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BVerfG 27.05.2020 - 1 BvR 1255/19
BVerfG 27.05.2020 - 1 BvR 1255/19 - Stattgebender Kammerbeschluss: Verkennung der Bindungswirkung einer Instanzentscheidung durch das Rechtsmittelgericht verletzt die Rechtsschutzgarantie (Art 19 Abs 4 GG) - Gegenstandswertfestsetzung
Normen
Art 19 Abs 4 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 37 Abs 2 S 2 RVG
Vorinstanz
vorgehend Oberverwaltungsgericht des Saarlandes, 2. Mai 2019, Az: 1 B 101/19, Beschluss
Tenor
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1. Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes vom 2. Mai 2019 - 1 B 101/19 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 Grundgesetz. Der Beschluss wird aufgehoben und die Sache an das Oberverwaltungsgericht des Saarlandes zurückverwiesen.
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2. Das Saarland hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
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3. Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 25.000 Euro (in Worten: fünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt.
Gründe
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I.
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Die Verfassungsbeschwerde hat ein verwaltungsgerichtliches Verfahren um die Pflicht zur Mitwirkung an einer statistischen Erhebung und ein zu ihrer Durchsetzung ergangenes Zwangsgeld zum Gegenstand.
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1. Der Beschwerdeführer ist Inhaber einer Rechtsanwaltskanzlei. Er wurde als solcher mit Bescheid vom 12. November 2018 unter Androhung eines Zwangsgeldes zur Erteilung statistischer Auskünfte zur Strukturerhebung im Dienstleistungsbereich für das Jahr 2017 herangezogen. Hiergegen legte er mit Schreiben vom 16. November 2018 Widerspruch ein. Mit Bescheid vom 21. November 2018 wurde gegen ihn ein Zwangsgeld in Höhe von 150 Euro festgesetzt, wogegen er am 27. November 2018 ebenfalls Widerspruch einlegte.
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2. a) Am 30. November 2018 beantragte der Beschwerdeführer, die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs vom 27. November 2018 gegen den Zwangsgeldfestsetzungsbescheid anzuordnen. Das Verfahren zur Auswahl der auskunftspflichtigen Dienstleister sei rechtswidrig verlaufen, so dass sowohl seine Heranziehung als auch die Festsetzung eines Zwangsgeldes rechtswidrig sei. Das Verwaltungsgericht wies den Antrag mit Beschluss vom 11. Januar 2019 zurück. Anders als der Beschwerdeführer meine, sei die Zwangsgeldfestsetzung selbst nicht schon dann rechtswidrig, wenn der ihr zugrundeliegende Heranziehungsbescheid rechtswidrig sei, sondern nur bei Nichtigkeit dieses Grundverwaltungsaktes. Davon sei jedoch nicht auszugehen. Daher sei der Antrag mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Auch wenn man das Begehren des Beschwerdeführers bei interessengerechter Auslegung seines Vorbringens als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs vom 16. November 2018 gegen den Heranziehungsbescheid ansähe, führte dies zu keinem anderen Ergebnis. Ein solcher Antrag sei unbegründet, weil bei summarischer Prüfung von der Rechtmäßigkeit des Auswahlverfahrens auszugehen sei. Unter diesen Umständen sei der Antrag mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Der Streitwert wurde auf 2.500 Euro festgesetzt.
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Am 29. Januar 2019 beantragte der Beschwerdeführer unter Verweis auf die Rechtswidrigkeit des Auswahlverfahrens, die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs vom 16. November 2018 gegen den Heranziehungsbescheid anzuordnen. Das Verwaltungsgericht wies den Antrag mit Beschluss vom 19. Februar 2019 zurück. Es verweist auf die Ausführungen zur Rechtmäßigkeit des Heranziehungsbescheides in dem - inzwischen rechtskräftigen - Beschluss vom 11. Januar 2019 zum Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die Zwangsgeldfestsetzung, denen sich das Gericht auch für das vorliegende Verfahren anschließe.
