Rechtsdatenbank
Welche Fragen Arbeitgeber auch zum Thema Sozialversicherungsrecht bewegen: Die Rechtsdatenbank der AOK liefert die Antworten – einfach, fundiert und topaktuell.
Rechtsdatenbank
Welche Fragen Arbeitgeber auch zum Thema Sozialversicherungsrecht bewegen: Die Rechtsdatenbank der AOK liefert die Antworten – einfach, fundiert und topaktuell.
EuGH 19.11.2020 - C-454/19
EuGH 19.11.2020 - C-454/19 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer) - 19. November 2020 ( *1) - „Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 21 AEUV – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Besondere Strafbarkeit der internationalen Entführung Minderjähriger – Beschränkung – Rechtfertigung – Kindesschutz – Verhältnismäßigkeit“
Leitsatz
In der Rechtssache C-454/19
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Amtsgericht Heilbronn (Deutschland) mit Entscheidung vom 11. Juni 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 14. Juni 2019, in dem Strafverfahren gegen
ZW,
Beteiligte:
Staatsanwaltschaft Heilbronn,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Vilaras, der Richter N. Piçarra, D. Šváby und S. Rodin sowie der Richterin K. Jürimäe (Berichterstatterin),
Generalanwalt: G. Hogan,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
von ZW, vertreten durch Rechtsanwalt M. Ehninger,
der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, M. Hellmann, U. Bartl und D. Klebs als Bevollmächtigte,
der Europäischen Kommission, vertreten durch E. Montaguti und M. Wilderspin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 4. Juni 2020
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 21 AEUV und der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, und Berichtigung in ABl. 2004, L 229, S. 35).
Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen ZW wegen Entziehung Minderjähriger.
Rechtlicher Rahmen
Haager Übereinkommen von 1980
Das am 25. Oktober 1980 in Den Haag geschlossene Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (im Folgenden: Haager Übereinkommen von 1980) hat nach seinem Art. 1 Buchst. a u. a. zum Ziel, „die sofortige Rückgabe widerrechtlich in einen Vertragsstaat verbrachter oder dort zurückgehaltener Kinder sicherzustellen“.
Die Art. 12 und 13 dieses Übereinkommens enthalten die Vorschriften, die bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes gelten und dessen sofortige Rückgabe sicherstellen sollen.
Das Haager Übereinkommen von 1980 trat am 1. Dezember 1983 in Kraft. Alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind Vertragsparteien des Übereinkommens.
Unionsrecht
In den Erwägungsgründen 2, 17 und 21 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. 2003, L 338, S. 1) wird ausgeführt:
Auf seiner Tagung in Tampere hat der Europäische Rat den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen, der für die Schaffung eines echten europäischen Rechtsraums unabdingbar ist, anerkannt und die Besuchsrechte als Priorität eingestuft.
…
Bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes sollte dessen Rückgabe unverzüglich erwirkt werden; zu diesem Zweck sollte das Haager Übereinkommen [von] 1980, das durch die Bestimmungen dieser Verordnung und insbesondere des Artikels 11 ergänzt wird, weiterhin Anwendung finden. Die Gerichte des Mitgliedstaats, in den das Kind widerrechtlich verbracht wurde oder in dem es widerrechtlich zurückgehalten wird, sollten dessen Rückgabe in besonderen, ordnungsgemäß begründeten Fällen ablehnen können. Jedoch sollte eine solche Entscheidung durch eine spätere Entscheidung des Gerichts des Mitgliedstaats ersetzt werden können, in dem das Kind vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Sollte in dieser Entscheidung die Rückgabe des Kindes angeordnet werden, so sollte die Rückgabe erfolgen, ohne dass es in dem Mitgliedstaat, in den das Kind widerrechtlich verbracht wurde, eines besonderen Verfahrens zur Anerkennung und Vollstreckung dieser Entscheidung bedarf.
