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    BVerfG 06.02.2025 - 1 BvR 2126/24 - Nichtannahmebeschluss: Verfassungsrechtliche Bedenken gegen zu enge Auslegung der Voraussetzungen einer unmittelbaren Rechtsbeeinträchtigung iSd § 59 Abs 1 FamFG - Verletzung der Rechtsschutzgarantie im familiengerichtlichen Beschwerdeverfahren nicht fernliegend - allerdings Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde mangels hinreichender Begründung

    Normen

    Artikel 2, Artikel 20, § 23 Abs 1 S 2 BVerfGG, § 92 BVerfGG, § 1666, § 1666, § 59

    Vorinstanz

    vorgehend OLG München, 19. August 2024, Az: 4 UF 402/24 e, Beschluss
    vorgehend AG Augsburg, 20. März 2024, Az: 409 F 513/24, Beschluss

    Tenor

    Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

    Gründe

    1

    Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Anordnung einer Grenzsperre.

    I.

    2

    1. Die Beschwerdeführerin ist die Mutter eines im September 2017 geborenen Kindes, für das sie zunächst das Sorgerecht innehatte. Ihr wurden im Rahmen eines einstweiligen Anordnungsverfahrens im November 2021 vorläufig Teile des Sorgerechts, insbesondere das Aufenthaltsbestimmungsrecht, entzogen und im Umfang der Entziehung Ergänzungspflegschaft angeordnet. Durch eine Entscheidung des Familiengerichts aus dem Juni 2022 wurde ihr im Hauptsacheverfahren die elterliche Sorge vollständig entzogen und Vormundschaft angeordnet. Trotz des fehlenden Aufenthaltsbestimmungsrechts verbrachte die Beschwerdeführerin ihr Kind ohne Zustimmung der Ergänzungspflegerin beziehungsweise der Vormündin für den Zeitraum von April 2022 bis Februar 2023 an (zunächst) unbekannte Orte. Erst nach ihrer Verhaftung in Deutschland im Februar 2023 gab sie preis, dass sich das Kind bei dessen Großmutter mütterlicherseits in Lettland befinde. Von dort konnte es nach Deutschland zurückgeführt werden. Seitdem lebt das Kind in einer der Beschwerdeführerin unbekannten Einrichtung; die Beschwerdeführerin hat mit ihm begleiteten Umgang.

    3

    2. a) In einem einstweiligen Anordnungsverfahren hatte das zuständige Familiengericht, nach persönlicher Anhörung des Kindes, bereits eine bis zum 27. März 2024 befristete Grenzsperre verhängt. Im Ausgangsverfahren hat das Familiengericht mit angegriffenem Beschluss vom 20. März 2024 auf Anregung der Vormündin des Kindes der Beschwerdeführerin befristet bis zum 19. März 2025 untersagt, den jetzigen Aufenthaltsort des Kindes zu verändern und das Kind außerhalb der Grenzen der Bundesrepublik Deutschland und außerhalb der Grenzen der Vertragsstaaten des Schengener Übereinkommens zu verbringen. Darüber hinaus hat es der Beschwerdeführerin untersagt, Ersatzpapiere für das Kind zu beantragen. Beide Untersagungsanordnungen sind mit der Androhung verbunden, für den Fall der Zuwiderhandlung näher bezeichnete Ordnungsmittel gegen die Beschwerdeführerin zu verhängen. Das an die Beschwerdeführerin gerichtete Verbot, das Kind ins Ausland zu verbringen, beruhe auf § 1666 BGB. Es sei zu befürchten, dass eine mögliche erneute Verbringung des Kindes ins Ausland dessen Wohl gefährde, weil es dadurch aus seiner mittlerweile vertrauten Umgebung, in der es sich sehr wohlfühle, herausgerissen werde.

    4

    b) Die dagegen gerichtete Beschwerde der Beschwerdeführerin hat das Oberlandesgericht mit ebenfalls angegriffenem Beschluss vom 19. August 2024 als unzulässig verworfen. Die Beschwerdeführerin sei nicht beschwerdebefugt. Es fehle an einer materiellen Beschwer. Durch den angegriffenen Beschluss des Familiengerichts habe sich die Rechtsposition der Beschwerdeführerin nicht unmittelbar verändert. Da ihr zunächst vor allem das Aufenthaltsbestimmungsrecht und später das gesamte Sorgerecht bereits entzogen worden sei, werde durch die Untersagungsanordnungen nicht erneut in das subjektive Recht der Beschwerdeführerin eingegriffen.