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b) Der Beschwerdeführer legte am 5. März 2019 gegen den Beschluss vom 19. Februar 2019 Beschwerde zum Oberverwaltungsgericht ein; das Verwaltungsgericht sei zu Unrecht von der Rechtmäßigkeit des Heranziehungsbescheides ausgegangen. Mit Beschluss vom 2. Mai 2019 hat das Oberverwaltungsgericht die Beschwerde zurückgewiesen. Die zulässige Beschwerde sei nicht begründet. Der dem angefochtenen Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 19. Februar 2019 zugrundeliegende Antrag des Beschwerdeführers auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Heranziehungsbescheid sei unstatthaft. Denn das Verwaltungsgericht habe bereits mit Beschluss vom 11. Januar 2019 nicht nur in Bezug auf die Festsetzung von Zwangsgeld, sondern auch hinsichtlich des Heranziehungsbescheides die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes aufgrund einer an den Interessen des Beschwerdeführers orientierten Auslegung seines Begehrens abgelehnt. Dies ergebe sich eindeutig aus den Formulierungen des Beschlusses und sei auch sachgerecht gewesen, da der Antrag mit Einwendungen gegen den Heranziehungsbescheid begründet worden sei. Da der Beschwerdeführer gegen den Beschluss vom 11. Januar 2019 keinen Rechtsbehelf eingelegt habe, komme dem Beschluss auch in Bezug auf den Heranziehungsbescheid eine sachliche Bindungswirkung zu, die eine Abänderung nur unter den Voraussetzungen des § 80 Abs. 7 VwGO zulasse. Einen solchen Abänderungsantrag habe der Beschwerdeführer nicht gestellt. Seinem Vorbringen ließen sich im Übrigen auch keine veränderten oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachten Umstände entnehmen.
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II.
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Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung seines Rechts auf ein faires Verfahren gemäß Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
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Aus dem Recht auf ein faires Verfahren folge, dass die Gerichte sich nicht widersprüchlich verhalten dürften und zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten verpflichtet seien. Das Verwaltungsgericht habe im Beschluss vom 11. Januar 2019 den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die Zwangsgeldfestsetzung wegen fehlender Nichtigkeit des Heranziehungsbescheides zurückgewiesen. Die weiteren Ausführungen zur fehlenden Rechtswidrigkeit dieses Bescheides hätten sich nur auf einen möglichen, von ihm bis dahin noch nicht gestellten Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Heranziehungsbescheid bezogen. Dementsprechend habe das Verwaltungsgericht auf den entsprechenden Antrag hin mit Beschluss vom 19. Februar 2019 zur Sache entschieden. Wenn das Oberverwaltungsgericht in Widerspruch dazu annehme, dass der diesem Beschluss zugrundeliegende Antrag unstatthaft gewesen sei, verwehre es ihm angesichts der Aussichtslosigkeit eines Abänderungsantrags nach § 80 Abs. 7 VwGO einstweiligen Rechtsschutz gegen den Heranziehungsbescheid.
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III.
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Dem Ministerium der Justiz des Saarlandes sowie dem Landesamt für Zentrale Dienste des Saarlandes wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.
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IV.
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Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist hinsichtlich der der Sache nach geltend gemachten Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG begründet. Ihre Annahme ist zur Durchsetzung dieses Grundrechts angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht hat insoweit die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits geklärt und die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
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1. Art. 19 Abs. 4 GG verbürgt nicht nur, dass überhaupt ein Gericht angerufen werden kann, sondern auch eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle (vgl. BVerfGE 35, 263 274>). Das schließt zwar die Errichtung von Schranken vor dem Zugang zu Gericht nicht aus. Der Richter muss solche Prozessnormen jedoch so handhaben, dass den Beteiligten der Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert wird (vgl. BVerfGE 74, 228 234>; 77, 275 284>). Dies hat das Oberverwaltungsgericht vorliegend verkannt und dadurch gegen Art. 19 Abs. 4 GG verstoßen.
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2. Das Oberverwaltungsgericht hat sich an einer auf die Rechtmäßigkeit des Heranziehungsbescheides bezogenen Sachprüfung gehindert gesehen, weil der dem angegriffenen Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 19. Februar 2019 zugrundeliegende Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Heranziehungsbescheid unstatthaft sei. Dies folge aus der sachlichen Bindungswirkung des vom Beschwerdeführer nicht mit Rechtsbehelfen angegriffenen Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom 11. Januar 2019, mit dem die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gegen den Heranziehungsbescheid bereits abgelehnt worden sei. Daher stehe dem Beschwerdeführer nur noch die Möglichkeit einer Abänderung dieses Beschlusses nach § 80 Abs. 7 VwGO offen.
