Category Image
Urteile

Urteile

Sonstige
Navigation
Navigation



    BVerfG 31.01.2025 - 1 BvR 602/24 - Nichtannahmebeschluss: Rechtssatzverfassungsbeschwerde gegen § 130b Abs 3a S 9 SGB V (RIS: SGB 5) wegen Subsidiarität unzulässig - Auslegung und Anwendung der Norm bedarf fachgerichtlicher Klärung

    Normen

    Artikel 12, § 90 Abs 2 S 1 BVerfGG, § 93 Abs 3 BVerfGG, § 130b vom 19.07.2023, § 17

    Tenor

    Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

    Gründe

    I.

    1

    Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen § 130b Abs. 3a Satz 9 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) in der Fassung des Gesetzes zur Bekämpfung von Lieferengpässen bei patentfreien Arzneimitteln und zur Verbesserung der Versorgung mit Kinderarzneimitteln (Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz - ALBVVG) vom 19. Juli 2023 (BGBl I Nr. 197).

    2

    1. Gemäß § 130b Abs. 3a Satz 2 SGB V in der Fassung des Gesetzes zur finanziellen Stabilisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Finanzstabilisierungsgesetz - GKV-FinStG) vom 7. November 2022 (BGBl I S. 1990) gilt der nach § 130b Abs. 1 SGB V zwischen dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen und dem pharmazeutischen Unternehmer für ein Arzneimittel vereinbarte Erstattungsbetrag ab dem siebten Monat nach dem erstmaligen Inverkehrbringen des Arzneimittels mit dem Wirkstoff. § 130b Abs. 3a Satz 9 SGB V bestimmte in der bis zum 26. Juli 2023 geltenden Fassung, dass die Differenz zwischen Erstattungsbetrag und dem bis zu dessen Vereinbarung tatsächlich gezahlten Abgabepreis auszugleichen ist.

    3

    2. Durch Art. 2 Nr. 7 Buchst. a) des ALBVVG wurde § 130b Abs. 3a Satz 9 SGB V mit Wirkung zum 27. Juli 2023 um die Formulierung "einschließlich der zu viel entrichteten Zuschläge nach der Arzneimittelpreisverordnung und der zu viel entrichteten Umsatzsteuer" ergänzt.

    4

    3. Die Beschwerdeführerin, ein pharmazeutisches Unternehmen, rügt eine Verletzung von Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG durch die Verpflichtung zum Ausgleich der zu viel entrichteten Zuschläge nach der Arzneimittelpreisverordnung und zu viel entrichteter Umsatzsteuer.

    II.

    5

    Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich unzulässig.

    6

    1. Die am 1. März 2024 beim Bundesverfassungsgericht eingegangene Verfassungsbeschwerde ist allerdings gemäß § 93 Abs. 3 BVerfGG fristgemäß binnen eines Jahres seit Inkrafttreten des ALBVVG am 27. Juli 2023 erhoben worden.

    7

    Zwar wird in der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit des Deutschen Bundestags zum ALBVVG (BTDrucks 20/7397, S. 60 f.) ausgeführt, dass es sich bei der Änderung des § 130b Abs. 3a Satz 9 SGB V um eine "Klarstellung" handele, dies kann indes nicht dazu führen, dass die Jahresfrist für die Verfassungsbeschwerde nicht mit Inkrafttreten der Gesetzesänderung neu zu laufen begonnen hat. Jedenfalls in Fällen, in denen der Gesetzgeber einer Vorschrift einen neuen Wortlaut gegeben hat und es sich nicht lediglich um redaktionelle Änderungen handelt, sondern der Anwendungsbereich der Vorschrift eindeutiger bestimmt wird (vgl. BVerfGE 11, 351 359 f.>: dort handelte es sich ebenfalls um eine "Klarstellung", weil beim bisherigen Wortlaut Zweifel aufgekommen waren), beginnt die Jahresfrist mit Inkrafttreten der Gesetzesänderung neu zu laufen.

    8

    2. Der in Art. 93 Abs. 5 Satz 2 GG angelegte Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (§ 90 Abs. 2 BVerfGG) ist nicht gewahrt.