    5

    3. Die Beschwerdeführerin sieht sich durch die angegriffenen fachgerichtlichen Entscheidungen vor allem in ihrer Menschenwürde, ihrem Recht auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) sowie in ihrem Elterngrundrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verletzt. Die an sie gerichtete Untersagung, den Aufenthaltsort des Kindes zu verändern und dieses nach außerhalb der Grenzen der Bundesrepublik Deutschland und außerhalb der Grenzen der Vertragsstaaten des Schengener Übereinkommens zu verbringen, sei weder erforderlich noch verhältnismäßig. Die gesamte Situation werde in den angegriffenen Beschlüssen wahrheitswidrig dargestellt. Überdies fehle dem zuständigen Richter des Familiengerichts die familienpsychologische Sachkunde, um die Situation des Kindes beurteilen zu können. Ihr sei es zudem aus nachvollziehbaren Gründen gar nicht möglich, mit dem Kind ins Ausland zu reisen; insbesondere habe sie keine Ausweispapiere für das Kind, das sich in einer ihr unbekannten Einrichtung befinde und mit dem sie nur "bewachten Umgang" habe.

    II.

    6

    Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen. Annahmegründe nach § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Die Verfassungsbeschwerde ist insgesamt unzulässig und deshalb ohne Aussicht auf Erfolg (vgl. BVerfGE 90, 20 25 f.>).

    7

    1. Soweit sich die Beschwerdeführerin gegen den Beschluss des Familiengerichts vom 20. März 2024 wendet, folgt die Unzulässigkeit bereits daraus, dass die Beschwerdeführerin zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde unentbehrliche Unterlagen weder vorgelegt noch ihrem wesentlichen Inhalt nach wiedergegeben hat (vgl. BVerfGE 112, 304 314 f.>; 129, 269 278>). So fehlen namentlich der Vermerk über die Inhalte der am 9. Februar 2024 in dem Verfahren der einstweiligen Anordnung der Grenzsperre erfolgten Anhörung des Kindes. Das Familiengericht stützt sich auf den in der Anhörung gewonnenen Eindruck, dass das Kind sich in der Einrichtung, in der es lebt, sehr wohl fühle und es gegenüber früheren Anhörungen Fortschritte gemacht habe. Diese Erkenntnisse hat es zur Grundlage der Annahme einer bei einer erneuten Verbringung des Kindes ins Ausland drohenden Kindeswohlgefährdung gemacht. Eine solche drohende Gefährdung des Kindeswohls ist nach § 1666 Abs. 1 und 3 BGB Voraussetzung für die vom Familiengericht erlassenen Anordnungen. Zudem hat die Beschwerdeführerin auch den Vermerk über die Anhörung der Eltern und des Jugendamtes am 14. März 2024 durch das Familiengericht nicht vorgelegt. Auf den in der Anhörung gewonnenen Eindruck von der Beschwerdeführerin hat das Familiengericht aber seine Prognose gestützt, sie werde mit dem Kind erneut "untertauchen", wenn sich ihr eine Gelegenheit dazu bieten würde.

    8

    2. Die gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts vom 19. August 2024 gerichtete Verfassungsbeschwerde ist ebenfalls unzulässig, weil sie den aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG folgenden Begründungsanforderungen nicht genügt. Zu diesen gehört, dass bei einer gegen gerichtliche Entscheidungen gerichteten Verfassungsbeschwerde die beschwerdeführende Person sich mit den Entscheidungen und deren Begründungen eingehend argumentativ auseinandersetzt. Dabei ist auch darzulegen, inwieweit das jeweils bezeichnete Grundrecht verletzt sein und mit welchen verfassungsrechtlichen Anforderungen die angegriffene Maßnahme kollidieren soll (vgl. BVerfGE 108, 370 386 f.>; 149, 346 359 Rn. 24>; 158, 210 230 f. Rn. 51>; stRspr).

    9

    Dem genügt die Verfassungsbeschwerde nicht. Ihre Begründung geht nicht darauf ein, dass das Oberlandesgericht den familiengerichtlichen Beschluss nicht in der Sache geprüft, sondern die Beschwerde mangels Beschwerdebefugnis als unzulässig mit der Begründung verworfen hat, die Beschwerdeführerin sei nicht im Sinne von § 59 Abs. 1 FamFG in eigenen Rechten verletzt. Damit fehlt jegliche Auseinandersetzung mit den die Entscheidung des Oberlandesgerichts tragenden Gründen.

    10

    Entsprechendes gilt für die ebenfalls nach § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG gebotene Auseinandersetzung mit der angegriffenen fachgerichtlichen Entscheidung anhand der in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen, aus denen sich der behauptete Grundrechtsverstoß ergeben soll (vgl. BVerfGE 140, 229 232 Rn. 9>; 158, 210 230 f. Rn. 51>; 163, 165 210 Rn. 75>; stRspr). So geht die Beschwerdeführerin nicht darauf ein, ob die Auslegung und Anwendung von § 59 Abs. 1 FamFG mit dem hier durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG gewährleisteten Anspruch auf effektiven Rechtsschutz vereinbar ist.

    11

    3. Daran, dass der Beschluss des Oberlandesgerichts mit dem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz vereinbar ist, bestehen allerdings erhebliche Zweifel.

