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BSG 10.04.2024 - B 11 AL 42/23 B
BSG 10.04.2024 - B 11 AL 42/23 B - Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör - Nichtbescheidung eines Terminsverlegungsantrags am Tag der mündlichen Verhandlung - verspätete Vorlage des Antrags an Vorsitzenden - Sicherstellung der unverzüglichen Weiterleitung durch die Poststelle durch organisatorische Maßnahmen der Gerichtsverwaltung - Zurückverweisung
Normen
§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160a Abs 5 SGG, § 62 SGG, § 124 Abs 1 SGG, § 202 S 1 SGG, § 227 Abs 1 ZPO, § 227 Abs 4 S 1 ZPO, Art 103 Abs 1 GG
Vorinstanz
vorgehend SG Köln, 30. März 2017, Az: S 1 AL 395/15, Urteil
vorgehend Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 21. September 2023, Az: L 9 AL 81/20, Urteil
Tenor
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Auf die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 21. September 2023 aufgehoben.
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Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
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I. Der Kläger, der in den vorhergehenden Rechtszügen nicht anwaltlich vertreten war, begehrt Alg und wendet sich gegen Erstattungsansprüche. Umstritten ist die Erfüllung der Anwartschaftszeit. Das SG hat seine Klage abgewiesen (Urteil vom 30.3.2017). Im Berufungsverfahren hat das LSG den Kläger am 8.8.2023 zum Termin zur mündlichen Verhandlung am 21.9.2023 geladen. Mit Schreiben vom 19.9.2023 hat der Kläger mitgeteilt, er könne krankheitsbedingt nicht am Termin teilnehmen und um Verlegung gebeten. Das Schreiben enthielt als Anlage ein ärztliches Attest und ist als Einschreiben mit Rückschein am 19.9.2023 bei der Post aufgegeben worden.
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Das LSG hat - in Unkenntnis dieses Schreibens - am 21.9.2023 in Abwesenheit des Klägers ausweislich der Sitzungsniederschrift in einem Sitzungssaal des LSG (angekündigt war mit Schreiben vom 17.8.2023, dass die Sitzung im Landgericht Essen stattfinden sollte) verhandelt. Nach einer von der Beklagten erklärten Aufhebung der Rückforderung von Beiträgen hat es die Berufung ohne Zulassung der Revision zurückgewiesen (Urteil vom 21.9.2023). Wann die auf 10.00 Uhr geladene Sitzung begonnen und geendet hat, ist in der Niederschrift nicht festgehalten.
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Der Brief des Klägers vom 19.9.2023 ist am Sitzungstag um 8.30 Uhr/8.35 Uhr von einem Fahrer mit anderer Post am Schalter der Postfiliale abgeholt und etwa um 8.45 Uhr in einer Postkiste auf der Poststelle des LSG abgegeben worden. Nach Auskunft der Geschäftsleitung des LSG könne aufgrund von Personalengpässen dann eine Verzögerung eingetreten sein, sodass das Schreiben erst am Folgetag eingescannt und der Senatsgeschäftsstelle des LSG vorgelegt wurde (Schreiben vom 17.10.2023).
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Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger als Verfahrensmangel ua, dass das LSG in seiner Abwesenheit verhandelt und entschieden habe. Außerdem macht er geltend, die Frage, ob die Krankenkasse hier über die Versicherungspflicht hätte gesondert entscheiden müssen, sei von grundsätzlicher Bedeutung und in dieser Konstellation bisher höchstrichterlich nicht entschieden.
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II. Die Beschwerde des Klägers ist zulässig und begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG.
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Der Kläger macht geltend, das LSG habe, ohne zuvor über seinen Verlegungsantrag zu befinden, in seiner Abwesenheit mündlich verhandelt und entschieden. Er rügt die Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG). Mit diesem Vorbringen hat er einen Verfahrensmangel, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), hinreichend iS des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG bezeichnet.
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Dieser Verfahrensmangel liegt auch vor. Gemäß § 124 Abs 1 SGG entscheidet das Gericht, soweit nichts anderes bestimmt ist, aufgrund mündlicher Verhandlung. Dieser Mündlichkeitsgrundsatz räumt den Beteiligten das Recht ein, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen und mit ihren Ausführungen gehört zu werden. Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs in einer mündlichen Verhandlung umfasst das Recht auf Aufhebung oder Verlegung eines anberaumten Termins, wenn dies aus erheblichen Gründen geboten ist (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 227 Abs 1 ZPO; stRspr; zB BSG vom 10.10.2017 - B 12 KR 64/17 B - RdNr 8; BSG vom 12.9.2019 - B 9 V 53/18 B - RdNr 14; aus jüngerer Zeit BSG vom 8.3.2023 - B 7 AS 107/22 B - RdNr 7; BSG vom 8.3.2023 - B 7 AS 108/22 B - RdNr 7, mit Anm. H. Müller, NZS 2024, 24).