…
Die Anerkennung und Vollstreckung der in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen sollten auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruhen und die Gründe für die Nichtanerkennung auf das notwendige Minimum beschränkt sein.“
Deutsches Recht
§ 25 („Täterschaft“) des Strafgesetzbuchs (StGB) lautet:
„(1) Als Täter wird bestraft, wer die Straftat selbst oder durch einen anderen begeht.
(2) Begehen mehrere die Straftat gemeinschaftlich, so wird jeder als Täter bestraft (Mittäter).“
§ 235 („Entziehung Minderjähriger“) Abs. 1 und 2 StGB bestimmt:
„(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer
eine Person unter achtzehn Jahren mit Gewalt, durch Drohung mit einem empfindlichen Übel oder durch List oder
ein Kind, ohne dessen Angehöriger zu sein,
den Eltern, einem Elternteil, dem Vormund oder dem Pfleger entzieht oder vorenthält.
(2) Ebenso wird bestraft, wer ein Kind den Eltern, einem Elternteil, dem Vormund oder dem Pfleger
entzieht, um es in das Ausland zu verbringen, oder
im Ausland vorenthält, nachdem es dorthin verbracht worden ist oder es sich dorthin begeben hat.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
ZW, eine rumänische Staatsangehörige, ist die Mutter von AW, einem in Rumänien geborenen minderjährigen Kind. ZW ist vom Vater des Kindes getrennt, der rumänischer Staatsangehöriger ist und in Rumänien lebt. Nach rumänischem Recht sind beide Eltern gemeinsam für das Kind sorgeberechtigt.
Im Jahr 2009 zog ZW nach Deutschland. Das Kind folgte ihr später nach.
Im März 2013 wurde das Kind aufgrund von Verhaltensauffälligkeiten mit Zustimmung seiner Eltern in einer Jugendhilfeeinrichtung untergebracht.
Mit Beschluss vom 14. November 2014 entzog das Amtsgericht Heilbronn (Deutschland) den Eltern des Kindes u. a. das Aufenthaltsbestimmungsrecht für das Kind und übertrug dieses Recht im Rahmen einer Ergänzungspflegschaft auf einen Pfleger. Nach dem Scheitern mehrerer aufeinanderfolgender Unterbringungen des Kindes in verschiedenen Betreuungseinrichtungen kehrte es mit dem Einverständnis des Ergänzungspflegers zu ZW zurück.
Mit Schreiben vom 3. August 2017 beantragte das Jugendamt Heilbronn (Deutschland) die Rückübertragung der elterlichen Sorge auf ZW. Hierzu kam es aus ungeklärten Umständen noch nicht.
Anfang Dezember 2017 verbrachte der Vater das Kind nach Rumänien, wo beide seither leben. ZW war mit diesem Verbringen einverstanden, ohne dass jedoch geklärt wäre, ob sich dieses Einverständnis auf einen einzigen Besuch zu Weihnachten 2017 oder auf eine dauerhafte Rückkehr des Kindes nach Rumänien bezog. Weder das Jugendamt Heilbronn noch der Ergänzungspfleger wurden im Vorfeld über das Verbringen informiert.
Nachdem der Ergänzungspfleger wegen des Verbringens Strafanzeige gegen die Eltern des Kindes erstattet hatte, wurde vor dem Amtsgericht Heilbronn ein Strafverfahren wegen gemeinschaftlicher Entziehung Minderjähriger gemäß §§ 25 Abs. 2, 235 Abs. 2 Nr. 2 StGB gegen ZW eingeleitet.