    9

    a) Vor der Erhebung von Rechtssatzverfassungsbeschwerden sind nach dem Grundsatz der Subsidiarität grundsätzlich alle Mittel zu ergreifen, die der geltend gemachten Grundrechtsverletzung abhelfen können (vgl. BVerfGE 150, 309 326 Rn. 41>; 156, 11 34 Rn. 60>).

    10

    Zwar steht unmittelbar gegen Gesetze der fachgerichtliche Rechtsweg in der Regel nicht offen. Die Anforderungen der Subsidiarität beschränken sich jedoch nicht darauf, nur die zur Erreichung des unmittelbaren Prozessziels förmlich eröffneten Rechtsmittel zu ergreifen, sondern verlangen, vor Einlegung einer Verfassungsbeschwerde alle zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten zu ergreifen, um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern (vgl. BVerfGE 150, 309 326 Rn. 42 f.>; 158, 170 199 Rn. 69>). Damit soll erreicht werden, dass das Bundesverfassungsgericht nicht auf ungesicherter Tatsachen- und Rechtsgrundlage weitreichende Entscheidungen treffen muss, sondern zunächst die für die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts primär zuständigen Fachgerichte die Sach- und Rechtslage vor einer Anrufung des Bundesverfassungsgerichts aufgearbeitet haben (vgl. BVerfGE 79, 1 20>; 123, 148 172>; 143, 246 321 Rn. 209>; 158, 170 199 Rn. 68>; stRspr).

    11

    Die Pflicht zur Nutzung aller prozessualen Möglichkeiten besteht auch dann, wenn die Vorschriften abschließend gefasst sind und die fachgerichtliche Prüfung günstigstenfalls dazu führen kann, dass das angegriffene Gesetz gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt wird. Ausschlaggebend ist auch dann, ob die fachgerichtliche Klärung erforderlich ist, um zu vermeiden, dass das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidungen auf ungesicherter Tatsachen- und Rechtsgrundlage trifft. Ein solcher Fall wird in der Regel dann gegeben sein, wenn die angegriffenen Vorschriften auslegungsbedürftige und -fähige Rechtsbegriffe enthalten, von deren Auslegung und Anwendung es maßgeblich abhängt, inwieweit Beschwerdeführer durch die angegriffenen Vorschriften tatsächlich und rechtlich beschwert sind (vgl. BVerfGE 158, 170 199 f. Rn. 70> m.w.N.).

    12

    b) Gemessen daran ist die Verfassungsbeschwerde unzulässig. Sie wendet sich gegen eine Regelung, deren Auslegung und Anwendung fachgerichtlich bislang nicht geklärt ist, obwohl die Beurteilung, inwieweit die Beschwerdeführerin durch die angegriffene Vorschrift beschwert ist, von einer solchen Klärung abhängen kann. Die Verfassungsbeschwerde wirft insbesondere nicht allein verfassungsrechtliche Fragen auf, die ohne die Aufbereitung der tatsächlichen und rechtlichen Entscheidungsgrundlagen zu beantworten wären. Es stellen sich Fragen des einfachen Rechts, deren Beantwortung zuvörderst den Fachgerichten obliegt.

    13

    aa) Für den Umfang der Beschwer ist insbesondere ausschlaggebend, ob Rückgriffs- oder Ausgleichsansprüche der pharmazeutischen Unternehmer gegenüber den Apotheken und dem pharmazeutischen Großhandel im Hinblick auf die Zuschläge nach der Arzneimittelpreisverordnung bestehen. Hierfür bedarf es einer fachgerichtlichen Klärung, um zu verhindern, dass das Bundesverfassungsgericht eine Entscheidung auf ungesicherter Tatsachen- und Rechtsgrundlage trifft. Denn es ist jedenfalls nicht von vornherein ausgeschlossen, dass solche Ansprüche vorliegend in Betracht kommen. Solche können sich aus speziellen Normierungen oder aus allgemeinen Regeln ergeben. Zwar ist zutreffend, dass § 130b SGB V selbst keinen speziellen Rückgriffs- oder Ausgleichsanspruch vorsieht und auch in der Begründung des Gesetzentwurfes kein solcher Anspruch genannt wird. Dies schließt aber nicht aus, dass sich solche Rückgriffs- oder Ausgleichsansprüche möglicherweise aus allgemeinen öffentlich-rechtlichen oder zivilrechtlichen Rechtsgrundlagen, wie beispielsweise den Regelungen zum Gesamtschuldnerausgleich oder dem Bereicherungsrecht, ergeben. Es ist nicht ersichtlich, dass der Rückgriff auf allgemeine Ausgleichsinstitute verfassungsrechtlich ausgeschlossen wäre.