    12

    a) Aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) leitet sich ein Anspruch auf wirkungsvollen Rechtsschutz im materiellen Sinne für bürgerlichrechtliche Streitigkeiten ab (vgl. BVerfGE 82, 126 155>; 93, 99 107>; 107, 395 401, 408>; stRspr). Die daraus folgende Rechtsschutzgarantie gewährleistet nicht nur, dass überhaupt ein Rechtsweg zu den Gerichten offensteht, sie garantiert vielmehr auch die Effektivität des Rechtsschutzes. Die Rechtsschutzgewährung durch die Gerichte bedarf allerdings einer normativen Ausgestaltung durch eine Verfahrensordnung. Dabei kann der Gesetzgeber auch Regelungen treffen, die für ein Rechtsschutzbegehren besondere formelle Voraussetzungen vorsehen und sich dadurch für den Rechtsuchenden einschränkend auswirken (vgl. BVerfGE 10, 264 268>; 60, 253 268 f.>; 77, 275 284>). Der Rechtsweg darf aber nicht in unzumutbarer, durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 10, 264 268>; 77, 275 284>; stRspr). Diese Grundsätze gelten nicht nur für den ersten Zugang zum Gericht, sondern für die Ausgestaltung des gesamten Verfahrens (vgl. BVerfGE 40, 272 275>). Auch der Richter muss die Tragweite des Grundrechts auf einen wirkungsvollen Rechtsschutz beachten (vgl. BVerfGE 77, 275 284>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 4. September 2020 - 1 BvR 2427/19 -, juris, Rn. 25). Soweit Verfahrensvorschriften einen Auslegungsspielraum lassen, darf er sie nicht in einem Sinne auslegen, der zu einem solchen Widerspruch führen würde (vgl. BVerfGE 88, 118 123 ff.>).

    13

    b) Diesen Anforderungen auch an die Auslegung und Anwendung von § 59 Abs. 1 FamFG, der die Beschwerdebefugnis von einer materiellen Beeinträchtigung in eigenen Rechten abhängig macht (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Mai 2013 - XII ZB 198/12 -, Rn. 9 m.w.N.), dürfte der Beschluss des Oberlandesgerichts nicht gerecht werden. Es beschränkt seine Erwägungen - insoweit verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden - auf das Fehlen einer (erneuten) materiellen Beeinträchtigung des der Beschwerdeführerin ursprünglich zustehenden Sorgerechts. Dabei dürfte aber aus dem Blick geraten sein, dass die der Beschwerdeführerin durch den familiengerichtlichen Beschluss auferlegten, mit Ordnungsmittelan-drohung versehenen Handlungsverbote jedenfalls in deren durch Art. 2 Abs. 1 GG grundrechtlich gewährleistete allgemeine Handlungsfreiheit eingreifen. Fachrechtlich ist angesichts dessen anerkannt, dass eine unmittelbare Rechtsbetroffenheit im Sinne von § 59 Abs. 1 FamFG jedenfalls bei solchen Personen vorliegt, die durch eine fachgerichtliche Entscheidung mit einem vollstreckbaren Gebot oder Verbot belegt worden sind (vgl. A. Fischer, in: Münchener Kommentar zum FamFG, 4. Aufl. 2025, § 59 Rn. 15). Dementsprechend hat der Bundesgerichtshof eine unmittelbare Rechtsbeeinträchtigung einer Person angenommen, gegen die auf der Grundlage von § 1632 Abs. 2 BGB ein vollstreckbares Verbot angeordnet worden war, Kontakt mit einem Kind aufzunehmen (vgl. BGH, Beschluss vom 29. September 2010 - XII ZB 161/09 -, Rn. 9; siehe auch Klußmann, in: Kemper/Schreiber, Familienverfahrensrecht, 3. Aufl. 2015, § 59 Rn. 9). Auf das Bestehen oder Fehlen von Rechten des Anordnungsadressaten zum Umgang mit dem Kind kommt es dabei fachrechtlich nicht an (vgl. BGH, Beschluss vom 29. September 2010 - XII ZB 161/09 -, Rn. 10). Auf der Grundlage dieser fachrechtlichen Auslegung von § 59 Abs. 1 FamFG liegt nicht fern, dass das Oberlandesgericht in seinem angegriffenen Beschluss die genannte Vorschrift in einer Weise ausgelegt und angewendet hat, die den Anspruch der Beschwerdeführerin auf effektiven Rechtsschutz in einer durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigenden Weise erschwert hat.

    14

    4. Das verhilft der Verfassungsbeschwerde aber auch insoweit nicht zum Erfolg, weil die Beschwerdeführerin eine Rüge der Verletzung ihres Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz weder ausdrücklich noch der Sache nach erhoben hat. Ohne eine entsprechende Rüge kann die Verfassungsbeschwerde aber keinen Erfolg haben (vgl. BVerfG 82, 6 18>).

    15

    5. Von einer weiteren Begründung der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

    16

    Diese Entscheidung ist unanfechtbar.


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