Dieses Gericht hat Zweifel an der Vereinbarkeit von § 235 StGB mit dem Unionsrecht. Zum einen könnte sich nämlich seiner Ansicht nach die Anwendung dieser Bestimmung als eine ungerechtfertigte Beschränkung der Freizügigkeit der Unionsbürger erweisen. Zum anderen bewirke diese Bestimmung eine unterschiedliche Behandlung von deutschen Staatsangehörigen und Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten, da Letztere genauso behandelt würden wie Drittstaatsangehörige. Die Strafbarkeit von internationalen Kindesentziehungen nach § 235 Abs. 2 Nr. 2 StGB sei weiter als die Strafbarkeit von inländischen Kindesentziehungen nach § 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB und geeignet, Unionsbürger, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten als der Bundesrepublik Deutschland seien, stärker zu beeinträchtigen.
Schließlich wirft das Amtsgericht Heilbronn die Frage auf, ob es § 235 StGB im Fall der Unvereinbarkeit mit dem Unionsrecht im Ausgangsverfahren wegen des Vorrangs des Unionsrechts unangewendet lassen müsse.
Unter diesen Umständen hat es beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist das Primär- und/oder Sekundärrecht der Union, hier insbesondere die Richtlinie 2004/38, im Sinne eines umfassenden Rechts der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, so auszulegen, dass es auch nationale Strafnormen erfasst?
Falls die Frage bejaht wird: Steht die Auslegung des Primär- und/oder Sekundärrechts der Union der Anwendung einer nationalen Strafnorm entgegen, durch die das Vorenthalten eines Kindes vor seinem Pfleger im Ausland sanktioniert werden soll, wenn die Vorschrift nicht danach differenziert, ob es sich um Mitgliedstaaten der Union oder Drittstaaten handelt?
Zu den Vorlagefragen
Zur Zulässigkeit
Die deutsche Regierung erhebt eine Einrede der Unzulässigkeit der Vorlagefragen, die sie für im Ausgangsverfahren nicht entscheidungserheblich hält. Die ZW, der einzigen Angeklagten im Ausgangsverfahren, vorgeworfene Tathandlung stehe in keinem Zusammenhang mit der Ausübung des ihr zustehenden Freizügigkeitsrechts, da sie das deutsche Hoheitsgebiet weder verlassen noch auch dies nur angestrebt habe. Da die Zweifel des vorlegenden Gerichts an der Vereinbarkeit von § 235 StGB mit dem Unionsrecht auf Sachverhaltskonstellationen beruhten, die einen Ortswechsel von ZW in einen anderen Mitgliedstaat voraussetzten, gründeten sie mithin auf hypothetischen Erwägungen, die nichts mit dem Ausgangsverfahren zu tun hätten.
Nach ständiger Rechtsprechung ist das mit Art. 267 AEUV eingerichtete Verfahren ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten, mit dem der Gerichtshof diesen Gerichten Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts gibt, die sie zur Entscheidung des bei ihnen anhängigen Rechtsstreits benötigen (Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin, C-182/15, EU:C:2016:630, Rn. 18 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Im Rahmen dieser Zusammenarbeit ist es allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der Fragen zu beurteilen, die es dem Gerichtshof vorlegt. Betreffen daher die vorgelegten Fragen die Auslegung des Unionsrechts, ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, darüber zu befinden (Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin, C-182/15, EU:C:2016:630, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Hieraus folgt, dass eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen spricht, die ein nationales Gericht zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festlegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Die Zurückweisung des Ersuchens eines nationalen Gerichts ist dem Gerichtshof nur möglich, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin, C-182/15, EU:C:2016:630, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Im vorliegenden Fall ist zum einen daran zu erinnern, dass eine Unionsbürgerin wie ZW, die Staatsangehörige eines Mitgliedstaats ist und die sich in einen anderen Mitgliedstaat begeben hat, von ihrer Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, so dass ihre Situation in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Februar 2015, Martens, C-359/13, EU:C:2015:118, Rn. 22, und vom 13. November 2018, Raugevicius, C-247/17, EU:C:2018:898, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Zum anderen geht aus den Angaben des vorlegenden Gerichts eindeutig hervor, dass § 235 Abs. 2 Nr. 2 StGB, dessen Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht dieses Gericht in Zweifel zieht, die gesetzliche Grundlage für das Strafverfahren bildet, das im Ausgangsverfahren gegen ZW als Mittäterin der internationalen Entziehung ihres Kindes eingeleitet wurde. Insoweit hat das vorlegende Gericht, wie aus Rn. 16 des vorliegenden Urteils hervorgeht, ausführlich begründet, weshalb es eine Beantwortung der Vorlagefragen für erforderlich hält, um im Ausgangsverfahren entscheiden zu können.
