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BSG 08.12.2022 - B 8 SO 27/21 B
BSG 08.12.2022 - B 8 SO 27/21 B - Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verstoß gegen das Recht auf Entscheidung über die erhobenen Ansprüche - Verkennung des Streitgegenstands
Normen
§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 123 SGG, § 133 BGB
Vorinstanz
vorgehend SG Chemnitz, 15. November 2018, Az: S 21 SO 60/18, Gerichtsbescheid
vorgehend Sächsisches Landessozialgericht, 11. Mai 2021, Az: L 8 SO 119/18, Urteil
Tenor
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Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 11. Mai 2021 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
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I. Im Streit ist ein Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII).
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Der Kläger betreibt eine private Berufsschule und bezieht seit August 2016 eine Regelaltersrente in Höhe von monatlich 984,74 Euro (Bescheid vom 9.6.2016; ab Juli 2017: monatlich 1020,10 Euro). Mit Schreiben vom 18.5.2016 reichte er beim Beklagten einen ausgefüllten Vordruck ein und beantragte Grundsicherungsleistungen. Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 26.1.2017 ab, da es dem Kläger möglich sei, seinen Lebensunterhalt aus seinen Einkünften zu bestreiten. Auf den Widerspruch des Klägers vom 25.2.2017 fertigte der Beklagte am 26.7.2017 einen Widerspruchsbescheid, dessen Zugang beim Kläger nach den Feststellungen des LSG jedoch nicht nachgewiesen werden konnte. Am 10.10.2017 wandte sich der Kläger erneut an den Beklagten und teilte mit, dass ihm von seiner Rente von ca 1000 Euro nach Zahlung des Krankenversicherungsbeitrags von 450 Euro und Ratenzahlungen für Darlehen von 300 Euro seit einem Jahr nur 250 Euro zum Leben verblieben. Er erwarte, dass sein Antrag in den nächsten 14 Tagen bearbeitet werde. Der Beklagte fasste die Eingabe des Klägers vom 10.10.2017 als neuerlichen Antrag auf Grundsicherungsleistungen auf und lehnte ihn mit Bescheid vom 7.3.2018 ab.
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Im Rahmen des Schriftverkehrs der Beteiligten im Anschluss an die Eingabe des Klägers vom 10.10.2017 stellte sich heraus, dass der Kläger den Widerspruchsbescheid vom 26.7.2017 nicht erhalten hatte. Der Beklagte übersandte dem Kläger den Widerspruchsbescheid vom 26.7.2017 daraufhin am 31.1.2018 per E-Mail. Unter Hinweis auf diesen Widerspruchsbescheid und eine Untätigkeit des Beklagten erhob der Kläger am 28.2.2018 Klage, die das Sozialgericht (SG) Chemnitz durch Gerichtsbescheid vom 15.11.2018 mit der Begründung abwies, der Beklagte habe sowohl den sozialhilferechtlichen Bedarf des Klägers als auch dessen zu berücksichtigendes Einkommen zutreffend ermittelt. Im Berufungsverfahren teilte der Kläger mit, er sei nicht davon ausgegangen, dass der Bescheid vom 7.3.2018 bestandskräftig geworden sei. Er sei vielmehr der Auffassung, dass mit seiner Klage auch die jeweils zukünftigen Bescheide mitumfasst seien und nicht nur Grundsicherungsleistungen für die Zeit vom 1.8.2016 bis zum 9.10.2017. Das Sächsische Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung mit Urteil ohne mündliche Verhandlung vom 11.5.2021 zurückgewiesen: Streitgegenständlicher Zeitraum sei die Zeit vom 1.8.2016 bis zum 9.10.2017, da der Kläger gegen den Bescheid vom 7.3.2018 für die Folgezeit keine Rechtsmittel eingelegt habe. Der Sache nach habe der Kläger keinen Anspruch auf Grundsicherungsleistungen während dieses Zeitraums.
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Mit seiner Beschwerde wendet sich der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil.