    14

    Von deren Bestehen kann die Beurteilung der Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Norm abhängen. Denn an der Vereinbarkeit der angegriffenen Regelung mit Art. 12 Abs. 1 GG bestehen jedenfalls dann erhebliche Zweifel, wenn die pharmazeutischen Unternehmer nach § 130b Abs. 3a Satz 9 SGB V Zahlungen erstatten müssten, die ihnen nie zugeflossen sind, ohne ihrerseits Rückgriffs- oder Ausgleichsansprüche zu haben. Gegenstand der fachgerichtlichen Prüfung wird daher auch sein, ob bei der Auslegung der einfachrechtlichen Vorschriften über zivil- oder öffentlich-rechtliche Ansprüche der pharmazeutischen Unternehmer gegenüber Apotheken beziehungsweise pharmazeutischen Großhändlern diesem Umstand methodengerecht Rechnung getragen werden kann. Dabei wird sich gegebenenfalls auch ergeben, wie groß der Durchsetzungsaufwand und wie hoch ein eventuelles Abwicklungsrisiko wäre.

    15

    Die Voraussetzungen, unter denen nach § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG ausnahmsweise vom Erfordernis der Rechtswegerschöpfung abgesehen werden kann (vgl. BVerfGE 77, 381 401 f.>; 78, 290 301 f.>; 79, 275 278 f.>; 104, 65 70 f.>), liegen nicht vor. Ein schwerer und unabwendbarer Nachteil könnte zwar unter Umständen dann vorliegen, wenn auch bei der Annahme des Bestehens eines Rückgriffs- oder Ausgleichsanspruchs aufgrund der dann immer noch vorliegenden Belastungen, insbesondere wegen der Abwälzung des Verwaltungsaufwands sowie des Abwicklungs- und Insolvenzrisikos, offensichtlich ein Verfassungsverstoß gegeben wäre. Im Hinblick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Heranziehung von Leistungserbringern zur Erfüllung administrativer Pflichten bei der Umsetzung von Kostendämpfungsmaßnahmen im System der gesetzlichen Krankenversicherung liegt eine solche Offenkundigkeit indes nicht vor (vgl. BVerfGE 114, 196 246> m.w.N.).

    16

    bb) Darüber hinaus ist eine fachgerichtliche Auseinandersetzung mit der steuerrechtlichen Rechtslage im Hinblick auf die Möglichkeit der Beschwerdeführerin zur Geltendmachung einer Minderung der Bemessungsgrundlage nach § 17 Abs. 1 Umsatzsteuergesetz (UStG) angezeigt, durch die jedenfalls eine teilweise Kompensation des durch die angegriffene Regelung bewirkten Eingriffs in die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) aufgrund der Minderung der Umsatzsteuerschuld in Betracht kommt.

    17

    Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

    18

    Diese Entscheidung ist unanfechtbar.


    Vorherige Seite

    Nächste Seite
    Kontakt zur AOK Nordost
    Telefon Icon

    AOK-Service-Telefon

    0800 2650800 Kostenfrei aus dem deutschen Fest- und Mobilfunknetz
    Formular Icon

    Formulare

    Hier finden Sie Formulare für den täglichen Einsatz in Ihrem Unternehmen
    Grafik e-mail

    E-Mail-Service

    Schreiben Sie uns Ihr Anliegen, wir antworten umgehend oder rufen zurück