Unter diesen Umständen ist es nicht offensichtlich, dass die erbetene Auslegung des Unionsrechts in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens steht. Das Vorabentscheidungsersuchen ist daher zulässig.
In der Sache
Mit seinen gemeinsam zu behandelnden Vorlagefragen möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass es der Anwendung einer Gesetzesbestimmung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der es, wenn ein Elternteil sein Kind dem bestellten Pfleger in einem anderen Mitgliedstaat vorenthält, selbst dann einen Straftatbestand darstellt, wenn dies nicht mit Gewalt, durch Drohung mit einem empfindlichen Übel oder durch List geschieht, während ein entsprechendes Vorenthalten, wenn sich das Kind im Hoheitsgebiet des ersten Mitgliedstaats befindet, nur dann strafbar ist, wenn es mit Gewalt, durch Drohung mit einem empfindlichen Übel oder durch List geschieht.
Vorbemerkungen
Da das vorlegende Gericht Zweifel an der Vereinbarkeit einer nationalen strafrechtlichen Bestimmung mit dem Unionsrecht hat, ist daran zu erinnern, dass zwar das Strafrecht und das Strafprozessrecht grundsätzlich in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen, dass aber das Unionsrecht dieser Zuständigkeit nach ständiger Rechtsprechung Schranken setzt. Nationale Strafrechtsnormen dürfen nämlich weder zu einer Diskriminierung von Personen führen, denen das Unionsrecht einen Anspruch auf Gleichbehandlung verleiht, noch die vom Unionsrecht garantierten Grundfreiheiten beschränken (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 2. Februar 1989, Cowan, 186/87, EU:C:1989:47, Rn. 19, und vom 26. Februar 2019, Rimšēvičs und EZB/Lettland, C-202/18 und C-238/18, EU:C:2019:139, Rn. 57). Ist eine solche Norm mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung oder einer der unionsrechtlich verbürgten Grundfreiheiten unvereinbar, muss das vorlegende Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden und deren volle Wirksamkeit zu gewährleisten hat, sie unangewendet lassen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. April 2011, El Dridi, C-61/11 PPU, EU:C:2011:268, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Da das vorlegende Gericht mit seinen Fragen außerdem wissen möchte, wie das Unionsrecht auszulegen ist, ohne dabei auf eine bestimmte unionsrechtliche Vorschrift abzustellen, ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs Art. 21 AEUV nicht nur dazu berechtigt, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, sondern auch jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verbietet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Juni 2017, Freitag, C-541/15, EU:C:2017:432, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Folglich sind die Fragen des vorlegenden Gerichts allein anhand dieser Bestimmung zu prüfen.
Zum Vorliegen einer Beschränkung der Freizügigkeit der Unionsbürger
Eine nationale Regelung, durch die bestimmte Angehörige eines Mitgliedstaats allein deswegen benachteiligt werden, weil sie von ihrer Freiheit, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben und sich dort aufzuhalten, Gebrauch gemacht haben, stellt eine Beschränkung der Freiheiten dar, die Art. 21 Abs. 1 AEUV jedem Unionsbürger zuerkennt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 14. Oktober 2008, Grunkin und Paul, C-353/06, EU:C:2008:559, Rn. 21, vom 26. Februar 2015, Martens, C-359/13, EU:C:2015:118, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 8. Juni 2017, Freitag, C-541/15, EU:C:2017:432, Rn. 35).