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Damit hat das Oberverwaltungsgericht im konkreten Fall das Prozessrecht in einer Weise gehandhabt, die mit der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG nicht mehr vereinbar ist. Denn mit der Annahme, das Verwaltungsgericht habe mit Beschluss vom 11. Januar 2019 die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nicht nur hinsichtlich der Zwangsgeldfestsetzung, sondern auch hinsichtlich des Heranziehungsbescheides versagt, hat das Gericht den Zugang des Beschwerdeführers zum Rechtsbehelf der Beschwerde in unzumutbarer und sachlich nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert. Bei seiner Auslegung dieses Beschlusses geht das Oberverwaltungsgericht mit keinem Wort darauf ein, dass das Verwaltungsgericht selbst offenbar nicht von einem solchen Inhalt seiner eigenen Entscheidung und damit nicht von einer entgegenstehenden Bindungswirkung ausgegangen ist, wie der weitere Beschluss vom 19. Februar 2019 zeigt, mit dem einstweiliger Rechtsschutz gerade hinsichtlich des Heranziehungsbescheides abgelehnt wird. Darüber hinaus fehlt jede Würdigung des Umstandes, dass der dem Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 11. Januar 2019 zugrundeliegende Antrag nach seinem Wortlaut eindeutig allein auf die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gegen die Zwangsgeldfestsetzung gerichtet war. Das Verwaltungsgericht wäre deshalb gemäß § 88 VwGO nicht befugt gewesen, dem Antrag unter Überschreitung der anerkannten Grenzen der Auslegung einen weiteren, aus seiner Sicht sachdienlichen Antragsgegenstand unter zu schieben (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 8. Mai 1991 - 2 BvR 170/85 -, NVwZ 1992, 259 260>; BVerwG, Urteil vom 23. August 2007 - 7 C 13/06 -, NVwZ 2007, 1311 1314>). Wenn das Oberverwaltungsgericht den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 11. Januar 2019 trotz dieser evident gegenläufigen Umstände und trotz des damit verbundenen Ausschlusses einer Sachprüfung im Beschwerdeverfahren dahingehend interpretiert, dass bereits mit Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 11. Januar 2019 einstweiliger Rechtsschutz auch gegen den Heranziehungsbescheid versagt worden sei, verkennt es Bedeutung und Tragweite effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG.
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Der Beschluss ist entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts auch keineswegs so formuliert, dass eine solche Interpretation zwingend ist. Es liegt vielmehr nahe, dass das Verwaltungsgericht den die Zwangsgeldfestsetzung betreffenden Beschluss nutzte, um dem Beschwerdeführer die Aussichtslosigkeit eines weiteren - eigentlich sachdienlichen - Antrags auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gegen den Heranziehungsbescheid vor Augen zu führen. Das drängt sich nicht zuletzt mit Blick auf die Streitwertfestsetzung auf. Das Verwaltungsgericht hat einen Streitwert von 2.500 Euro festgesetzt. Als Grundlage seiner Berechnung hat es auf § 52 Abs. 2 GKG verwiesen und damit den Auffangstreitwert von 5.000 Euro angesetzt, der nach dem Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit für Anträge auf Eilrechtschutz zu halbieren ist. Dies zeigt, dass das Verwaltungsgericht nicht über die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes sowohl hinsichtlich der Zwangsgeldfestsetzung als auch hinsichtlich des Heranziehungsbescheides entschieden hat. Denn dann hätte nach dem genannten Streitwertkatalog eine Addition der Werte erfolgen müssen.
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V.
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Danach ist festzustellen, dass der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes vom 2. Mai 2019 - 1 B 101/19 - den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG verletzt. Er ist aufzuheben und die Sache an das Oberverwaltungsgericht des Saarlandes zurückzuverweisen.
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Die Entscheidung über die Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.
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Den Gegenstandswert für die anwaltliche Tätigkeit im verfassungsgerichtlichen Verfahren setzt die Kammer nach § 37 Abs. 2 Satz 2, § 14 Abs. 1 RVG auf 25.000 Euro fest.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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