 13 R 94/20 B - RdNr 9), indem sie entweder selbst über solche Anträge entscheiden und dabei unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung die VwV Reiseentschädigung zu berücksichtigen haben (vgl nur Schweitzer, SGb 2022, 723, 725) oder solche Anträge jedenfalls an die Gerichtsverwaltung weiterleiten, damit von dort über sie entschieden werden kann (BSG vom 25.4.2023 - B 7 AS 112/22 B - RdNr 6-9; vgl Bockholdt NZS 2021, 281, 285).

    6

    Zwar hat das LSG den Antrag des Klägers auf Zahlung von Reisekosten durch Beschluss vom 24.2.2023 dahingehend ablehnend verbeschieden, dass den vorliegenden Unterlagen nicht entnommen werden könne, ob der Kläger für den Zeitraum nach dem 1.12.2021 mittellos war und der Kläger ohne Angabe von Gründen der Aufforderung vom 14.2.2023, aktuelle Kontoauszüge vorzulegen nicht nachgekommen sei. Jedoch hätte es auf die Mitteilung des Klägers, solche Kontoauszüge mangels vorhandener Möglichkeit in den Filialen seiner Hausbank und mangels Besitzes eines eigenen PC’s nicht produzieren zu können (vgl www.sparda.de/online-banking-kontoauszugsarchiv/; abgerufen am 13.8.2024), diese vertagen und dem Kläger andere Nachweismöglichkeiten seiner Mittellosigkeit zB durch Vorlage aktueller Grundsicherungsbescheide aufzeigen müssen.

    7

    Der Kläger hat seinerseits alles getan, um sich Gehör zu verschaffen. Speziell im Zusammenhang mit Gehörsverletzungen aufgrund des Übergehens oder der Ablehnung von Anträgen auf Reiseentschädigungen verlangt das BSG insoweit von den Betroffenen, ihre Mittellosigkeit substantiiert darzulegen und auf Verlangen des Gerichts nachzuweisen (vgl hierzu nur BSG vom 3.1.2022 - B 1 KR 45/21 B - RdNr 8). Die auf den 20.2.2023 datierte Mitteilung ist zwar erst am Tag der mündlichen Verhandlung beim Berufungsgericht eingegangen. Mangels Dokumentation des genauen Tageszeitpunkts des Posteingangs ist davon auszugehen, dass der Senat von diesem noch vor der protokollierten Schließung der mündlichen Verhandlung um 12.30 Uhr Kenntnis hätte erlangen können.

    8

    Die Entscheidung des LSG kann auch auf diesem Verfahrensfehler beruhen. Grundsätzlich bedarf es keines vertieften Vortrags zum "Beruhen-Können" der angegriffenen Entscheidung auf dem Verfahrensfehler, wenn ein Kläger behauptet, um sein Recht auf eine mündliche Verhandlung gebracht worden zu sein; wegen der besonderen Wertigkeit der mündlichen Verhandlung als Kernstück des sozialgerichtlichen Verfahrens genügt es, dass eine andere Entscheidung nicht auszuschließen ist, wenn der Betroffene Gelegenheit gehabt hätte, in der mündlichen Verhandlung vorzutragen (vgl nur BSG vom 19.12.2017 - B 1 KR 38/17 B - RdNr 8 mwN). Dies ist hier vor dem Hintergrund des Umstands, dass das LSG auf eine fehlende Darlegung des berechtigten Interesses an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts durch den Kläger maßgeblich abgestellt hat, der Fall.

    9

    Der Senat hat von der durch § 160a Abs 5 SGG eröffneten Möglichkeit Gebrauch gemacht, auf die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil wegen des festgestellten Verfahrensfehlers aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

    10

    Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt dem LSG vorbehalten.

            
                            


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