Im vorliegenden Fall wird nach § 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wer den Eltern, einem Elternteil, dem Vormund oder dem Pfleger eine Person unter achtzehn Jahren mit Gewalt, durch Drohung mit einem empfindlichen Übel oder durch List entzieht oder vorenthält; derselbe Strafrahmen gilt nach § 235 Abs. 2 Nr. 2 StGB für den, der ein Kind den Eltern, einem Elternteil, dem Vormund oder dem Pfleger im Ausland vorenthält, nachdem es dorthin verbracht worden ist oder es sich dorthin begeben hat.
Nach den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts ergibt sich u. a. aus § 235 StGB, dass der einfache Tatbestand, dass ein Elternteil sein Kind dem aufenthaltsbestimmungsberechtigten Pfleger vorenthält, nach § 235 Abs. 2 Nr. 2 StGB, wenn der Elternteil das Kind in einem anderen Mitgliedstaat der Union zurückhält, in gleicher Weise strafbar ist, wie wenn er das Kind in einem Drittstaat zurückhielte, ohne dass es dafür der Gewalt, der Drohung mit einem empfindlichen Übel oder der List bedürfte. Wird das Kind hingegen im deutschen Hoheitsgebiet zurückgehalten, ist der Tatbestand, dass ein Elternteil es dem Pfleger vorenthält, nach § 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB nur bei Gewalt, Drohung mit einem empfindlichen Übel oder List strafbar.
§ 235 StGB unterscheidet somit danach, ob das Kind von seinem Elternteil innerhalb des deutschen Hoheitsgebiets oder außerhalb davon, u. a. in einem anderen Mitgliedstaat der Union, zurückgehalten wird. Diese Unterscheidung beruht allein darauf, dass das Kind aus dem deutschen Hoheitsgebiet in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats der Union verbracht wird.
Soweit aber die besondere Strafbarkeit in § 235 Abs. 2 Nr. 2 StGB den Fall eines Kindes betrifft, das in einem anderen Mitgliedstaat als der Bundesrepublik Deutschland zurückgehalten wird, kann sie sich de facto hauptsächlich auf Unionsbürger auswirken, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten sind und von ihrer Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit Gebrauch gemacht haben und in Deutschland wohnen. Diese Bürger werden nämlich eher als deutsche Staatsangehörige ihr Kind in einen anderen Mitgliedstaat verbringen oder schicken und dort zurückhalten, insbesondere in ihren Herkunftsmitgliedstaat, und dies namentlich anlässlich ihrer Rückkehr dorthin.
Folglich begründet, wie der Generalanwalt in Nr. 27 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, § 235 Abs. 2 Nr. 2 StGB eine Ungleichbehandlung, die die Freizügigkeit der Unionsbürger im Sinne von Art. 21 AEUV beeinträchtigen oder gar beschränken kann.
Zur Rechtfertigung der Beschränkung
Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann eine Beschränkung der Freizügigkeit der Unionsbürger, die – wie im Ausgangsverfahren – von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängig ist, gerechtfertigt sein, wenn sie auf objektiven Erwägungen des Allgemeininteresses beruht und in angemessenem Verhältnis zu dem mit der fraglichen nationalen Regelung legitimerweise verfolgten Ziel steht. Eine Maßnahme ist verhältnismäßig, wenn sie zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet ist und nicht über das hinausgeht, was dazu notwendig ist (Urteile vom 5. Juni 2018, Coman u. a., C-673/16, EU:C:2018:385, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 25. Juli 2018, A [Hilfe für eine schwerbehinderte Person], C-679/16, EU:C:2018:601, Rn. 67).
Im vorliegenden Fall besteht ausweislich der Erläuterungen der deutschen Regierung in ihren beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen das Ziel der besonderen Strafbarkeit in § 235 Abs. 2 Nr. 2 StGB im Schutz der elterlichen Sorge und der Rechte des Kindes sowie in der Verhinderung und Bekämpfung internationaler Kindesentziehungen unter Berücksichtigung der praktischen Schwierigkeiten, die Rückführung eines im Ausland – auch in einem anderen Mitgliedstaat – zurückgehaltenen Kindes zu erreichen.