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II. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im bezeichneten Urteil des LSG ist zulässig, denn er hat einen Verstoß gegen das Recht auf Entscheidung über die erhobenen Ansprüche nach § 123 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und damit einen Verfahrensmangel hinreichend bezeichnet (§ 160a Abs 2 Satz 3 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Der gerügte Mangel liegt auch vor. Auf der Grundlage von § 160a Abs 5 SGG macht der Senat daher von der Möglichkeit Gebrauch, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
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Die Entscheidung des LSG beruht auf einem Verfahrensmangel nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, weil das LSG den Streitgegenstand verkannt und damit gegen § 123 SGG verstoßen hat.
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Nach § 123 SGG entscheidet das Gericht über die vom Kläger erhobenen Ansprüche, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein. Bei unklaren Anträgen muss das Gericht mit den Beteiligten klären, was gewollt ist, und darauf hinwirken, dass sachdienliche und klare Anträge gestellt werden (§ 106 Abs 1, § 112 Abs 2 Satz 2 SGG; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 123 RdNr 3; Schmidt, aaO, § 112 RdNr 8). Im Übrigen ist das Gewollte, also das mit der Klage oder der Berufung verfolgte Prozessziel, bei nicht eindeutigen Anträgen im Wege der Auslegung festzustellen (vgl etwa BSG vom 22.3.1988 - 8/5a RKn 11/87 - BSGE 63, 93, 94 = SozR 2200 § 205 Nr 65 S 180; BSG vom 8.12.2010 - B 6 KA 38/09 R - RdNr 17). In entsprechender Anwendung der Auslegungsregel des § 133 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ist der wirkliche Wille zu erforschen. Dabei sind nicht nur der Wortlaut, sondern auch die sonstigen Umstände des Falles, die für das Gericht und die anderen Beteiligten erkennbar sind, zu berücksichtigen (vgl nur BSG vom 25.6.2002 - B 11 AL 23/02 R - juris RdNr 21; BSG vom 8.11.2005 - B 1 KR 76/05 B - SozR 4-1500 § 158 Nr 2 RdNr 6). Im Zweifel ist der Antrag unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsprinzips so auszulegen, dass das Begehren des Klägers möglichst weitgehend zum Tragen kommt (vgl etwa BSG vom 6.4.2011 - B 4 AS 119/10 R - BSGE 108, 86 = SozR 4-1500 § 54 Nr 21, RdNr 29; BSG vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 10/06 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 16). Diesen Anforderungen hat das LSG nicht genügt.
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Zur Auslegung des Antrags ist das Revisionsgericht berufen, ohne dabei an die durch das Tatsachengericht vorgenommene Auslegung gebunden zu sein (vgl BSG vom 8.12.2010 - B 6 KA 38/09 R - RdNr 18). Mit seiner Klage verfolgte der Kläger das Ziel, Grundsicherungsleistungen ab August 2016 zu erhalten. Eine Beschränkung auf den Zeitraum vom 1.8.2016 bis zum 9.10.2017, den das LSG seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat, ist seinem Vortrag nicht zu entnehmen. Im Gegenteil teilt der Kläger mit Schreiben seiner Prozessbevollmächtigten im Berufungsverfahren ausdrücklich mit, dass sich seine Klage auch auf zukünftige Zeiträume bezieht. Ob die Klage hinsichtlich des Zeitraums ab dem 10.10.2017 zulässig ist, ob ihr etwa die Bestandskraft des Bescheids vom 7.3.2018 entgegensteht oder ob insoweit (ggf konkludent) ein Antrag nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) gestellt wurde, ist eine andere Frage, über die das LSG zu entscheiden haben wird. Es ist indes mit § 123 SGG nicht vereinbar, den Streitgegenstand entgegen dem klaren Prozessvortrag des Klägers von vornherein mit der Begründung zu begrenzen, dieser Bescheid sei nicht nach § 96 SGG Gegenstand des vorliegenden Verfahrens geworden. Jedenfalls wendet sich der Kläger in der Sache gegen die in diesem Bescheid getroffene Regelung.
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Damit liegt ein Verfahrensfehler iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vor, auf dem die unvollständige Entscheidung beruht und der zur Aufhebung des Berufungsurteils führt. Der Senat macht von seiner Möglichkeit Gebrauch, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (vgl § 160a Abs 5 SGG).
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Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.
Krauß Luik Scholz
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