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Von der Frage der Begründetheit eines Antrags auf Aufhebung oder Verlegung ist zu unterscheiden die Verpflichtung des Vorsitzenden (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 227 Abs 4 Satz 1 ZPO), den Antrag vor Eröffnung förmlich kurz zu bescheiden (vgl BSG vom 10.10.2017 - B 12 KR 64/17 B - RdNr 8; BSG vom 17.2.2010 - B 1 KR 112/09 B - RdNr 7; zum fairen Verfahren BSG vom 12.5.2017 - B 8 SO 69/16 B - RdNr 7; BSG vom 15.10.2021 - B 5 R 152/21 B - RdNr 11; vgl auch H. Müller NZS 2024, 24, 25). Der Schwerpunkt liegt hier auf dem Recht des Beteiligten auf Information über das Schicksal des Verlegungsantrags (zum Recht auf Information als Teil des Anspruchs auf rechtliches Gehör BVerfG vom 8.6.1993 - 1 BvR 878/90 - BVerfGE 89, 28, 35 = SozR 3-1500 § 60 Nr 2 S 7 f, juris RdNr 26; vgl BSG vom 25.11.2008 - B 5 R 308/08 B - RdNr 8). Infolge dieser Information kann sich der Beteiligte darauf einrichten, dass eine Entscheidung des Gerichts aufgrund der angesetzten mündlichen Verhandlung möglich ist. Die - kurz begründete - Entscheidung über den Verlegungsantrag kann formlos mitgeteilt werden (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 227 Abs 4 Satz 2 ZPO; vgl BSG vom 7.4.2022 - B 5 R 210/21 B - RdNr 6 mwN).
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Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör besteht hier schon in der Nichtbescheidung des Verlegungsantrags des Klägers vom 19.9.2023 vor dem Termin. Dabei ist ohne Bedeutung, dass der Antrag dem Vorsitzenden erst am Tag nach der mündlichen Verhandlung vorgelegt wurde. Denn die Gerichtsverwaltung hat grundsätzlich durch organisatorische Maßnahmen sicherzustellen, dass Schriftsätze unverzüglich weitergeleitet werden (vgl - ausdrücklich zu Verlegungsanträgen - B. Schmidt in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl 2023, § 110 RdNr 4c; H. Müller, NZS 2024, 24, 25). Dies gilt insbesondere, wenn in einem Verfahren bereits Termin zur mündlichen Verhandlung anberaumt wurde und dies - wie hier - auch ohne Weiteres aus dem vorzulegenden Schriftsatz zu entnehmen ist. Anderes kann allenfalls dann anzunehmen sein, wenn es nach den Umständen des Einzelfalles ausgeschlossen wäre, dass ein Verlegungsgesuch den Richter noch erreichte (vgl BSG vom 12.5.2017 - B 8 SO 69/16 B - RdNr 8 mwN). Hier wäre dies nicht ausgeschlossen gewesen; vielmehr hätte organisatorisch eine rechtzeitige Vorlage des Antrags sichergestellt werden können. Nach der Auskunft der Verwaltungsleitung hat der Antrag auf Verlegung am Tag der mündlichen Verhandlung morgens gegen 8.45 Uhr der Poststelle des LSG vorgelegen. Der Hinweis auf den Termin am selben Tag hätte Anlass geben müssen, diesen unverzüglich weiterzuleiten. Ausgehend davon, dass der auf 10.00 Uhr anberaumte Termin wegen des Nichterscheinens des Klägers nicht vor 10.15 Uhr begonnen haben dürfte, war der zeitliche Rahmen von knapp eineinhalb Stunden ausreichend, den Antrag noch vor Beginn der mündlichen Verhandlung dem Senatsvorsitzenden zur Kenntnis zu bringen.
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Obwohl die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör in sozialgerichtlichen Verfahren keinen absoluten Revisionsgrund darstellt, ist wegen der besonderen Bedeutung der mündlichen Verhandlung für das Gerichtsverfahren im Allgemeinen davon auszugehen, dass eine Verletzung dieses Anspruchs in den Fällen, in denen ein Verfahrensbeteiligter an der Teilnahme an der mündlichen Verhandlung gehindert worden ist, die daraufhin ergangene Gerichtsentscheidung insgesamt beeinflusst hat (stRspr; vgl zusammenfassend nur BSG vom 3.7.2020 - B 8 SO 72/19 B - RdNr 7 mwN).
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Ob die weiteren vom Kläger gerügten Verfahrensfehler ebenfalls ausreichend bezeichnet worden sind und vorliegen, bedarf vor diesem Hintergrund keiner Entscheidung. Eine grundsätzliche Bedeutung der ohne nähere Auseinandersetzung mit der Rechtslage formulierten Rechtsfrage ist bereits nicht anforderungsgemäß dargelegt.
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Gemäß § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG - wie hier - vorliegen. Zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerungen macht der Senat von dieser Möglichkeit Gebrauch.
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Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt dem LSG vorbehalten.
S. Knickrehm
Neumann
Söhngen
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