Insbesondere geht aus den Gesetzesmaterialien zu § 235 StGB, auf die die deutsche Regierung verweist, hervor, dass diese Strafbarkeit aufgrund der Schwierigkeiten eingeführt wurde, eine deutsche Gerichtsentscheidung über die Sorge für das Kind in einem anderen Staat durchzusetzen, sowie wegen der Schwere jeder internationalen Kindesentziehung, insbesondere, wenn das Kind in einen Staat eines anderen Kulturkreises verbracht wurde und wenn seine sofortige Rückführung nicht erreicht werden kann.
Diese Gründe stehen in einem inneren Zusammenhang mit dem Schutz des Kindes und seiner Grundrechte.
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs stellt aber der Schutz des Kindes ein berechtigtes Interesse dar, das grundsätzlich geeignet ist, eine Beschränkung einer vom AEU-Vertrag gewährleisteten Grundfreiheit zu rechtfertigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Februar 2008, Dynamic Medien, C-244/06, EU:C:2008:85, Rn. 42). Das Gleiche gilt für den Schutz der Grundrechte des Kindes, wie sie in Art. 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert sind.
Die von der deutschen Regierung geltend gemachten Gründe sind daher unter objektive Erwägungen des Allgemeininteresses im Sinne der oben in Rn. 36 angeführten Rechtsprechung zu subsumieren.
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es auch nicht unerlässlich, dass die Maßnahmen eines Mitgliedstaats zum Schutz der Rechte des Kindes einer allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Auffassung in Bezug auf das Niveau und die Modalitäten dieses Schutzes entsprechen. Da diese Auffassung je nach Erwägungen insbesondere moralischer oder kultureller Art von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat verschieden sein kann, ist den Mitgliedstaaten ein bestimmtes Ermessen zuzuerkennen. Auch wenn es in Ermangelung einer Harmonisierung auf Unionsebene Sache der Mitgliedstaaten ist, nach ihrem Ermessen darüber zu befinden, auf welchem Niveau sie den Schutz des in Frage stehenden Interesses gewährleisten wollen, muss jedoch dieses Ermessen unter Beachtung der sich aus dem Unionsrecht ergebenden Verpflichtungen und namentlich der oben in Rn. 36 angeführten Anforderungen ausgeübt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Februar 2008, Dynamic Medien, C-244/06, EU:C:2008:85, Rn. 44 bis 46).
Insoweit ist eine Strafbarkeit zur Ahndung der internationalen Kindesentführung – auch durch einen Elternteil – grundsätzlich geeignet, insbesondere wegen ihrer abschreckenden Wirkung den Schutz von Kindern vor solchen Entführungen und die Gewährleistung ihrer Rechte sicherzustellen. Die Anwendung der Bestimmung, die eine derartige Strafbarkeit vorsieht, trägt außerdem zum Ziel der Bekämpfung solcher Entführungen im Interesse des Schutzes der Kinder bei.
Eine solche Strafbarkeit darf jedoch nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des mit ihr verfolgten legitimen Ziels erforderlich ist.
Vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht geht der deutsche Gesetzgeber aber offenbar davon aus, dass die Kindesentführung durch einen Elternteil nicht grundsätzlich und in jedem Fall als strafbares Verhalten gelten muss, um das Kind und seine Rechte im Angesicht der Gefahr einer Entführung zu schützen. Während nämlich die internationale Entziehung eines Kindes durch seinen Elternteil als solche auf der Grundlage von § 235 Abs. 2 Nr. 2 StGB strafbar ist, verhält es sich anders bei der Entziehung eines Kindes durch seinen Elternteil, wenn das Kind im deutschen Hoheitsgebiet zurückgehalten wird, da eine solche Tat nach § 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB nur bei Gewalt, Drohung mit einem empfindlichen Übel oder List strafbar ist.
Zwar ist der dem Gerichtshof vorliegenden Akte zu entnehmen, dass die besondere Strafbarkeit in § 235 Abs. 2 Nr. 2 StGB sowie das damit eingeführte verstärkte Kindesschutzniveau auf der Erwägung beruhen, dass bei einem Verbringen des Kindes nach außerhalb des deutschen Hoheitsgebiets seine Rückführung dorthin und zum Sorgeberechtigten ebenso wie die Anerkennung deutscher Gerichtsentscheidungen auf praktische Schwierigkeiten stieße.
Eine Strafbarkeit, nach der es für die strafrechtliche Ahndung genügt, dass ein Elternteil oder beide Eltern eines in einem anderen Mitgliedstaat zurückgehaltenen Kindes dieses dem anderen Elternteil bzw. dem Vormund oder dem Pfleger auch ohne Gewalt, Drohung mit einem empfindlichen Übel oder List vorenthalten, geht jedoch über das zur Erreichung des verfolgten Ziels Erforderliche hinaus, wenn gleichzeitig der Tatbestand, dass ein Kind im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats zurückgehalten wird, nur strafbar ist, wenn dies mit Gewalt, durch Drohung mit einem empfindlichen Übel oder durch List geschieht.
Eine Argumentation, die im Wesentlichen auf die Annahme gestützt wird, dass es unmöglich oder übermäßig schwierig ist, die Anerkennung einer gerichtlichen Sorgerechtsentscheidung in einem anderen Mitgliedstaat und im Fall der internationalen Entführung eines Kindes seine sofortige Rückgabe zu erreichen, liefe nämlich darauf hinaus, die Mitgliedstaaten mit Drittstaaten gleichzusetzen, und stünde im Widerspruch zu den Regeln und zum Grundgedanken der Verordnung Nr. 2201/2003.
Diese Verordnung ist, wie aus ihren Erwägungsgründen 2 und 21 hervorgeht, auf den für die Schaffung eines echten Rechtsraums unabdingbaren Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen sowie auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens gestützt. Letzterer verlangt nach ständiger Rechtsprechung von jedem Mitgliedstaat, dass er, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten (vgl. in diesem Sinne Gutachten 2/13 vom 18. Dezember 2014, EU:C:2014:2454, Rn. 191, und Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C-216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 36).
Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 21 AEUV dahin auszulegen ist, dass er der Anwendung einer Gesetzesbestimmung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der es, wenn ein Elternteil sein Kind dem bestellten Pfleger in einem anderen Mitgliedstaat vorenthält, selbst dann einen Straftatbestand darstellt, wenn dies nicht mit Gewalt, durch Drohung mit einem empfindlichen Übel oder durch List geschieht, während ein entsprechendes Vorenthalten, wenn sich das Kind im Hoheitsgebiet des ersten Mitgliedstaats befindet, nur dann strafbar ist, wenn es mit Gewalt, durch Drohung mit einem empfindlichen Übel oder durch List geschieht.
Kosten
Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 21 AEUV ist dahin auszulegen, dass er der Anwendung einer Gesetzesbestimmung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der es, wenn ein Elternteil sein Kind dem bestellten Pfleger in einem anderen Mitgliedstaat vorenthält, selbst dann einen Straftatbestand darstellt, wenn dies nicht mit Gewalt, durch Drohung mit einem empfindlichen Übel oder durch List geschieht, während ein entsprechendes Vorenthalten, wenn sich das Kind im Hoheitsgebiet des ersten Mitgliedstaats befindet, nur dann strafbar ist, wenn es mit Gewalt, durch Drohung mit einem empfindlichen Übel oder durch List geschieht.
Unterschriften
( *1)Verfahrenssprache: Deutsch.
Kontakt zur AOK NordWest
Persönlicher Ansprechpartner